Einen Monat verbrachten der argentinische Schriftsteller Julio Cortazar und seine Frau Carol Dunlop im Sommer 1982 auf der Autobahn Paris - Marseille in einem VW-Bus mit aufklappbarem Zeltdach. Es galt, alle Autobahnrastplätze auf der Strecke anzusteuern, auf jedem zu verweilen und auf jedem zweiten zu übernachten. Es galt, unerschrockenen Abenteuer- und Forschergeist aufzubringen. Die Reisenden haben ein Tagebuch der Expedition mitgebracht, das voller übermütigem Humor ist, obwohl beide, von Krankheit gezeichnet, wußten, daß ihr Ende bevorstand.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.08.2014Die Mysterien der Autobahnrastplätze
Reise von Paris nach Marseille und hinein in ein Paralleluniversum der Poesie: Das Expeditionstagebuch des Schriftstellers und Traumwandlers Julio Cortázar, der heute vor hundert Jahren geboren wurde.
Wer von sich behauptet, aufgrund seines Sternzeichens zur Wahrnehmung von "Maulwurfsgängen bei vollem Tageslicht" befähigt zu sein und mysteriöse "Durchlässe" da erkennen zu können, wo andere gegen Wände laufen, der muss wohl eine ganz besondere Perspektive auf die Realität haben. Heute vor hundert Jahren wurde ein Schriftsteller geboren, der eine solche Perspektive besaß und sie in seinen Büchern auf vielfältige Weise zur Geltung brachte. Julio Cortázar, in Brüssel geboren und 1984 als französischer Staatsbürger in Paris gestorben, liebte es, Realitäten zu brechen oder sogar aufzuheben, um ganze andere, oft äußerst skurrile Ordnungen im Reich der Fiktionen zu errichten.
Zwielichtige Gänge und Passagen, wie etwa in der Erzählung "Der andere Himmel" von 1966, bilden eine Konstante in Cortázars Werk. Vor allem waren sie ihm Zugänge, um literarische Erzählkonventionen zu brechen und Einfallstellen für das Phantastische zu schaffen. Ein versetzter, verschobener Eindruck der räumlichen und zeitlichen Wirklichkeit war ihm, der zu seinen literarischen Vorbildern Lautréamont, Breton, Rimbaud oder Keats zählte, ein Mittel, die Realität neu und anders ins Auge zu fassen, wie er schon in seiner "Tunnel-Theorie" von 1947 andeutete.
Die Selbstaussage über seinen erhellten Blick auf dunkle, unterirdische Labyrinthe findet sich zu Beginn des Reiseberichts "Die Autonauten auf der Kosmobahn", den Cortázar zusammen mit seiner Frau, der kanadischen Fotografin Carol Dunlop, verfasste. In dieser originellen Chronik einer Expedition auf der französischen Autobahn des Südens, macht das Paar den Leser zum Komplizen eines Unternehmens, das in der literarischen Tradition der Surrealisten steht und seine Teilnehmer in einen Zustand unverhoffter Leichtigkeit versetzt. Dass totale Freiheit und Ruhe ausgerechnet auf dem Rastplatz einer Autobahn zu finden sind, hätten die Forschungsreisenden zunächst selbst nicht für möglich gehalten.
Bedrängt von "Dämonen", von gesundheitlichen Sorgen und den Widrigkeiten der Pariser Alltagsroutine, fassen Cortázar und Dunlop im Mai 1982 den Entschluss, die Autobahnstrecke Paris-Marseille 33 Tage lang zu erkunden. Als eine Art Spielregel setzten sie fest, jeden Tag zwei Rastplätze anzufahren und jeweils auf dem zweiten zu übernachten. Als Transportmittel und als Gefährte fungiert dabei ein VW-Bus, den sie auf den Namen des Wächters des Nibelungenschatzes taufen: Fafnir. Für Cortázar, der seit seiner Kindheit die Etikettierung von Dingen in Frage stellte, ist er aber schlicht "der Drache". Beobachtungen und Begegnungen halten sie protokollarisch in einem Reisetagebuch fest. Das vorgeblich seriöse Logbuch ihrer empirischen Forschungsexpedition gestalten die Abenteurer - anders als ihre Vorbilder James Cook oder Kolumbus - als literarisches, reichillustriertes Spiel.
Neben Fotografien und den kindlichen Zeichnungen der Rastplätze, die Dunlops Sohn später gemacht hat, findet fast unmerklich ein parallel datierter kleiner Briefroman Carol Dunlops Eingang in den Bericht. Von zwei Verrückten, die auf der Autobahn umherirren, ist da die Rede. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion lässt sich bei Cortázar und Dunlop zuweilen schwer ermessen.
Konkret fassbar wird sie, wenn den Reisenden bald schon Calac und Polanco per Anhalter hinterherfahren, zwei Figuren aus dem Erzähluniversum Cortázars, die sich ausgiebig an ihren Vorräten - vor allem an ihrem Wein - vergreifen. Von Ameisenbissen wird berichtet, einer Ufo-Sichtung, der Verfolgung durch Lastwagenfahrer, Essensplänen, der Erkundung von Hexen-Grabstätten und auch einfach von den Methoden der wagemutigen Forscher, die "Zeit außerhalb der Uhren verfließen zu lassen". Darin liegt womöglich die außergewöhnlichste Leistung innerhalb dieses literarischen Experiments.
Die Leere der Parkplätze im Niemandsland der Schnellstraßen überbrücken sie, indem sie sie füllen und in einem höheren Sinne deuten. Zu verfolgen, wie sie dabei eine Pforte, einen literarischen Durchlass entdecken, der sie dem Raum-Zeit-Kontinuum der öden Alltagswelt entzieht, ist purer Genuss. Die Entdeckung und Eroberung der parallelen Autobahn, des verborgenen mythischen Ortes, ist geglückt - auch für den Leser.
Nachdem sie der Skorbutgefahr entkommen waren und die empirische Existenz von Marseille nachgewiesen war, haben die Dämonen sie doch noch eingeholt. Dass sie dem Alltag entflohen sind, um aus zwei grotesk hässlich bezogenen Campingstühlen ("Geblümte Greuel") heraus die metaphysischen Dimensionen der Autobahn zu erforschen, sollte der argentinische Autor nie bereuen. Nichts habe den Monat außerhalb der Zeit übertreffen können, in dem das Paar zum letzten Mal uneingeschränktes Glück erfuhr. Nicht zuletzt ist dieser grandiose literarische Reisebericht auch das intime, gegenseitige Liebesbekenntnis zweier Gleichgesinnter, die durch Carol Dunlops Tod im November desselben Jahres getrennt wurden. Cortázar blieb gebrochen zurück und litt in den beiden letzten Lebensjahren vor seiner Erkrankung an Leukämie zunehmend unter Depressionen.
Dass der grandísimo cronopio, wie Cortázar in Anlehnung an seine grünen, feuchten literarischen Geschöpfe in der spanischsprachigen Welt von seinen Bewunderern tituliert wird, dieses Reiseglück noch erleben durfte, ist unser aller zeitloser Gewinn.
ELEONOR BENÍTEZ.
Julio Cortázar und Carol Dunlop: "Die Autonauten auf der Kosmobahn." Eine zeitlose Reise Paris-Marseille. Aus dem Spanischen von Wilfried Böhringer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 358 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reise von Paris nach Marseille und hinein in ein Paralleluniversum der Poesie: Das Expeditionstagebuch des Schriftstellers und Traumwandlers Julio Cortázar, der heute vor hundert Jahren geboren wurde.
Wer von sich behauptet, aufgrund seines Sternzeichens zur Wahrnehmung von "Maulwurfsgängen bei vollem Tageslicht" befähigt zu sein und mysteriöse "Durchlässe" da erkennen zu können, wo andere gegen Wände laufen, der muss wohl eine ganz besondere Perspektive auf die Realität haben. Heute vor hundert Jahren wurde ein Schriftsteller geboren, der eine solche Perspektive besaß und sie in seinen Büchern auf vielfältige Weise zur Geltung brachte. Julio Cortázar, in Brüssel geboren und 1984 als französischer Staatsbürger in Paris gestorben, liebte es, Realitäten zu brechen oder sogar aufzuheben, um ganze andere, oft äußerst skurrile Ordnungen im Reich der Fiktionen zu errichten.
Zwielichtige Gänge und Passagen, wie etwa in der Erzählung "Der andere Himmel" von 1966, bilden eine Konstante in Cortázars Werk. Vor allem waren sie ihm Zugänge, um literarische Erzählkonventionen zu brechen und Einfallstellen für das Phantastische zu schaffen. Ein versetzter, verschobener Eindruck der räumlichen und zeitlichen Wirklichkeit war ihm, der zu seinen literarischen Vorbildern Lautréamont, Breton, Rimbaud oder Keats zählte, ein Mittel, die Realität neu und anders ins Auge zu fassen, wie er schon in seiner "Tunnel-Theorie" von 1947 andeutete.
Die Selbstaussage über seinen erhellten Blick auf dunkle, unterirdische Labyrinthe findet sich zu Beginn des Reiseberichts "Die Autonauten auf der Kosmobahn", den Cortázar zusammen mit seiner Frau, der kanadischen Fotografin Carol Dunlop, verfasste. In dieser originellen Chronik einer Expedition auf der französischen Autobahn des Südens, macht das Paar den Leser zum Komplizen eines Unternehmens, das in der literarischen Tradition der Surrealisten steht und seine Teilnehmer in einen Zustand unverhoffter Leichtigkeit versetzt. Dass totale Freiheit und Ruhe ausgerechnet auf dem Rastplatz einer Autobahn zu finden sind, hätten die Forschungsreisenden zunächst selbst nicht für möglich gehalten.
Bedrängt von "Dämonen", von gesundheitlichen Sorgen und den Widrigkeiten der Pariser Alltagsroutine, fassen Cortázar und Dunlop im Mai 1982 den Entschluss, die Autobahnstrecke Paris-Marseille 33 Tage lang zu erkunden. Als eine Art Spielregel setzten sie fest, jeden Tag zwei Rastplätze anzufahren und jeweils auf dem zweiten zu übernachten. Als Transportmittel und als Gefährte fungiert dabei ein VW-Bus, den sie auf den Namen des Wächters des Nibelungenschatzes taufen: Fafnir. Für Cortázar, der seit seiner Kindheit die Etikettierung von Dingen in Frage stellte, ist er aber schlicht "der Drache". Beobachtungen und Begegnungen halten sie protokollarisch in einem Reisetagebuch fest. Das vorgeblich seriöse Logbuch ihrer empirischen Forschungsexpedition gestalten die Abenteurer - anders als ihre Vorbilder James Cook oder Kolumbus - als literarisches, reichillustriertes Spiel.
Neben Fotografien und den kindlichen Zeichnungen der Rastplätze, die Dunlops Sohn später gemacht hat, findet fast unmerklich ein parallel datierter kleiner Briefroman Carol Dunlops Eingang in den Bericht. Von zwei Verrückten, die auf der Autobahn umherirren, ist da die Rede. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion lässt sich bei Cortázar und Dunlop zuweilen schwer ermessen.
Konkret fassbar wird sie, wenn den Reisenden bald schon Calac und Polanco per Anhalter hinterherfahren, zwei Figuren aus dem Erzähluniversum Cortázars, die sich ausgiebig an ihren Vorräten - vor allem an ihrem Wein - vergreifen. Von Ameisenbissen wird berichtet, einer Ufo-Sichtung, der Verfolgung durch Lastwagenfahrer, Essensplänen, der Erkundung von Hexen-Grabstätten und auch einfach von den Methoden der wagemutigen Forscher, die "Zeit außerhalb der Uhren verfließen zu lassen". Darin liegt womöglich die außergewöhnlichste Leistung innerhalb dieses literarischen Experiments.
Die Leere der Parkplätze im Niemandsland der Schnellstraßen überbrücken sie, indem sie sie füllen und in einem höheren Sinne deuten. Zu verfolgen, wie sie dabei eine Pforte, einen literarischen Durchlass entdecken, der sie dem Raum-Zeit-Kontinuum der öden Alltagswelt entzieht, ist purer Genuss. Die Entdeckung und Eroberung der parallelen Autobahn, des verborgenen mythischen Ortes, ist geglückt - auch für den Leser.
Nachdem sie der Skorbutgefahr entkommen waren und die empirische Existenz von Marseille nachgewiesen war, haben die Dämonen sie doch noch eingeholt. Dass sie dem Alltag entflohen sind, um aus zwei grotesk hässlich bezogenen Campingstühlen ("Geblümte Greuel") heraus die metaphysischen Dimensionen der Autobahn zu erforschen, sollte der argentinische Autor nie bereuen. Nichts habe den Monat außerhalb der Zeit übertreffen können, in dem das Paar zum letzten Mal uneingeschränktes Glück erfuhr. Nicht zuletzt ist dieser grandiose literarische Reisebericht auch das intime, gegenseitige Liebesbekenntnis zweier Gleichgesinnter, die durch Carol Dunlops Tod im November desselben Jahres getrennt wurden. Cortázar blieb gebrochen zurück und litt in den beiden letzten Lebensjahren vor seiner Erkrankung an Leukämie zunehmend unter Depressionen.
Dass der grandísimo cronopio, wie Cortázar in Anlehnung an seine grünen, feuchten literarischen Geschöpfe in der spanischsprachigen Welt von seinen Bewunderern tituliert wird, dieses Reiseglück noch erleben durfte, ist unser aller zeitloser Gewinn.
ELEONOR BENÍTEZ.
Julio Cortázar und Carol Dunlop: "Die Autonauten auf der Kosmobahn." Eine zeitlose Reise Paris-Marseille. Aus dem Spanischen von Wilfried Böhringer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 358 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main