Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, das Dokument einer existentiellen Krise wie einer Krise der Kunst, ist neben seinen Gedichten aus den späten Jahren das Werk, das der Gegenwart immer näher kommt und nicht vor ihr ins Historische sich entfernt. Sein Tagebuchroman ist eines der ersten großen Werke der literarischen Moderne.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.09.2004 Band 26
Das Leben, das flüchtige Wild
Rainer Maria Rilkes „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge”
Einen wundersamen Anfang nimmt die Kunst der literarischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Ihre Protagonisten entstammen alten, bis zur Lebensunfähigkeit verfeinerten Familien, denen mit dem Vermögen auch das Blut ausgeronnen ist. Nun liegen die bleichen Helden im Bett, meist nicht mehr in standesgemäßen Quartieren, und lauschen erschöpft auf den Lärm der Großstadt, der über das Schicksal der vom technischen Fortschritt Vernichteten hinwegdonnert.
In dem 1910 veröffentlichten Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge”, der mit allen Traditionen des Erzählens brach, träumte sich Rainer Maria Rilke in die Gestalt eines jungen dänischen Edelmannes hinein, der nach dem Bankrott seines Hauses versucht, in einer Pariser Dachkammer als Dichter zu leben. Statt einer Handlung zu folgen, wird der Leser in die Welt der Erinnerungen, Wahrnehmungen und Reflexionen des einsamen Künstlers gelockt. Bilder aus einer erlesen vornehmen Kindheit voll geheimer Bedrohungen und gefährlicher Vorzeichen, grausige Eindrücke aus der Sphäre der Armen und Kranken in den Gossen des Stadtmolochs und eine Prozession mittelalterlicher Monstren und großer Liebender wie von einem halbzerfetzten flämischen Wandteppich schlingen sich ineinander. Die Persönlichkeit des Malte Laurids Brigge ist eine Projektionsfläche, die aus Vergangenheit und Gegenwart zugleich angestrahlt wird und so fließend im „Nicht mehr” und im „Noch nicht” verharrt wie Rilkes Sprache, der es auch in der Prosa gelingt, das singende Klagen der Enjambements, das für seine Gedichte so bezeichnend ist, in anderer Weise zu bewahren.
Es ist diese Sprache, die den eigentümlichen Charakter der „Aufzeichnungen” ausmacht. Unter dem zwiefachen Ansturm der Außen- und der Innenwelt versucht sich der erfundene Dichter, hinter dem die Gestalt des Autors immer wieder sichtbar wird, seiner Überwältigung mit ungewohnten sprachlichen Fügungen zu erwehren. Im Gemäuer eines Abbruchhauses „standen die Mittage und die Krankheiten und das Ausgeatmete und der jahrealte Rauch und der Schweiß, der unter den Schultern ausbricht und die Kleider schwer macht und das Fade aus den Munden und der Fuselgeruch gärender Füße . . . Der süße lange Geruch von vernachlässigten Säuglingen war da und der Angstgeruch der Kinder, die in die Schule gehen, und das Schwüle aus den Betten mannbarer Knaben.”
Er feiert die Farben der Verwesung: „Blau (verwandelt sich) in schimmliches Grün, Grün in Grau und Gelb in altes, abgestandenes Weiß, das fault.” Das ist die Farbpalette des Jugendstils wie sie auf Gemälden, auf Stoffen und Tapeten Verwendung fand. Rilke ist trotz sehnsüchtig somnambuler Blicke in die Historie eingegangen. Zur gleichen Zeit wie Marcel Proust ist er auf der Jagd nach dem flüchtigen Wild Realität, das sich nur im Dämmer auf den Lichtungen der Erinnerung in glücklichen Augenblicken beobachten lässt.
MARTIN MOSEBACH
Rainer Maria Rilke
dpa
Das Leben, das flüchtige Wild
Rainer Maria Rilkes „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge”
Einen wundersamen Anfang nimmt die Kunst der literarischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Ihre Protagonisten entstammen alten, bis zur Lebensunfähigkeit verfeinerten Familien, denen mit dem Vermögen auch das Blut ausgeronnen ist. Nun liegen die bleichen Helden im Bett, meist nicht mehr in standesgemäßen Quartieren, und lauschen erschöpft auf den Lärm der Großstadt, der über das Schicksal der vom technischen Fortschritt Vernichteten hinwegdonnert.
In dem 1910 veröffentlichten Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge”, der mit allen Traditionen des Erzählens brach, träumte sich Rainer Maria Rilke in die Gestalt eines jungen dänischen Edelmannes hinein, der nach dem Bankrott seines Hauses versucht, in einer Pariser Dachkammer als Dichter zu leben. Statt einer Handlung zu folgen, wird der Leser in die Welt der Erinnerungen, Wahrnehmungen und Reflexionen des einsamen Künstlers gelockt. Bilder aus einer erlesen vornehmen Kindheit voll geheimer Bedrohungen und gefährlicher Vorzeichen, grausige Eindrücke aus der Sphäre der Armen und Kranken in den Gossen des Stadtmolochs und eine Prozession mittelalterlicher Monstren und großer Liebender wie von einem halbzerfetzten flämischen Wandteppich schlingen sich ineinander. Die Persönlichkeit des Malte Laurids Brigge ist eine Projektionsfläche, die aus Vergangenheit und Gegenwart zugleich angestrahlt wird und so fließend im „Nicht mehr” und im „Noch nicht” verharrt wie Rilkes Sprache, der es auch in der Prosa gelingt, das singende Klagen der Enjambements, das für seine Gedichte so bezeichnend ist, in anderer Weise zu bewahren.
Es ist diese Sprache, die den eigentümlichen Charakter der „Aufzeichnungen” ausmacht. Unter dem zwiefachen Ansturm der Außen- und der Innenwelt versucht sich der erfundene Dichter, hinter dem die Gestalt des Autors immer wieder sichtbar wird, seiner Überwältigung mit ungewohnten sprachlichen Fügungen zu erwehren. Im Gemäuer eines Abbruchhauses „standen die Mittage und die Krankheiten und das Ausgeatmete und der jahrealte Rauch und der Schweiß, der unter den Schultern ausbricht und die Kleider schwer macht und das Fade aus den Munden und der Fuselgeruch gärender Füße . . . Der süße lange Geruch von vernachlässigten Säuglingen war da und der Angstgeruch der Kinder, die in die Schule gehen, und das Schwüle aus den Betten mannbarer Knaben.”
Er feiert die Farben der Verwesung: „Blau (verwandelt sich) in schimmliches Grün, Grün in Grau und Gelb in altes, abgestandenes Weiß, das fault.” Das ist die Farbpalette des Jugendstils wie sie auf Gemälden, auf Stoffen und Tapeten Verwendung fand. Rilke ist trotz sehnsüchtig somnambuler Blicke in die Historie eingegangen. Zur gleichen Zeit wie Marcel Proust ist er auf der Jagd nach dem flüchtigen Wild Realität, das sich nur im Dämmer auf den Lichtungen der Erinnerung in glücklichen Augenblicken beobachten lässt.
MARTIN MOSEBACH
Rainer Maria Rilke
dpa
»... aktueller kann ein Roman nicht sein.« Michael Jäger der Freitag 20220728