Eine junge Frau fristet ihr Dasein in einem zu großen Haus in einer zu kleinen Stadt neben einem dreieckigen Berg. Als dort ein Gast auftaucht, nimmt sie ihn kurzerhand bei sich auf. Der Gast ist ihr so vielversprechend neu wie fremd und wird schnell zum einnehmenden Mittelpunkt, aber auch Opfer inquisitorischer Machtfantasien. Bis er den Fängen der Hausherrin schließlich entkommt und sie selbst, wieder allein, eine lang ersehnte Reise antritt und nun ihrerseits zur Gästin wird.
Die Aufdrängung ist ein wunderbar eigensinnig erzählter Roman, der Fragen nach dem Bekannten und Unbekannten, nach Herkunft und Heimat, nach Assimilation und Integration, nach Privatsphäre und Gastfreundlichkeit stellt. Ein Debüt, dessen Lust am Fabulieren und Fantasieren mitreißt.
Die Aufdrängung ist ein wunderbar eigensinnig erzählter Roman, der Fragen nach dem Bekannten und Unbekannten, nach Herkunft und Heimat, nach Assimilation und Integration, nach Privatsphäre und Gastfreundlichkeit stellt. Ein Debüt, dessen Lust am Fabulieren und Fantasieren mitreißt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.11.2021Tritt ein, Feind
„Mein Haus ist dein Haus“ ist leicht gesagt – was aber, wenn das jemand mal wirklich
wörtlich nimmt? Ariane Kochs famoser Roman „Die Aufdrängung“
VON MIRYAM SCHELLBACH
Antje Rávic Strubel ist eine besonnene Schriftstellerin, zur Galionsfigur der politischen Literatur taugt sie nicht. Doch auch sie sprach, als sie im Oktober den Deutschen Buchpreis erhielt, in ihrer Dankesrede plötzlich von „Krieg der Benennungen und Bezeichnungen“. Wer schon mal einen echten Krieg erlebt hat, dem dürfte diese rhetorische Aufrüstung nicht behagen. Aber sie ist nicht untypisch für das aktuelle Literaturgeschehen. Sei es bei Fragen zur hohen Kunst der Übersetzung oder beim schlecht gelaunten Dissens über die gendersensible – oder, je nach Standpunkt, „genderwahnsinnige“ – Sprache, immer geht es metaphorisch schwerbewaffnet zu. Von Sprachverhunzung und Sprachvergewaltigung ist die Rede. Auf leisen Füßen hat sich die falsche Gewissheit eingeschlichen, man müsse sich zwischen den Fronten entscheiden, sich also entweder auf die Seite der politischen oder auf die Seite der wahren, ästhetisch ambitionierten Literatur schlagen.
Aber was ist eigentlich aus der guten alten Überzeugung geworden, dass Literatur (und Kunst ganz allgemein) nicht Opfer ist, sondern die Überwindung bedeutet von populistischen Zuspitzungen von Gut und Böse, richtig und falsch, fremd und eigen? Literarische Texte haben kein Bewusstsein, schon gar kein politisches. Was sie aber tun können, ist, mit Mitteln der Andeutung und Übertragung, die Ahnung einer herrschenden Struktur und Möglichkeiten ihrer Veränderung zu erzeugen.
Der Gast ist so eine Figur, an der sich einiges lernen lässt. „Mein Haus ist dein Haus“, heißt es etwa auf Arabisch, wenn man ihn willkommen heißen will. Was aber, wenn das einer mal wörtlich nimmt und sich nicht nur das Haus, sondern auch alle Möbel, die Kleidung und zuletzt noch die vertrocknete Tomate im Kühlschrank unter den Nagel reißt? Wie sich das anfühlen könnte, wenn ein Fremder kommt, um zu bleiben, ist auch das Thema des Debütromans von Ariane Koch. Sein Titel, „Die Aufdrängung“, ist etwas irreführend, denn die Beziehung zwischen Gast und Gastgeber ist wechselseitig manipulativ.
Der Gast ist aber auch eine der prominentesten Figuren in der Geschichte der Philosophie. Viele der Dialoge Platons etwa sind intime Zwiegespräche mit einem Gast. Ein durchreisender Fremder stellt Fragen, die ein Bekannter nicht stellen würde. Der aufgenommene Fremde sprengt die Grenzen des Innen und Außen. Deshalb versuchte auch Immanuel Kant in „Zum ewigen Frieden“, die Regeln der Gastfreundschaft zu einer Theorie der Weltbürgerrechte auszubauen. Schon bei ihm ist der Gedanke angelegt, dass, wer über Gastfreundschaft nachdenkt, über kurz oder lang auch bei der Frage nach den Staatsbürgern und Geflüchteten und ihrem Verhältnis zueinander ankommt.
Der Gast ist potenziell bedrohlich, man weiß nie, was man bekommt. Deshalb ist seine Ankunft eine Urszene zwischenmenschlichen Zusammenkommens, bei dem alles offen und in Bewegung ist. E. T. A. Hoffmann, Heinrich von Kleist und Franz Kafka haben allesamt über Begegnungen dieser Art geschrieben. Wie geht eine junge, nahezu unbekannte Autorin mit dem großen philosophischen und literarischen Ballast um, den das Thema mit sich bringt? Ariane Kochs Wagemut hat sich jedenfalls gelohnt. Gerade hat sie für „Die Aufdrängung“ den Aspekte-Literaturpreis erhalten. Dieses „hochdiffizile Sprachbild“, so heißt es in der Jury-Entscheidung, ergebe erst überhaupt keinen und dann sehr viel Sinn.
Im Zentrum des schmalen Romans stehen zwei Personen, zwei Fremde, die sich durch Zufall begegnen. Die namenlose Erzählerin lebt in einer mediokren schweizerischen Kleinstadt an der französischen Grenze im Schatten eines dreieckigen Berges, den zu besteigen sich nicht lohnt, denn die Landschaft „ist schön, aber dumpf, ist schön, aber dumm“. Sie fühlt sich der Stadt längst entwachsen, hängt jedoch in einer Schleife des Immergleichen fest und findet keinen Absprung. „Ich bin das allerälteste Fossil und hasse diese Kleinstadt so sehr, dass ich mich an ihr rächen werde, indem ich nie wirklich von hier weggehe, auch wenn ich ständig so tue, als ginge ich weg.“
In einer Bar oder an einem Bahnhof, die Erzählung ist hier wie an vielen Stellen nicht eindeutig, trifft sie einen Mann, der in seiner Erscheinung und dem Verhalten nach fremd auf sie wirkt. Er verständigt sich mithilfe eines Wörterbuchs und in einer nur schwer verständlichen Sprache. Aber seine erste Frage lässt schon erahnen, dass seine Ankunft alle Grenzen von Privatheit und Diskretion sprengen wird: „Willst du Kinder?“
Viele weitere Fragen wird der Gast nicht stellen. Er bezieht das leer stehende zehnte Zimmer des Hauses, das die Erzählerin bewohnt, und lebt so dahin. Offenbleibt, wo er herkam und wo er hin will. Er ist eben da. Die Gastgeberin aber ist wankelmütig. Erst will sie alles wissen über den Gast, dann erträgt sie keines seiner Worte. Sie sucht seine absolute Aufmerksamkeit, dann schickt sie ihn in sein Zimmer. Einmal will sie ihn hinauswerfen, braucht aber seine Hilfe, um ein Schloss an der Tür zu befestigen. „Ich habe zwar die Gewalt über ihn, aber keine Ideen mehr, wie ich sie gegen ihn anwenden soll“, stellt sie fest.
Diese Situationsanordnung zeigt auf lakonische Weise das ganze emotionale Spektrum einer Gastgeberin, die zwischen Aufnahme und Ablehnung, zwischen gastfreundlicher Liebe und unwirtlichem Hass hin- und herschwankt. Sprachlich flankiert ist die Lakonie von einem gewissen Hang zum leicht verschrobenen, doppelbödigen Vokabular zwischen schweizerischem Idiom, Spaß am Antiquierten und vielen Kafka-Anspielungen. Damit liest sich „Die Aufdrängung“ wie eine Allegorie und Groteske zugleich.
Der radikale Subjektivismus der Erzählerin, ihre Machtfantasien dem Gast gegenüber und auch der wiederholte Wunsch, ihn einfach vor die Tür zu setzen, wird von ihrer Untätigkeit konterkariert. Im Grunde sitzt sie nur herum und schaut dabei zu, wie der Fremde ihr Haus in Beschlag nimmt. „Er war einfach plötzlich da, so als sei er schon immer da gewesen“, denkt sie noch, während der Gast in Unterhose durchs Wohnzimmer flaniert, seine Freunde zum Umtrunk einlädt und sich auch gleich ihre Lieblingsjacke zu eigen macht.
Der Philosoph Jacques Derrida hat darauf hingewiesen, wie eng Gastfreundschaft und Feindschaft, Hospitalität und Hostilität, nicht nur sprachlich zusammenhängen. In seiner 1996 in Paris gehaltenen Vorlesungsreihe „Von der Gastfreundschaft“ mahnt er an, dass absolute Gastfreundschaft bedeute, „dass ich mein Zuhause öffne, und nicht nur dem Fremden, sondern auch dem Unbekannten, absolut Anderen statt gebe“, und zwar, so ergänzt er, ohne eine Gegenseitigkeit einzufordern. Wer sich aus ethischen oder vielleicht religiösen Gründen dazu entscheidet, „absolut“, wie Derrida es nennt, also bedingungslos gastfreundlich zu sein, müsste, moralisch rigoros gedacht, bereit sein, jedes erdenkliche Verhalten des Gegenübers in Kauf zu nehmen.
Die, die eintreten, verändern die, die schon da waren. Das ist für einige der Segen, für andere der Fluch von gesellschaftlicher Mobilität, von sich öffnenden Gesellschaften. Die Erzählerin in „Die Aufdrängung“ jedenfalls weiß schon bald nicht mehr, wie ihr Leben vorher eigentlich war: „Seit des Gastes Ankunft vergesse ich immerzu, wer ich war und wer ich bin und wohin ich gehöre.“
Als 2015 Geflüchtete an den deutschen Bahnhöfen mit Applaus begrüßt wurden, war von „Willkommenskultur“ die Rede. Dabei schließt der erste Bestandteil des Wortes den zweiten aus. Wer willkommen geheißen wird, kann eintreten und auf eigenen Füßen stehen. Eine Willkommenskultur müsste unermüdlich weiterklatschen, während die Ankommenden auf der Schwelle stehen bleiben.
Wird die Schwelle aber überschritten, findet eine wechselseitige Veränderung statt. Andeutungsreich, ohne allzu präzise zu werden, verwebt Ariane Koch auch dieses Thema, Flucht und die ihr folgende Ortlosigkeit sowie die Angst der schon Dagewesenen vor Veränderung, mit ihrer Geschichte. Es sei nur „eine Frage der Zeit, bis alles auseinanderfalle“ in diesem Land, sagt ihr eine nur oberflächlich Bekannte.
Und plötzlich erinnert die Erzählerin die Kleidung des Gastes an ein Zelt, und sie denkt zurück an die für den Schweizer Winter unpassenden Sandalen, die er bei seiner Ankunft trug. Als der Fremde überraschend weiterzieht, versucht sie ihn erst mit Gewalt aufzuhalten. Dass sie dann aber selbst in die Welt hinauszieht, ist die Erfüllung der Prophezeiung Derridas, dass auch der Gastgeber eine Wandlung erleben wird. Die Erzählerin ist erwachsen geworden. „Die Aufdrängung“ ist eine kammerspielartige Verdichtung von sehr konkreten gegenwärtigen Motiven und erzählt damit indirekt von gesellschaftlichem Ein- und Ausschluss jenseits einer ambivalenzfreien politischen Utopie.
Die Edition Suhrkamp hat zuletzt eine ganze Reihe von Texten veröffentlicht, die sich auf auffällig hohem ästhetischem Niveau gesellschaftspolitischen Fragen zuwenden. Mit den Büchern von Enis Maci, Marius Goldhorn und nun auch Ariane Koch spielt sich die Edition damit wieder ganz in den Vordergrund des literarischen Gegenwartsgeschehens.
„Des Gastes Geschichte, die nicht meine ist und doch zunehmend zu meiner wird, lastet schwer auf mir“, sagt die Erzählerin einmal über die wechselseitige Identifikation von Gast und Gastgeber. Für Ariane Kochs „Aufdrängung“, ein intensives, im besten Sinne rätselhaftes Debüt mit philosophischer Schlagkraft, gilt das ebenso.
Koch hat für „Die Aufdrängung“
gerade den Aspekte-Literaturpreis
erhalten
Die, die eintreten,
verändern die, die
schon da waren
„Ich bin das allerälteste Fossil und hasse diese Kleinstadt so sehr, dass ich mich an ihr rächen werde, indem ich nie wirklich von hier weggehe, auch wenn ich ständig so tue, als ginge ich weg.“ – Ariane Koch.
Foto: Heike Steinweg/SuhrkamP Verlag
Ariane Koch: Die Aufdrängung. Roman.
Suhrkamp, Berlin 2021. 180 Seiten, 14 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Mein Haus ist dein Haus“ ist leicht gesagt – was aber, wenn das jemand mal wirklich
wörtlich nimmt? Ariane Kochs famoser Roman „Die Aufdrängung“
VON MIRYAM SCHELLBACH
Antje Rávic Strubel ist eine besonnene Schriftstellerin, zur Galionsfigur der politischen Literatur taugt sie nicht. Doch auch sie sprach, als sie im Oktober den Deutschen Buchpreis erhielt, in ihrer Dankesrede plötzlich von „Krieg der Benennungen und Bezeichnungen“. Wer schon mal einen echten Krieg erlebt hat, dem dürfte diese rhetorische Aufrüstung nicht behagen. Aber sie ist nicht untypisch für das aktuelle Literaturgeschehen. Sei es bei Fragen zur hohen Kunst der Übersetzung oder beim schlecht gelaunten Dissens über die gendersensible – oder, je nach Standpunkt, „genderwahnsinnige“ – Sprache, immer geht es metaphorisch schwerbewaffnet zu. Von Sprachverhunzung und Sprachvergewaltigung ist die Rede. Auf leisen Füßen hat sich die falsche Gewissheit eingeschlichen, man müsse sich zwischen den Fronten entscheiden, sich also entweder auf die Seite der politischen oder auf die Seite der wahren, ästhetisch ambitionierten Literatur schlagen.
Aber was ist eigentlich aus der guten alten Überzeugung geworden, dass Literatur (und Kunst ganz allgemein) nicht Opfer ist, sondern die Überwindung bedeutet von populistischen Zuspitzungen von Gut und Böse, richtig und falsch, fremd und eigen? Literarische Texte haben kein Bewusstsein, schon gar kein politisches. Was sie aber tun können, ist, mit Mitteln der Andeutung und Übertragung, die Ahnung einer herrschenden Struktur und Möglichkeiten ihrer Veränderung zu erzeugen.
Der Gast ist so eine Figur, an der sich einiges lernen lässt. „Mein Haus ist dein Haus“, heißt es etwa auf Arabisch, wenn man ihn willkommen heißen will. Was aber, wenn das einer mal wörtlich nimmt und sich nicht nur das Haus, sondern auch alle Möbel, die Kleidung und zuletzt noch die vertrocknete Tomate im Kühlschrank unter den Nagel reißt? Wie sich das anfühlen könnte, wenn ein Fremder kommt, um zu bleiben, ist auch das Thema des Debütromans von Ariane Koch. Sein Titel, „Die Aufdrängung“, ist etwas irreführend, denn die Beziehung zwischen Gast und Gastgeber ist wechselseitig manipulativ.
Der Gast ist aber auch eine der prominentesten Figuren in der Geschichte der Philosophie. Viele der Dialoge Platons etwa sind intime Zwiegespräche mit einem Gast. Ein durchreisender Fremder stellt Fragen, die ein Bekannter nicht stellen würde. Der aufgenommene Fremde sprengt die Grenzen des Innen und Außen. Deshalb versuchte auch Immanuel Kant in „Zum ewigen Frieden“, die Regeln der Gastfreundschaft zu einer Theorie der Weltbürgerrechte auszubauen. Schon bei ihm ist der Gedanke angelegt, dass, wer über Gastfreundschaft nachdenkt, über kurz oder lang auch bei der Frage nach den Staatsbürgern und Geflüchteten und ihrem Verhältnis zueinander ankommt.
Der Gast ist potenziell bedrohlich, man weiß nie, was man bekommt. Deshalb ist seine Ankunft eine Urszene zwischenmenschlichen Zusammenkommens, bei dem alles offen und in Bewegung ist. E. T. A. Hoffmann, Heinrich von Kleist und Franz Kafka haben allesamt über Begegnungen dieser Art geschrieben. Wie geht eine junge, nahezu unbekannte Autorin mit dem großen philosophischen und literarischen Ballast um, den das Thema mit sich bringt? Ariane Kochs Wagemut hat sich jedenfalls gelohnt. Gerade hat sie für „Die Aufdrängung“ den Aspekte-Literaturpreis erhalten. Dieses „hochdiffizile Sprachbild“, so heißt es in der Jury-Entscheidung, ergebe erst überhaupt keinen und dann sehr viel Sinn.
Im Zentrum des schmalen Romans stehen zwei Personen, zwei Fremde, die sich durch Zufall begegnen. Die namenlose Erzählerin lebt in einer mediokren schweizerischen Kleinstadt an der französischen Grenze im Schatten eines dreieckigen Berges, den zu besteigen sich nicht lohnt, denn die Landschaft „ist schön, aber dumpf, ist schön, aber dumm“. Sie fühlt sich der Stadt längst entwachsen, hängt jedoch in einer Schleife des Immergleichen fest und findet keinen Absprung. „Ich bin das allerälteste Fossil und hasse diese Kleinstadt so sehr, dass ich mich an ihr rächen werde, indem ich nie wirklich von hier weggehe, auch wenn ich ständig so tue, als ginge ich weg.“
In einer Bar oder an einem Bahnhof, die Erzählung ist hier wie an vielen Stellen nicht eindeutig, trifft sie einen Mann, der in seiner Erscheinung und dem Verhalten nach fremd auf sie wirkt. Er verständigt sich mithilfe eines Wörterbuchs und in einer nur schwer verständlichen Sprache. Aber seine erste Frage lässt schon erahnen, dass seine Ankunft alle Grenzen von Privatheit und Diskretion sprengen wird: „Willst du Kinder?“
Viele weitere Fragen wird der Gast nicht stellen. Er bezieht das leer stehende zehnte Zimmer des Hauses, das die Erzählerin bewohnt, und lebt so dahin. Offenbleibt, wo er herkam und wo er hin will. Er ist eben da. Die Gastgeberin aber ist wankelmütig. Erst will sie alles wissen über den Gast, dann erträgt sie keines seiner Worte. Sie sucht seine absolute Aufmerksamkeit, dann schickt sie ihn in sein Zimmer. Einmal will sie ihn hinauswerfen, braucht aber seine Hilfe, um ein Schloss an der Tür zu befestigen. „Ich habe zwar die Gewalt über ihn, aber keine Ideen mehr, wie ich sie gegen ihn anwenden soll“, stellt sie fest.
Diese Situationsanordnung zeigt auf lakonische Weise das ganze emotionale Spektrum einer Gastgeberin, die zwischen Aufnahme und Ablehnung, zwischen gastfreundlicher Liebe und unwirtlichem Hass hin- und herschwankt. Sprachlich flankiert ist die Lakonie von einem gewissen Hang zum leicht verschrobenen, doppelbödigen Vokabular zwischen schweizerischem Idiom, Spaß am Antiquierten und vielen Kafka-Anspielungen. Damit liest sich „Die Aufdrängung“ wie eine Allegorie und Groteske zugleich.
Der radikale Subjektivismus der Erzählerin, ihre Machtfantasien dem Gast gegenüber und auch der wiederholte Wunsch, ihn einfach vor die Tür zu setzen, wird von ihrer Untätigkeit konterkariert. Im Grunde sitzt sie nur herum und schaut dabei zu, wie der Fremde ihr Haus in Beschlag nimmt. „Er war einfach plötzlich da, so als sei er schon immer da gewesen“, denkt sie noch, während der Gast in Unterhose durchs Wohnzimmer flaniert, seine Freunde zum Umtrunk einlädt und sich auch gleich ihre Lieblingsjacke zu eigen macht.
Der Philosoph Jacques Derrida hat darauf hingewiesen, wie eng Gastfreundschaft und Feindschaft, Hospitalität und Hostilität, nicht nur sprachlich zusammenhängen. In seiner 1996 in Paris gehaltenen Vorlesungsreihe „Von der Gastfreundschaft“ mahnt er an, dass absolute Gastfreundschaft bedeute, „dass ich mein Zuhause öffne, und nicht nur dem Fremden, sondern auch dem Unbekannten, absolut Anderen statt gebe“, und zwar, so ergänzt er, ohne eine Gegenseitigkeit einzufordern. Wer sich aus ethischen oder vielleicht religiösen Gründen dazu entscheidet, „absolut“, wie Derrida es nennt, also bedingungslos gastfreundlich zu sein, müsste, moralisch rigoros gedacht, bereit sein, jedes erdenkliche Verhalten des Gegenübers in Kauf zu nehmen.
Die, die eintreten, verändern die, die schon da waren. Das ist für einige der Segen, für andere der Fluch von gesellschaftlicher Mobilität, von sich öffnenden Gesellschaften. Die Erzählerin in „Die Aufdrängung“ jedenfalls weiß schon bald nicht mehr, wie ihr Leben vorher eigentlich war: „Seit des Gastes Ankunft vergesse ich immerzu, wer ich war und wer ich bin und wohin ich gehöre.“
Als 2015 Geflüchtete an den deutschen Bahnhöfen mit Applaus begrüßt wurden, war von „Willkommenskultur“ die Rede. Dabei schließt der erste Bestandteil des Wortes den zweiten aus. Wer willkommen geheißen wird, kann eintreten und auf eigenen Füßen stehen. Eine Willkommenskultur müsste unermüdlich weiterklatschen, während die Ankommenden auf der Schwelle stehen bleiben.
Wird die Schwelle aber überschritten, findet eine wechselseitige Veränderung statt. Andeutungsreich, ohne allzu präzise zu werden, verwebt Ariane Koch auch dieses Thema, Flucht und die ihr folgende Ortlosigkeit sowie die Angst der schon Dagewesenen vor Veränderung, mit ihrer Geschichte. Es sei nur „eine Frage der Zeit, bis alles auseinanderfalle“ in diesem Land, sagt ihr eine nur oberflächlich Bekannte.
Und plötzlich erinnert die Erzählerin die Kleidung des Gastes an ein Zelt, und sie denkt zurück an die für den Schweizer Winter unpassenden Sandalen, die er bei seiner Ankunft trug. Als der Fremde überraschend weiterzieht, versucht sie ihn erst mit Gewalt aufzuhalten. Dass sie dann aber selbst in die Welt hinauszieht, ist die Erfüllung der Prophezeiung Derridas, dass auch der Gastgeber eine Wandlung erleben wird. Die Erzählerin ist erwachsen geworden. „Die Aufdrängung“ ist eine kammerspielartige Verdichtung von sehr konkreten gegenwärtigen Motiven und erzählt damit indirekt von gesellschaftlichem Ein- und Ausschluss jenseits einer ambivalenzfreien politischen Utopie.
Die Edition Suhrkamp hat zuletzt eine ganze Reihe von Texten veröffentlicht, die sich auf auffällig hohem ästhetischem Niveau gesellschaftspolitischen Fragen zuwenden. Mit den Büchern von Enis Maci, Marius Goldhorn und nun auch Ariane Koch spielt sich die Edition damit wieder ganz in den Vordergrund des literarischen Gegenwartsgeschehens.
„Des Gastes Geschichte, die nicht meine ist und doch zunehmend zu meiner wird, lastet schwer auf mir“, sagt die Erzählerin einmal über die wechselseitige Identifikation von Gast und Gastgeber. Für Ariane Kochs „Aufdrängung“, ein intensives, im besten Sinne rätselhaftes Debüt mit philosophischer Schlagkraft, gilt das ebenso.
Koch hat für „Die Aufdrängung“
gerade den Aspekte-Literaturpreis
erhalten
Die, die eintreten,
verändern die, die
schon da waren
„Ich bin das allerälteste Fossil und hasse diese Kleinstadt so sehr, dass ich mich an ihr rächen werde, indem ich nie wirklich von hier weggehe, auch wenn ich ständig so tue, als ginge ich weg.“ – Ariane Koch.
Foto: Heike Steinweg/SuhrkamP Verlag
Ariane Koch: Die Aufdrängung. Roman.
Suhrkamp, Berlin 2021. 180 Seiten, 14 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Miryam Schellbach fühlt sich von Ariane Kochs daran erinnert, dass Literatur "nicht Opfer ist, sondern die Überwindung bedeutet von populistischen Zuspitzungen von Gut und Böse, Richtig und Falsch, Fremd und Eigen", und annonciert mit diesem Debüt einen Roman, der laut Kritikerin diesem fast schon vergessenen Anspruch gerecht wird. Hymnisch fährt Schellbach fort: In der Geschichte um eine namenlose Erzählerin aus der Schweiz, die einen Fremden nach kurzer Begegnung bei sich aufnimmt, erkennt die Rezensentin nicht nur eine "Allegorie", unter anderem auf die Flüchtlingspolitik, sondern auch zahlreiche Anspielungen auf Kants, Kafkas oder Derridas Reflexionen über Gastfreundschaft. In Form einer literarischen Versuchsanordnung folgt Schellbach der sich stets ändernden Bandbreite von Gastfreundschaft über Ablehnung bis Hass, die die Gastgeberin in der Zeit des Aufenthalts des Fremden überkommen. Während die Erzählerin im Nichtstun verharrt, leuchtet die Autorin deren Gefühle, Gedanken und Fantasien aus, nüchtern, mit Schweizer Idiom und "Spaß am Antiquierten", wie die Kritikerin erläutert. Ein brillantes Debüt, reich an gesellschaftspolitischen Themen und mit "philosophischer Schlagkraft", schließt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»... ein intensives, im besten Sinne rätselhaftes Debüt mit philosophischer Schlagkraft ...« Miryam Schellbach Süddeutsche Zeitung 20211109