Jeder kennt die skurrile, aber stets freundliche Miss Marple und den exzentrisch-pedantischen Poirot, jeder kennt den Namen ihrer Schöpferin Agatha Christie, doch wer war der Mensch hinter der Schreibmaschine? Zu Lebzeiten öffentlichkeitsscheu, gab Agatha Christie keine Interviews und verriet nichts über ihr Privatleben. Erst posthum brach die Queen of Crime ihr Schweigen. Ein Jahr nach ihrem Tod wurde ihre Autobiographie veröffentlicht, in der sie von ihrer Kindheit, zwei Ehen und zwei Weltkriegen erzählte, von ihrem Leben als Autorin und von den archäologischen Expeditionen ihres zweiten Ehemannes Max Mallowan. Eine Autobiographie, die ebenso spannend und lebendig erzählt ist wie ihre Romane.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.06.2017Erinnerung, schweig
Agatha Christies Memoiren liegen wieder vor
Theresa May gibt wenig von sich preis. Umso begieriger stürzen sich Beobachter auf kleine Hinweise, aus denen sich womöglich Schlüsse ziehen lassen über ihr Wesen, wie etwa, als die britische Premierministerin im Wahlkampf verriet, welche Figuren sie zu einem idealen Abendessen einladen würde. Zu ihren Wunschgästen zählen Edward Whymper, der Erstbesteiger des Matterhorns, die Gartenkünstlerin Gertrud Jekyll, der Maler Stanley Spencer und Agatha Christie. Theresa May erklärte, sie wolle herausfinden, "was wirklich geschah", als die Kriminalschriftstellerin 1926 durch ihr elf Tage langes Verschwinden den Stoff für ein nationales Drama lieferte, das anders als die Fälle in ihren Mordgeschichten bis heute nicht ganz gelöst ist.
Biographen, Psychiater und Filmemacher haben im Laufe der Jahre eine Fülle von Thesen aufgestellt. Dieser Tage ist gerade wieder ein Roman erschienen, der behauptet, Agatha Christie habe sich nach dem Scheidungsgesuch ihres untreuen Mannes umbringen wollen. Nachdem sie den selbst herbeigeführten Autounfall überlebt habe, sei die gläubige Christin von Schuldgefühlen überwältigt worden, weil sie das von Gott gegebene Leben selbst beenden wollte. Um den Vorgang zu vertuschen, habe sie einen Amnesieanfall vorgetäuscht.
In ihren eigenen Erinnerungen, die jetzt wieder in einer neuen deutschen Ausgabe vorliegen, schweigt Agatha Christie über diese Episode. Aus der Schilderung des Zusammenbruchs ihrer Ehe im selben Jahr, in dem ihre Mutter starb und einer ihrer berühmtesten Romane, "Alibi", erschien, geht lediglich hervor, dass Kummer, Sorge und Überarbeitung eine Art depressiven Nervenzusammenbruch verursachten. Es ist bezeichnend, dass die Autorin an diesem Krisenpunkt ihrer Lebensgeschichte fragt, ob man das Recht habe, Erinnerungen zu ignorieren, die einem zuwider seien.
So kommt sie zu dem Schluss, nicht länger beim Unangenehmen verweilen zu müssen. In ihrer Autobiographie berichtet sie nur von Begebenheiten, an die sie sich erinnern wollte. Die Schattenseiten hebt sie für ihre Kriminalromane auf, in denen das Gute stets über das Böse siegt. In ihren Memoiren ist die öffentlichkeitsscheue Autorin entschlossen, dem Leser glaubhaft zu machen, sie habe ein glückliches Leben geführt habe - trotz des Verlusts ihres nichtsnutzigen amerikanischen Vaters im Alter von elf Jahren, trotz der Geldsorgen und der Neurosen ihrer heißgeliebten Mutter, die sich an sie klammerte, trotz der Albträume, der einsamen Kindheit, in der die Heimgesuchte in eine Phantasiewelt flüchtete, die bevölkert war von erfundenen Tieren und Menschen, denen sie Geschichten erzählte, und trotz des Traumas von 1926.
Das Buch entstand über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren. Es wurde 1965 abgeschlossen, als die fünfundsiebzig Jahre alte Autorin meinte, es sei an der Zeit, den Schlussstrich zu ziehen. Ihr umfangreiches Manuskript wurde erst nach ihrem Tod fast elf Jahre später in eine veröffentlichbare Form gebracht. Die deutsche Übersetzung beläuft sich auf beinahe 650 Seiten, in denen sie ziemlich platt plaudert über Familie, Freunde, Häuser, Hausangestellte und Reisen. Der Verlag hat es sich zu leichtgemacht mit der Übernahme des Vorwortes ihres Enkels, das sich auf Tonbandaufnahmen diktierter Passagen der Autobiographie bezieht, die im Nachlass seiner Mutter entdeckt und der englischen Neuausgabe des Buches zum fünfundzwanzigsten Todestag der "Krimikönigin" als CD beigelegt wurden.
Über ihr Handwerk verrät die Autorin, deren Verkaufszahlen nur durch Shakespeare und die Bibel übertroffen werden, wenig. Sie behauptet, ihre Bücher - bis zu drei in einem Jahr - nebenbei geschrieben zu haben und beim Ausfüllen eines Formulars in die Spalte mit der Berufsangabe "das alterwürdige Wort Hausfrau" zu schreiben: "Meine schriftstellerische Tätigkeit als Beruf aufzufassen wäre mir lächerlich erschienen." Das macht sie sympathisch, aber nicht wirklich interessant. Im Gegensatz zu Theresa May erzählt Agatha Christie viel. Mit der Premierministerin hat sie gemein, dass sie sich nicht in die Karten schauen lässt.
GINA THOMAS
Agatha Christie:
"Die Autobiographie".
Aus dem Englischen von Hans Erik Hausner. Atlantik Verlag, Hamburg 2017. 640 S., geb., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Agatha Christies Memoiren liegen wieder vor
Theresa May gibt wenig von sich preis. Umso begieriger stürzen sich Beobachter auf kleine Hinweise, aus denen sich womöglich Schlüsse ziehen lassen über ihr Wesen, wie etwa, als die britische Premierministerin im Wahlkampf verriet, welche Figuren sie zu einem idealen Abendessen einladen würde. Zu ihren Wunschgästen zählen Edward Whymper, der Erstbesteiger des Matterhorns, die Gartenkünstlerin Gertrud Jekyll, der Maler Stanley Spencer und Agatha Christie. Theresa May erklärte, sie wolle herausfinden, "was wirklich geschah", als die Kriminalschriftstellerin 1926 durch ihr elf Tage langes Verschwinden den Stoff für ein nationales Drama lieferte, das anders als die Fälle in ihren Mordgeschichten bis heute nicht ganz gelöst ist.
Biographen, Psychiater und Filmemacher haben im Laufe der Jahre eine Fülle von Thesen aufgestellt. Dieser Tage ist gerade wieder ein Roman erschienen, der behauptet, Agatha Christie habe sich nach dem Scheidungsgesuch ihres untreuen Mannes umbringen wollen. Nachdem sie den selbst herbeigeführten Autounfall überlebt habe, sei die gläubige Christin von Schuldgefühlen überwältigt worden, weil sie das von Gott gegebene Leben selbst beenden wollte. Um den Vorgang zu vertuschen, habe sie einen Amnesieanfall vorgetäuscht.
In ihren eigenen Erinnerungen, die jetzt wieder in einer neuen deutschen Ausgabe vorliegen, schweigt Agatha Christie über diese Episode. Aus der Schilderung des Zusammenbruchs ihrer Ehe im selben Jahr, in dem ihre Mutter starb und einer ihrer berühmtesten Romane, "Alibi", erschien, geht lediglich hervor, dass Kummer, Sorge und Überarbeitung eine Art depressiven Nervenzusammenbruch verursachten. Es ist bezeichnend, dass die Autorin an diesem Krisenpunkt ihrer Lebensgeschichte fragt, ob man das Recht habe, Erinnerungen zu ignorieren, die einem zuwider seien.
So kommt sie zu dem Schluss, nicht länger beim Unangenehmen verweilen zu müssen. In ihrer Autobiographie berichtet sie nur von Begebenheiten, an die sie sich erinnern wollte. Die Schattenseiten hebt sie für ihre Kriminalromane auf, in denen das Gute stets über das Böse siegt. In ihren Memoiren ist die öffentlichkeitsscheue Autorin entschlossen, dem Leser glaubhaft zu machen, sie habe ein glückliches Leben geführt habe - trotz des Verlusts ihres nichtsnutzigen amerikanischen Vaters im Alter von elf Jahren, trotz der Geldsorgen und der Neurosen ihrer heißgeliebten Mutter, die sich an sie klammerte, trotz der Albträume, der einsamen Kindheit, in der die Heimgesuchte in eine Phantasiewelt flüchtete, die bevölkert war von erfundenen Tieren und Menschen, denen sie Geschichten erzählte, und trotz des Traumas von 1926.
Das Buch entstand über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren. Es wurde 1965 abgeschlossen, als die fünfundsiebzig Jahre alte Autorin meinte, es sei an der Zeit, den Schlussstrich zu ziehen. Ihr umfangreiches Manuskript wurde erst nach ihrem Tod fast elf Jahre später in eine veröffentlichbare Form gebracht. Die deutsche Übersetzung beläuft sich auf beinahe 650 Seiten, in denen sie ziemlich platt plaudert über Familie, Freunde, Häuser, Hausangestellte und Reisen. Der Verlag hat es sich zu leichtgemacht mit der Übernahme des Vorwortes ihres Enkels, das sich auf Tonbandaufnahmen diktierter Passagen der Autobiographie bezieht, die im Nachlass seiner Mutter entdeckt und der englischen Neuausgabe des Buches zum fünfundzwanzigsten Todestag der "Krimikönigin" als CD beigelegt wurden.
Über ihr Handwerk verrät die Autorin, deren Verkaufszahlen nur durch Shakespeare und die Bibel übertroffen werden, wenig. Sie behauptet, ihre Bücher - bis zu drei in einem Jahr - nebenbei geschrieben zu haben und beim Ausfüllen eines Formulars in die Spalte mit der Berufsangabe "das alterwürdige Wort Hausfrau" zu schreiben: "Meine schriftstellerische Tätigkeit als Beruf aufzufassen wäre mir lächerlich erschienen." Das macht sie sympathisch, aber nicht wirklich interessant. Im Gegensatz zu Theresa May erzählt Agatha Christie viel. Mit der Premierministerin hat sie gemein, dass sie sich nicht in die Karten schauen lässt.
GINA THOMAS
Agatha Christie:
"Die Autobiographie".
Aus dem Englischen von Hans Erik Hausner. Atlantik Verlag, Hamburg 2017. 640 S., geb., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ihre Autobiographie, die ebenso auch eine Chronik Englands und des 20. Jahrhunderts ist, zeigt eine Frau voller Lebenslust und Charme und verrät, welche Genialität ihrem Erfolg zugrunde liegt.« Szene Köln Bonn 20170425