"Natürlich hatte ich eine unglückliche Kindheit; eine glückliche lohnt sich ja kaum. Schlimmer als die normale unglückliche Kindheit ist die unglückliche irische Kindheit, und noch schlimmer ist die unglückliche irische katholische Kindheit", so beginnt Frank McCourt seine Erinnerungen an die armseligen Kinder- und Jugendjahre in den Slums von Limerick. In seinem Buch, geschrieben mit Humor und Sprachwitz, verbinden sich erschütternde Begebenheiten, skurrile Charaktere, tiefstes Elend und höchste Lebenslust.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.1996Hemd der Verdammnis
Sehr irisch: Frank McCourts Kindheit · Von Paul Ingendaay
Nehmen wir an, es hätte einer noch nie von Irland gehört und wüßte nicht, was sich deutsche Urlauber mit Camel-Boots und Wanderkarte über diese Insel so erzählen - nichts von dem saftigen Grün der Landschaft, dem tief hängenden Himmel, der knorrigen Redseligkeit der Bewohner; nichts von der historischen Feindschaft zwischen Katholiken und Protestanten, die kein Friedensvertrag ausräumen wird, weil sie sich durch Willkür und Dummheit unentwegt fortpflanzt; nichts von dem Wahrheitsmonopol der Kirche; nichts von nationaler Engstirnigkeit, wie sie durch Armut und geographische Randlage entsteht; nichts vom irischen Geschichtenerzählen, dem Nebeneinander von Prüderie und lärmender Diesseitigkeit, dem Torf, dem Tee, dem Gesang. Wenn diesem Ahnungslosen die Autobiographie Frank McCourts in die Hände fiele, er würde dem schönen Land vermutlich Unrecht tun und davonlaufen: sehr weit weg und immer Richtung Osten.
"Die Asche meiner Mutter" handelt von Armut, Schmutz und Verzweiflung, fünfhundert Seiten lang und in allen Schattierungen. Frank McCourt wird 1930 in New York geboren, und dort wäre er gern geblieben. Aber seine Eltern - der Vater ist Protestant, die Mutter Katholikin - haben so wenig Geld und zeugen so viele Kinder, daß die Verwandten eines Tages genug haben und ihnen die Schiffspassage nach Irland aufnötigen. Dort will man sie aber auch nicht. Und wo man sie am allerwenigsten will, ist Limerick. Hier dauern die feuchten Winter sieben Monate, und durch die Bruchbude im Armenviertel, in der die McCourts wohnen müssen, ziehen die Toilettengerüche der ganzen Straße.
"Natürlich hatte ich eine unglückliche Kindheit", heißt es auf der ersten Seite von Frank McCourts Bericht, "eine glückliche lohnt sich ja kaum. Schlimmer als die normale unglückliche Kindheit ist die unglückliche irische Kindheit, und noch schlimmer ist die unglückliche irische katholische Kindheit." Das klingt streng, aber auch wie ein Witz. Wer so schreibt, ertastet noch die Narbe, aber die Wunde brennt nicht mehr.
Frank McCourt, mit vier Jahren nach Irland gebracht, mit neunzehn wieder nach Amerika entkommen, arbeitete bis 1995 als Lehrer an einer High School in Manhattan. Nach seiner Pensionierung fand er die Zeit zu diesem Buch. Daß er seine Geschichte aus der Distanz von über vierzig Jahren erzählt, ist unverkennbar. "Die Asche meiner Mutter" ist eine Reihe böser Bilder aus einem dicken Album, das der Autor vor uns aufblättert, ein Passionsspiel, aber ohne Passion: Hier spricht ein Überlebender, der seit vierzig Jahren reichlich zu essen hat und im Winter unter einer Wolldecke schläft.
Das hat entschiedene Vorteile. Denn McCourt verzichtet auf das, was in den nörgeligen Varianten des deutschsprachigen Romans als "Abrechnung" gilt, er psychologisiert nicht, deutet nicht, hat keine Rechnungen zu begleichen. Allein das ist bemerkenswert, denn aus der bloßen Aufzählung dessen, was den Jammer seiner frühen Jahre ausmacht, ließen sich die Neurosen dutzendweise pflücken: "die Armut; der träge, redselige, trunksüchtige Vater; die fromme, vom Schicksal besiegte Mutter, die am Herdfeuer stöhnt; pompöse Priester; drangsalierende Schulmeister; die Engländer und die gräßlichen Dinge, die sie uns achthundert Jahre lang angetan haben".
Doch schon der letzte Posten enthält das Gegengift der Selbstironie. Wie hier im kleinen, so muß man wohl das ganze Buch als heroische Selbstironisierung lesen und insofern als beachtliche Interpretationsleistung am eigenen Leben. Die Lakonie, der Witz, die Leichtigkeit, es ist alles gewollt und erkämpft, obwohl so viel dagegen spräche. Mit anderen Worten, McCourt läßt seine schreckliche Kindheit fahren, weil er etwas besseres dafür bekommt: eine gute Geschichte.
Sie wird übersichtlich dargeboten, wie Perlen auf der Schnur reihen sich chronologisch die Ereignisse. Schon als Kleinkinder müssen der Erzähler und sein jüngerer Bruder Malachy strammstehen, wenn der Vater nachts betrunken nach Hause kommt, und geloben, daß sie für Irland sterben werden. Neugeborene trinken Zuckerwasser aus dem Marmeladenglas. Frank ist vier Jahre alt, als seine kleine Schwester stirbt. Als er fünf ist, sterben zwei weitere Geschwister. Das Muster der frühen Kindheit: Der Vater versäuft seinen Lohn, die Sozialhilfe ist knapp, die Bittgänge zur kirchlichen Fürsorge bringen wenig ein, weil zu viele in Limerick arm sind. Mit sieben muß Frank tanzen lernen, denn "es ist nie zu spät, die Lieder und Tänze deiner Vorfahren zu lernen". Mit acht löscht er seinen Durst, indem er sich direkt am Euter einer Kuh bedient, bis der Bauer ihn verjagt.
McCourts Kindheit ist eine anhaltende Krankengeschichte, kein Wunder bei der Ernährung. Eine Bindehautentzündung begleitet ihn durch seine halbe Jugend. Wie im pikarischen Roman sind körperliche Mißbildung, Gebrechen und Krankheit Anlaß zu besonders wüstem Spott. Mit zehn erwischt ihn der Typhus. Im Krankenhaus erlebt er, wie es ist, in sauberen Bettlaken zu schlafen. Mit elf hat er immer noch Typhus, und seine Mitpatientin aus dem Krankenhaus ist tot. Die Erwachsenen reden über das ferne Weltgeschehen, über Hitler und Mussolini, über Franco, den guten Katholiken. Nun werden Iren für englische Munitionsfabriken rekrutiert, und manchen Familien in Limerick geht es besser, weil die Männer ihren Lohn nach Hause schicken; nur Vater McCourt vertrinkt auch britisches Geld. Ingesamt können die Iren dem Zweiten Weltkrieg einiges abgewinnen; daß die Deutschen es den Engländern zeigen, finden sie, war mal an der Zeit.
Doch von der großen Geschichte dringen nur Lichtstreifen ins Buch, dann geht die Tür wieder zu. Im Grunde gehört Irland nicht zu Europa. Wichtiger sind die Stationen des privaten Lebens. Auch in diesem Jahr kommt bei den McCourts zu Weihnachten nur Schweinskopf auf den Tisch. Mit zwölf entdeckt Frank, daß seine Mutter betteln geht, und seine Scham ist unvorstellbar. Mit dreizehn hilft er Mr. Hannon mit den schlimmen Beinen, Kohle auszufahren. Er trägt immer dasselbe Hemd, tagaus, tagein, ob er schläft, Fußball spielt oder Äpfel klaut. In der Bibliothek liest er vom Leben der Heiligen und Märtyrer, aber die Spezialkenntnisse bringen die Christlichen Brüder von Limerick keineswegs dazu, einem ungewaschenen Burschen wie ihm die Ausbildung zu finanzieren. Inzwischen weiß er, wie man masturbiert, und fürchtet die ewige Verdammnis. In diesem Leben beschließt er, Telegrammbote zu werden. Dabei ist nicht viel zu verdienen, doch er spart schon für Amerika. Eine Schwindsüchtige führt ihn in die Liebe ein, bald darauf stirbt sie: noch mehr Verdammnis. Der Tod einer alten Dame gibt ihm unerwartet deren Ersparnisse in die Hand. Da findet er, daß es mit der ewigen Verdammnis genug sei, läßt für ihr Seelenheil ein paar Messen lesen und nimmt den Dampfer nach Amerika.
Man darf bei McCourt nicht nach einer Lehre suchen. Sie müßte lauten, daß einer trotz allem überlebt hat. Das Buch ist reines Erzählen, auf den Augenblick berechnet, wo die Pointen zünden oder nicht. (Meistens zünden sie.) Entsprechend hat Harry Rowohlt das Ganze übersetzt, mit schönen Wortwitzen und einigen mutigen Entscheidungen. Dazu zählt nicht gerade eine wortwörtliche Tapsigkeit wie die, den Ausdruck dead and gone mit "tot und weg" zu übersetzen, sondern eher die Idee, im Deutschen den Konjunktiv Präsens der indirekten Rede abzuschaffen ("Dad sagt, das verstehe ich, wenn ich größer bin."). Ob so ein Trick sprachlich funktioniert, merkt man immer erst auf der langen Strecke. Hier geht er auf, weil das Erzählen, Tönen und Tratschen ein wesentlicher Bestandteil von McCourts Stilfarbe ist. Den größten Blumenstrauß verdient die Übersetzung allerdings für ihre liebevoll erfundenen und kauzig hingesetzten Kleinigkeiten. Wo alle Welt sich heute ans Englische heranschmeißt und möglichst viel davon unbehandelt übernimmt, tut Harry Rowohlt das Gegenteil. Daß die Iren ein paar "drinks" zu sich nehmen oder gar kollektiv "the drink" verfallen sind, denkt sich so mancher. Aber wie übersetzt man "drinks"? Bei Rowohlt steht das Simpelste: "Getränke". Durch gespielte Naivität ins Universale.
In diesem Jahr werden wir noch manches aus Irland zu lesen bekommen, und im Durchschnitt geht es dort nicht besonders erbaulich zu. Das Angenehme ist aber, daß ein Ire beim Schreiben etwas anderes daraus macht als, sagen wir, ein Deutscher oder Franzose. Wo Verzweiflung ist, das lehren die großen Dichter des Landes von Beckett bis Brendan Behan, da wächst das Komische auch. Frank McCourt stellt sich wie selbstverständlich in diese Tradition irischer Überlebenskünstler. Er hat keine Ehrfurcht, kein Mitleid und ein ziemlich gutes Gedächtnis, also die besten Voraussetzungen, sein Leben ohne fruchtloses Räsonnement vorzuführen. Sein Buch gleicht einem schnell geschnittenen Episodenfilm, und der Titel könnte lauten: "Von der erstaunlichen und wundersamen Zähigkeit der Menschennatur unter unwürdigsten Bedingungen, nebst einigen Betrachtungen über Flöhe, Schankhäuser, die hl. Beichte, den Zauber laut dargebotener Poesie und die besondere Natur des Pferdedungs". Es wird in dieser Saison tiefsinnigere Bücher geben als dieses. Aber wer komischer sein will als Frank McCourt, muß sich anstrengen.
Frank McCourt: "Die Asche meiner Mutter". Irische Erinnerungen. Aus dem Englischen übersetzt von Harry Rowohlt. Luchterhand Literaturverlag, München 1996. 510 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sehr irisch: Frank McCourts Kindheit · Von Paul Ingendaay
Nehmen wir an, es hätte einer noch nie von Irland gehört und wüßte nicht, was sich deutsche Urlauber mit Camel-Boots und Wanderkarte über diese Insel so erzählen - nichts von dem saftigen Grün der Landschaft, dem tief hängenden Himmel, der knorrigen Redseligkeit der Bewohner; nichts von der historischen Feindschaft zwischen Katholiken und Protestanten, die kein Friedensvertrag ausräumen wird, weil sie sich durch Willkür und Dummheit unentwegt fortpflanzt; nichts von dem Wahrheitsmonopol der Kirche; nichts von nationaler Engstirnigkeit, wie sie durch Armut und geographische Randlage entsteht; nichts vom irischen Geschichtenerzählen, dem Nebeneinander von Prüderie und lärmender Diesseitigkeit, dem Torf, dem Tee, dem Gesang. Wenn diesem Ahnungslosen die Autobiographie Frank McCourts in die Hände fiele, er würde dem schönen Land vermutlich Unrecht tun und davonlaufen: sehr weit weg und immer Richtung Osten.
"Die Asche meiner Mutter" handelt von Armut, Schmutz und Verzweiflung, fünfhundert Seiten lang und in allen Schattierungen. Frank McCourt wird 1930 in New York geboren, und dort wäre er gern geblieben. Aber seine Eltern - der Vater ist Protestant, die Mutter Katholikin - haben so wenig Geld und zeugen so viele Kinder, daß die Verwandten eines Tages genug haben und ihnen die Schiffspassage nach Irland aufnötigen. Dort will man sie aber auch nicht. Und wo man sie am allerwenigsten will, ist Limerick. Hier dauern die feuchten Winter sieben Monate, und durch die Bruchbude im Armenviertel, in der die McCourts wohnen müssen, ziehen die Toilettengerüche der ganzen Straße.
"Natürlich hatte ich eine unglückliche Kindheit", heißt es auf der ersten Seite von Frank McCourts Bericht, "eine glückliche lohnt sich ja kaum. Schlimmer als die normale unglückliche Kindheit ist die unglückliche irische Kindheit, und noch schlimmer ist die unglückliche irische katholische Kindheit." Das klingt streng, aber auch wie ein Witz. Wer so schreibt, ertastet noch die Narbe, aber die Wunde brennt nicht mehr.
Frank McCourt, mit vier Jahren nach Irland gebracht, mit neunzehn wieder nach Amerika entkommen, arbeitete bis 1995 als Lehrer an einer High School in Manhattan. Nach seiner Pensionierung fand er die Zeit zu diesem Buch. Daß er seine Geschichte aus der Distanz von über vierzig Jahren erzählt, ist unverkennbar. "Die Asche meiner Mutter" ist eine Reihe böser Bilder aus einem dicken Album, das der Autor vor uns aufblättert, ein Passionsspiel, aber ohne Passion: Hier spricht ein Überlebender, der seit vierzig Jahren reichlich zu essen hat und im Winter unter einer Wolldecke schläft.
Das hat entschiedene Vorteile. Denn McCourt verzichtet auf das, was in den nörgeligen Varianten des deutschsprachigen Romans als "Abrechnung" gilt, er psychologisiert nicht, deutet nicht, hat keine Rechnungen zu begleichen. Allein das ist bemerkenswert, denn aus der bloßen Aufzählung dessen, was den Jammer seiner frühen Jahre ausmacht, ließen sich die Neurosen dutzendweise pflücken: "die Armut; der träge, redselige, trunksüchtige Vater; die fromme, vom Schicksal besiegte Mutter, die am Herdfeuer stöhnt; pompöse Priester; drangsalierende Schulmeister; die Engländer und die gräßlichen Dinge, die sie uns achthundert Jahre lang angetan haben".
Doch schon der letzte Posten enthält das Gegengift der Selbstironie. Wie hier im kleinen, so muß man wohl das ganze Buch als heroische Selbstironisierung lesen und insofern als beachtliche Interpretationsleistung am eigenen Leben. Die Lakonie, der Witz, die Leichtigkeit, es ist alles gewollt und erkämpft, obwohl so viel dagegen spräche. Mit anderen Worten, McCourt läßt seine schreckliche Kindheit fahren, weil er etwas besseres dafür bekommt: eine gute Geschichte.
Sie wird übersichtlich dargeboten, wie Perlen auf der Schnur reihen sich chronologisch die Ereignisse. Schon als Kleinkinder müssen der Erzähler und sein jüngerer Bruder Malachy strammstehen, wenn der Vater nachts betrunken nach Hause kommt, und geloben, daß sie für Irland sterben werden. Neugeborene trinken Zuckerwasser aus dem Marmeladenglas. Frank ist vier Jahre alt, als seine kleine Schwester stirbt. Als er fünf ist, sterben zwei weitere Geschwister. Das Muster der frühen Kindheit: Der Vater versäuft seinen Lohn, die Sozialhilfe ist knapp, die Bittgänge zur kirchlichen Fürsorge bringen wenig ein, weil zu viele in Limerick arm sind. Mit sieben muß Frank tanzen lernen, denn "es ist nie zu spät, die Lieder und Tänze deiner Vorfahren zu lernen". Mit acht löscht er seinen Durst, indem er sich direkt am Euter einer Kuh bedient, bis der Bauer ihn verjagt.
McCourts Kindheit ist eine anhaltende Krankengeschichte, kein Wunder bei der Ernährung. Eine Bindehautentzündung begleitet ihn durch seine halbe Jugend. Wie im pikarischen Roman sind körperliche Mißbildung, Gebrechen und Krankheit Anlaß zu besonders wüstem Spott. Mit zehn erwischt ihn der Typhus. Im Krankenhaus erlebt er, wie es ist, in sauberen Bettlaken zu schlafen. Mit elf hat er immer noch Typhus, und seine Mitpatientin aus dem Krankenhaus ist tot. Die Erwachsenen reden über das ferne Weltgeschehen, über Hitler und Mussolini, über Franco, den guten Katholiken. Nun werden Iren für englische Munitionsfabriken rekrutiert, und manchen Familien in Limerick geht es besser, weil die Männer ihren Lohn nach Hause schicken; nur Vater McCourt vertrinkt auch britisches Geld. Ingesamt können die Iren dem Zweiten Weltkrieg einiges abgewinnen; daß die Deutschen es den Engländern zeigen, finden sie, war mal an der Zeit.
Doch von der großen Geschichte dringen nur Lichtstreifen ins Buch, dann geht die Tür wieder zu. Im Grunde gehört Irland nicht zu Europa. Wichtiger sind die Stationen des privaten Lebens. Auch in diesem Jahr kommt bei den McCourts zu Weihnachten nur Schweinskopf auf den Tisch. Mit zwölf entdeckt Frank, daß seine Mutter betteln geht, und seine Scham ist unvorstellbar. Mit dreizehn hilft er Mr. Hannon mit den schlimmen Beinen, Kohle auszufahren. Er trägt immer dasselbe Hemd, tagaus, tagein, ob er schläft, Fußball spielt oder Äpfel klaut. In der Bibliothek liest er vom Leben der Heiligen und Märtyrer, aber die Spezialkenntnisse bringen die Christlichen Brüder von Limerick keineswegs dazu, einem ungewaschenen Burschen wie ihm die Ausbildung zu finanzieren. Inzwischen weiß er, wie man masturbiert, und fürchtet die ewige Verdammnis. In diesem Leben beschließt er, Telegrammbote zu werden. Dabei ist nicht viel zu verdienen, doch er spart schon für Amerika. Eine Schwindsüchtige führt ihn in die Liebe ein, bald darauf stirbt sie: noch mehr Verdammnis. Der Tod einer alten Dame gibt ihm unerwartet deren Ersparnisse in die Hand. Da findet er, daß es mit der ewigen Verdammnis genug sei, läßt für ihr Seelenheil ein paar Messen lesen und nimmt den Dampfer nach Amerika.
Man darf bei McCourt nicht nach einer Lehre suchen. Sie müßte lauten, daß einer trotz allem überlebt hat. Das Buch ist reines Erzählen, auf den Augenblick berechnet, wo die Pointen zünden oder nicht. (Meistens zünden sie.) Entsprechend hat Harry Rowohlt das Ganze übersetzt, mit schönen Wortwitzen und einigen mutigen Entscheidungen. Dazu zählt nicht gerade eine wortwörtliche Tapsigkeit wie die, den Ausdruck dead and gone mit "tot und weg" zu übersetzen, sondern eher die Idee, im Deutschen den Konjunktiv Präsens der indirekten Rede abzuschaffen ("Dad sagt, das verstehe ich, wenn ich größer bin."). Ob so ein Trick sprachlich funktioniert, merkt man immer erst auf der langen Strecke. Hier geht er auf, weil das Erzählen, Tönen und Tratschen ein wesentlicher Bestandteil von McCourts Stilfarbe ist. Den größten Blumenstrauß verdient die Übersetzung allerdings für ihre liebevoll erfundenen und kauzig hingesetzten Kleinigkeiten. Wo alle Welt sich heute ans Englische heranschmeißt und möglichst viel davon unbehandelt übernimmt, tut Harry Rowohlt das Gegenteil. Daß die Iren ein paar "drinks" zu sich nehmen oder gar kollektiv "the drink" verfallen sind, denkt sich so mancher. Aber wie übersetzt man "drinks"? Bei Rowohlt steht das Simpelste: "Getränke". Durch gespielte Naivität ins Universale.
In diesem Jahr werden wir noch manches aus Irland zu lesen bekommen, und im Durchschnitt geht es dort nicht besonders erbaulich zu. Das Angenehme ist aber, daß ein Ire beim Schreiben etwas anderes daraus macht als, sagen wir, ein Deutscher oder Franzose. Wo Verzweiflung ist, das lehren die großen Dichter des Landes von Beckett bis Brendan Behan, da wächst das Komische auch. Frank McCourt stellt sich wie selbstverständlich in diese Tradition irischer Überlebenskünstler. Er hat keine Ehrfurcht, kein Mitleid und ein ziemlich gutes Gedächtnis, also die besten Voraussetzungen, sein Leben ohne fruchtloses Räsonnement vorzuführen. Sein Buch gleicht einem schnell geschnittenen Episodenfilm, und der Titel könnte lauten: "Von der erstaunlichen und wundersamen Zähigkeit der Menschennatur unter unwürdigsten Bedingungen, nebst einigen Betrachtungen über Flöhe, Schankhäuser, die hl. Beichte, den Zauber laut dargebotener Poesie und die besondere Natur des Pferdedungs". Es wird in dieser Saison tiefsinnigere Bücher geben als dieses. Aber wer komischer sein will als Frank McCourt, muß sich anstrengen.
Frank McCourt: "Die Asche meiner Mutter". Irische Erinnerungen. Aus dem Englischen übersetzt von Harry Rowohlt. Luchterhand Literaturverlag, München 1996. 510 S., geb., 48,- DM.
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