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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.02.1996

Das Mißtrauen des Volkes gegen sich selbst
Stabiler als in klassischer Zeit: Athen und seine Demokratie im vierten Jahrhundert

Das Interesse an der Geschichte des antiken Athen konzentriert sich seit jeher auf das 5. Jahrhundert v. Chr. und seine Vorgeschichte. Die Entstehung der Demokratie, die Selbstbehauptung in den Perserkriegen, die imperiale Machtentfaltung, das "goldene" Zeitalter des Perikles und die - von Thukydides so eindrucksvoll geschilderten - Konvulsionen des Peloponnesischen Krieges sind der Stoff, aus dem Historiker effektvolle Erzählungen formen können. Diese Geschichte hält ein Ende nach tragischem Muster bereit: Mit der totalen militärischen Niederlage im Jahre 404 v. Chr. ist auch das Schicksal der Demokratie vorläufig besiegelt.

Was folgte, war jedoch kein bloßes Nachspiel. Die Tyrannis einer Adelsclique, die sich 404 mit Hilfe des Kriegsgewinners Sparta in Athen etabliert, wurde bereits ein Jahr später gestürzt. Die wiedererrichtete Demokratie erwies sich als für griechische Verhältnisse ungewöhnlich stabil. Sie überlebte sogar die erste schwere Niederlage gegen die Makedonen (338 in der Schlacht von Chaironea) und wurde erst nach der zweiten Niederlage 322 von dem makedonischen General Antipater abgeschafft. Dennoch blieb sie von übler Nachrede nicht verschont: Krise, Abstieg, Niedergang, Verfall.

Wer es besser wissen will, kann sich bei Mogens Herman Hansen informieren. Der dänische Altertumswissenschaftler beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit der Struktur, den Institutionen und der Ideologie der athenischen Demokratie. Die Synthese seiner Forschungen, die er 1991 auf englisch vorlegte, ist schon zum Standardwerk geworden. Das wichtige und nützliche Buch ist nun in einer flüssigen und zuverlässigen deutschen Übersetzung erschienen.

Von der gewohnten Betrachtung der athenischen Demokratie unterscheidet sich Hansen durch einen Wechsel der zeitlichen Perspektive. Die Konzentration auf das 4. Jahrhundert und hier besonders auf das "Zeitalter des Demosthenes" ist schon durch die Dichte der Überlieferung gerechtfertigt. Denn für keinen Abschnitt der athenischen Geschichte fließen die Quellen (hauptsächlich Reden und Inschriften, aber auch die aristotelische Schrift über den "Staat der Athener") reichlicher. Und Hansen versetzt sich durch die zeitliche Eingrenzung in die Lage, nach einer knappen historischen Einleitung, welche die Verfassungsentwicklung bis 403 aufzeigt, eine systematische Darstellung zu geben.

Zwei Kapitel ("Athen als Stadtstaat und Demokratie" und "Das Volk von Athen") sind den sachlichen und ideologischen Grundlagen gewidmet, bevor Hansen das genaue Funktionieren der Verfassung und der Institutionen beschreibt. Wer etwa wissen will, wie viele Beamte die Athener jedes Jahr erlosten (etwa tausend) bzw. erwählten (etwa hundert), wie oft die Volksversammlung tagte (etwa vierzigmal im Jahr) oder wie lange die Sitzungen des Volksgerichts dauerten (in öffentlichen Angelegenheiten etwa neun Stunden und in privaten ein bis drei), wird von Hansen zuverlässig bedient. Seine Darstellung besticht durch gedankliche und sprachliche Klarheit. Die zahlreichen Fachbegriffe werden in einem ausführlichen Glossar erläutert. Der häufige Vergleich mit den italienischen Stadtrepubliken der Frühen Neuzeit, den Schweizer Landsgemeinden oder der modernen Demokratie laden zu weitergehenden Reflexionen ein.

Der Autor provoziert freilich auch Widerspruch, etwa durch seine These von einem grundlegenden Wandel der Demokratie im 4. Jahrhundert. Zwar ist offensichtlich, daß die Athener nach den Katastrophen des Peloponnesischen Krieges und den beiden oligarchischen Umstürzen nicht weitermachen wollten, als sei nichts geschehen. Um eine Basis für den Neuanfang zu schaffen, setzten sie Kommissionen zur Sammlung, Revision und Publikation der Gesetze ein. Außerdem führten sie ein Gesetzgebungsverfahren ein, das diese Kodifikation durch regelmäßige Überwachung sichern sollte. Dabei delegierte die Volksversammlung die endgültige Entscheidung über die Ergänzung und Korrektur der Gesetze an eine Kommission, die nach der Art eines Geschworenengerichts gebildet wurde. Allgemein ist im 4. Jahrhundert eine Aufwertung der Gerichte zu bemerken, während die Volksversammlung an Gewicht zu verlieren scheint.

Hansen sieht darin eine Einschränkung der Volkssouveränität und eine Tendenz zur Gewaltenteilung. Wenn er recht hätte, wären damit tatsächlich fundamentale Prinzipien der perikleischen Demokratie außer Kraft gesetzt. Doch bei der Gesetzgebung bleibt das Volk Herr des Verfahrens, da die Volksversammlung von Fall zu Fall entscheidet, ob die Gesetze überhaupt einer Änderung bedürfen. Auch können die Gerichte nicht als unabhängige Behörde mit unabhängiger Gewalt verstanden werden. Denn die große Zahl der ausgelosten Geschworenen garantierte nach Auffassung der Athener, daß das Volk auch in den Gerichten die Gewalt innehatte. "Das Volk", sagt Aristoteles, "hat sich selbst zum Herrn über alles gemacht und verwaltet alles durch Volksbeschlüsse und Gerichte, in denen das Volk die Macht hat." Volksversammlung und Volksgericht sind also zwei Seiten derselben Medaille; hier wie dort entscheiden die gleichen Menschen, der demokratischen Idee nach eben alle Athener.

Die Reformen des 4. Jahrhunderts verraten ein Mißtrauen gegenüber spontanen Beschlüssen des Volkes. Hansen zählt "die zweimalige Beratung desselben Gegenstandes" zu den Charakteristika der athenischen Demokratie im 4. Jahrhundert. "Die Sache zweimal zu behandeln gab den Athenern eine Atempause, um die Wirkungen einer Massenpsychose zu überwinden, wie sie ein geschickter Redner in einer spannungsgeladenen Situation hochpeitschen konnte." Genau dies war während des Peloponnesischen Krieges allzu oft geschehen. So entwickelten die Athener neue Verfahrensformen, die nüchterne Entscheidungen und eine größere Rechtssicherheit garantieren sollten. Dadurch entsteht zwar noch keine grundsätzlich "modifizierte Demokratie", wie Hansen meint, wohl aber ist die Tendenz zur Rationalisierung der Ordnung unübersehbar.

Die griechischen Polisgesellschaften sind durch eine außergewöhnliche Fülle von Konflikten gekennzeichnet. Das Athen des 4. Jahrhunderts bildet da keine Ausnahme. Aber während sich dies anderswo in blutigen Bürgerkriegen entlud, hat Athen seine Institutionen erfolgreich entwickelt und verfeinert. Die Gerichte ermöglichten ein geregeltes Austragen von Konflikten, und die Häufigkeit von sowohl öffentlichen als auch privaten Strafverfahren belegt, mit welcher Hingabe die Athener prozessierten. Hansen hat ausgerechnet, daß mehr als zweitausend Bürger an ungefähr zweihundert Tagen im Jahr zu Gericht saßen. Um Bestechung zu verhindern, wurden die Geschworenen durch komplizierte und zeitraubende Losverfahren bestimmt. Man staunt immer wieder, mit welchem Aufwand sich die Athener vor sich selber schützten. Kaum eine andere Ordnung verlangte von ihren Bürgern einen derartig großen persönlichen Einsatz. Auf der unvergleichlichen Intensität des politischen Lebens beruht denn auch die Faszination, die von der athenischen Demokratie nach wie vor ausgeht. Auch Hansens Werk wird davon getragen.

Es gibt freilich gleichsam nur das Knochengerüst, nicht den ganzen Körper. Wer wissen will, worüber sich die Athener vor Gericht stritten, welche Entscheidungen die Volksversammlung traf, welche Rolle Athen im Mächtekonzert des 4. Jahrhunderts spielte, welche Tendenzen es auf wirtschaftlichem, religiösem, literarischem, künstlerischem und architektonischem Gebiet gab, kann Hinweise und Anregungen in den Akten eines Symposions finden, das sich der athenischen Demokratie im 4. Jahrhundert widmete. Die Beiträge bestätigen, daß von einem Verfall in dieser Epoche generell nicht die Rede sein kann. In einigen Bereichen ist sogar ein deutliches Wachstum festzustellen. Das athenische Land etwa erreichte im 4. Jahrhundert seine höchste Siedlungs- und Bevölkerungsdichte, wie Hans Lohmann auf Grund eigener Feldforschung in Attika vorführt. Auch der Silberbergbau im Laurion wurde zu keiner anderen Zeit so intensiv betrieben. Fast die gesamte industrielle Infrastruktur des "attischen Montanreviers" muß ins 4. Jahrhundert datiert werden.

Wie aber ist diese Phase der athenischen Geschichte zu ihrem schlechten Ruf gekommen? Ein wichtiger Grund dürfte in der Außenpolitik zu finden sein. Bis zum Eingreifen der Makedonen gelang es den griechischen Poleis trotz wiederholter Anläufe nicht, ihre zwischenstaatlichen Beziehungen auf eine allgemeine friedliche Basis zu stellen. Daß an diesem Versagen auch Athen seinen Anteil hatte, zeigt der pointierte Aufsatz von Ernest Badian. Nach Badian hielt "das Gespenst des Imperiums" die Athener im 4. Jahrhundert gefangen und führte sie nach vorübergehenden Erfolgen in immer neue Niederlagen. Auch Leonhard Burckhardt, dessen Beitrag "Söldner und Bürger als Soldaten für Athen" behandelt, sieht das Problem der athenischen Außenpolitik in den "unerreichbaren Vorbildern aus der Vergangenheit". Denn obwohl die zur Verfügung stehenden Mittel nicht mehr dazu ausreichten, konnten sich die Athener niemals überwinden, die alten imperialen Ambitionen aufzugeben. Der von Walter Eder herausgegebene Sammelband kann natürlich, so interessant er ist, eine umfassende Geschichte Athens im 4. Jahrhundert nicht ersetzen. Zwischen dem "klassischen" Athen Christian Meiers und dem hellenistischen Athen Christan Habichts bleibt eine Lücke zu füllen. KAI TRAMPEDACH

Mogens Herman Hansen: "Die athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes". Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis. Deutsch von Wolfgang Schuller. Akademie Verlag, Berlin 1995, 437 S., geb., 68,- DM.

Walter Eder (Hrsg.): "Die athenische Demokratie im 4. Jahrhundert v. Chr." Vollendung oder Verfall einer Verfassungsform? Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1995. 679 S., 55 Abb., geb., 144,- DM.

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