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Von einem anderen Erdteil kehrt Gregor zurück in die Heimat. Das »vormalige Vieldörferland« ist eine städtische Agglomeration geworden, vertraut und zum Verirren fremd zugleich. Auch die Familie hat sich verändert: Zwar wartet der Vater wie früher mit den Spielkarten, doch hat die Schwester überraschend einen Säugling auf dem Arm. Er, der große, ältere Bruder, soll der Taufpate des Kindes werden. Vom jüngeren Bruder Hans bleiben derweil nur die Todesnachricht, vom älteren der Familie verschwiegen, und Erinnerungen, zum Beispiel an den Unfall in den Brennesseln. Selbst der Obstgarten ist ein…mehr

Produktbeschreibung
Von einem anderen Erdteil kehrt Gregor zurück in die Heimat. Das »vormalige Vieldörferland« ist eine städtische Agglomeration geworden, vertraut und zum Verirren fremd zugleich. Auch die Familie hat sich verändert: Zwar wartet der Vater wie früher mit den Spielkarten, doch hat die Schwester überraschend einen Säugling auf dem Arm. Er, der große, ältere Bruder, soll der Taufpate des Kindes werden. Vom jüngeren Bruder Hans bleiben derweil nur die Todesnachricht, vom älteren der Familie verschwiegen, und Erinnerungen, zum Beispiel an den Unfall in den Brennesseln. Selbst der Obstgarten ist ein anderer geworden, noch immer an Ort und Stelle, aber längst nicht mehr zu retten. Es zieht ihn also in die Straßen und Gassen, ins Kino, ins Fußballstadion, in den Wald, und er geht und geht immer weiter.
In Peter Handkes neuem Buch durchdringen sich Gegenwart und Vergangenheit, scheint das eine ins andere zu kippen, steht alles »auf Messers Schneide«. Auf seinem Weg zurück zur Familie, durch einstmals bekannte Landschaften hält der Erzähler immer wieder inne, Kindheitserlebnisse werden wachgerufen, innere Stimmen treten ins Zwiegespräch. Was einmal war, hat sich unwiderruflich verändert - und bleibt dennoch vertraut.
Autorenporträt
Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Die Familie mütterlicherseits gehört zur slowenischen Minderheit in Österreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach Kärnten gekommen. Zwischen 1954 und 1959 besucht Handke das Gymnasium in Tanzenberg (Kärnten) und das dazugehörige Internat. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im März 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschließenden Prüfung abgebrochen, erscheint sein erster Roman Die Hornissen. Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legendären Theaterstücks Publikumsbeschimpfung in Frankfurt am Main in der Regie von Claus Peymann. Seitdem hat er mehr als dreißig Erzählungen und Prosawerke verfasst, erinnert sei an: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970), Wunschloses Unglück (1972), Der kurze Brief zum langen Abschied (1972), Die linkshändige Frau (1976), Das Gewicht der Welt (1977), Langsame Heimkehr (1979), Die Lehre der Sainte-Victoire (1980), Der Chinese des Schmerzes (1983), Die Wiederholung (1986), Versuch über die Müdigkeit (1989), Versuch über die Jukebox (1990), Versuch über den geglückten Tag (1991), Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994), Der Bildverlust (2002), Die Morawische Nacht (2008), Der Große Fall (2011), Versuch über den Stillen Ort (2012), Versuch über den Pilznarren (2013). Auf die Publikumsbeschimpfung 1966 folgt 1968, ebenfalls in Frankfurt am Main uraufgeführt, Kaspar. Von hier spannt sich der Bogen weiter über Der Ritt über den Bodensee 1971), Die Unvernünftigen sterben aus (1974), Über die Dörfer (1981), Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land (1990), Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992), über den Untertagblues (2004) und Bis daß der Tag euch scheidet (2009) über das dramatische Epos Immer noch Sturm (2011) bis zum Sommerdialog Die schönen Tage von Aranjuez (2012) zu Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße (2016). Darüber hinaus hat Peter Handke viele Prosawerke und Stücke von Schriftsteller-Kollegen ins Deutsche übertragen: Aus dem Griechischen Stücke von Aischylos, Sophokles und Euripides, aus dem Französischen Emmanuel Bove (unter anderem Meine Freunde), René Char und Francis Ponge, aus dem Amerikanischen Walker Percy. Sein Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Die Formenvielfalt, die Themenwechsel, die Verwendung unterschiedlichster Gattungen (auch als Lyriker, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur ist Peter Handke aufgetreten) erklärte er selbst 2007 mit den Worten: »Ein Künstler ist nur dann ein exemplarischer Mensch, wenn man an seinen Werken erkennen kann, wie das Leben verläuft. Er muß durch drei, vier, zeitweise qualvolle Verwandlungen gehen.« 2019 wurde Peter Handke mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

Der alte Schwung ist noch nicht hin bei Peter Handke, freut sich Rezensent Eberhard Falcke. Das neue Buch des Nobelpreisträgers folgt wieder einmal einem Gregor, der sich diesmal in seinen Heimatort begibt, wo er von Familienangehörigen erwartet wird. Das Kind seiner Schwester soll getauft werden, erfahren wir, hauptsächlich macht dieser Gregor jedoch, was Handke-Figuren gerne tun: herumschweifen und Beobachtungen machen, die sich zu einer besonderen Form des epischen Schreibens fügen, einem, das wenig mit Erzählung und viel mit einem sich-Verlieren in der Welt zu tun hat. So geht die sich beständig selbst hinterfragende Hauptfigur, heißt es weiter, ins Kino oder auch in den Wald zu einem Bombentrichter, sowie in Kneipen, wo er gerne selbst die letzten Gäste bewirten würde. Trotz solcher Abschlussgedanken liest sich diese Ballade keineswegs wie ein Abschied, so Falcke, das Handke-Schreiben bleibt in Bewegung.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.11.2023

Nichts
wie weg
Seine Sehnsucht nach einem
„Zeitalter des Verschweigens“ schiebt
Peter Handke noch einmal auf mit der
Erzählung „Die Ballade des letzten Gastes“
VON HILMAR KLUTE
Peter Handke hat sich als Erzähler seit einer guten Weile dort eingerichtet, wo er auch als Peter Handke lebt oder zu leben wünscht: an den Rändern der großen Städte, in der Heilswelt halb bewirtschafteter Natur, den Obstgärten, auf den Feldern und in stillen Gasthäusern, wo sich die in alle Welt Verstreuten zum gemeinsamen Festmahl („Mein Jahr in der Niemandsbucht“) oder zum Weltmaultrommeltreffen („Die Morawische Nacht“) einfinden. Stets aufs Neue zelebriert Handke die Abkehr von einem auf Begreiflichkeit und Nutzwirkung ausgerichteten Gebrauchsleben, in dem auch die Sprache zweckdienlich gemacht wird.
Vieles davon ist in Handkes neuer Erzählung „Die Ballade des letzten Gastes“ zu finden, die sich als (mögliche) Heilsgeschichte für das elende Zeitalter der Sprachverschwendung und der unablässigen Vergesellschaftung lesen lässt.
Der Mann, der in diese Welt geworfen ist, heißt Gregor, und weil sein Name zum ersten Mal in verdächtiger Nähe zum Adjektiv keusch auftaucht, möchte man den alten Bekannten Gregor Keuschnig aus der „Stunde der wahren Empfindung“ wiedererkennen, Handkes berühmtem, zum Schlagwort einer ganzen literarischen Epoche gewordenem Roman von 1975. Aber wir haben es, viel später im Text wird es gesagt, mit Gregor Werfer zu tun, der sein Leben als Geologe in einem „fernen Erdteil“ verbracht hat und nun, da sein jüngster Bruder Hans umgekommen ist, in sein Heimatdorf zurückkehren will. Gregor und Hans – das sind auch die Vornamen von zwei Schicksalsmenschen aus Handkes Familie, und auch der lange verschwiegene Tod eines Verwandten gehört in diesen Bezug zur realen Welt. Vom Dorf selbst und seinen angrenzenden Ortschaften ist allerdings wenig übrig geblieben, die Gegend ist zersiedelt, eine Agglomeration, wie der Erzähler sagt. Aus der Familie hat offenbar noch niemand Kenntnis vom Tod des Bruders, auch dass dieser als Fremdenlegionär von einem Kopfschuss niedergestreckt wurde, weiß nur Gregor, der die Nachricht unterwegs erhalten hatte – auf dem „Taschentelefon“ übrigens, die schlimmen Gebrauchswörter werden von Handke umgehend ins sprachlich noch gerade Zumutbare übersetzt. Der wirkliche Anlass für Gregors Besuch in der Kindheitsgegend ist die Geburt seines Neffen. Sophie, die Schwester, habe Wert darauf gelegt, dass Gregor, der dem Bewusstsein der Familie lange entwachsene Bruder, Taufpate des kleinen Jungen werden soll.
Es gibt eine gemeinsame Geschichte Gregors mit seinem jüngeren Bruder Hans, eine aus Missgeschicken und Unglücken bestehende Vergangenheit. Einmal hat Gregor den kleinen Bruder im Kinderwagen, Handke schreibt von einer „Einrad-Schiebetruhe“, in ein Brennnesselfeld rollen lassen, wo sich das Gefährt überschlug und der Ältere hilflos und untätig vor der Misere stand, bis ein Unbekannter den Kleinen, nein: „uns beide“, rettete. Vom Bruder wird gesagt, er sei „Stufe um Stufe abgedriftet zu einer Nimmerwiederkehr“, was für den körperlich zwar heimgekommenen, im Inneren aber entfremdeten Gregor genauso gelten dürfte. Bei einer ihrer gemeinsamen Expeditionen zieht Hans einen Bauplan aus der Tasche, der ein Haus skizziert, dem wesentliche Wohnelemente fehlen, dessen zeichnerische Linie aber gerade und wie einen Rhythmus anschlagend ausfällt. Darum geht es auch in dieser Geschichte, darum geht es seit Langem schon dem Erzähler Handke: Die Sprache und ihre Bewegungen an die Stelle von „Folgerichtigkeiten“ zu setzen, wie es einmal in dieser Geschichte heißt. Ein Satz kommt ihm in den Sinn, Schlagerzeile, Gedicht? „Wie müde und verlassen ich bin.“ Es ist, Handke weiß das sicher besser als sein Werfer, eine Zeile aus Nicolas Borns Gedicht „Bahnhof Lüneburg, 30. April 1976“, nicht ganz korrekt zitiert freilich, aber stets abrufbar, wie auch die Schlager der Schwester, die Heilslieder der Alten.
Aufgeschnapptes und Gelesenes vor sich hin zu summen, ist bei Handkes Helden zur verschrobenen Routine geworden. Auch die zuweilen manisch selbstgefällige Zweifelei, die Gewohnheit, sich selbst ins Wort zu fallen und geläufige Wörter gegen das Licht zu halten, um ihre feinen semantischen Gerippe sichtbar zu machen, sind eingeübte Gesten eines kultivierten Misstrauens in die Lauterkeit der Welt. Es liegt ein eigenartig strenger Reinheitsfuror über dem Text, der möglichst wenig vom Gegenwartsschmutz aufnehmen und dem „Weltinnenraum ,Gedächtnis‘ kein Vermaledeien aufdrängen“ will, wie es schön altertümlich und festlich heißt.
Es gibt eine mehrmals wiederkehrende Beschwörungsformel in dieser neuen Erzählung von Peter Handke, jenen schon aus dem Roman „Langsame Heimkehr“ von 1979 bekannten Refrain: „Komm herbei, Zeitalter des Verschweigens.“ Und es gibt wieder eine Erzählfigur, die sich gelegentlich von der Stimme des Erzählers vertreten lässt, eben jenen Gregor Werfer, einen auf vielen Expeditionen auf anderen Kontinenten zum schweigsamen Geher gewordenen Geologen.
Gesteinsforscher und Formenausdeuter von Landschaftsbildern war auch Valentin Sorger in „Langsame Heimkehr“, als ein „von der Sprache verlassener“ Mann – „nicht allein auf der Welt, sondern allein ohne Welt“, ist er ein enger Verwandter von Gregor Werfer. Überhaupt dient „Die Ballade des letzten Gastes“, wie beinahe alle späten Prosawerke Handkes, auch als Sammelstelle bewährter Handke-Motive und Wort-Exegesen, vage umrahmt von einer Geschichte, die durch gelegentliche Perspektivenwechsel legendenhafte Züge annimmt. Gregor wird in seiner Heimat als notorisch Abwesender geduldet, und so macht er sich, kaum angekommen im Heimatort, wieder auf in die nächste Stadt, übernachtet in Trambahnen, verbringt Nächte im Wald, den er als eine Art Gesamtheit aller erlebten und begangenen Wälder begreifen will, als „Weltwald“ sozusagen. Durch ihn und seine Geheimnisse geht Gregor, der seit Kindertagen auf einem Auge blind ist, wie durch einen naturphilosophischen Lehrpfad (einen „Verlernpfad“ wünscht er sich später einmal). „Auge auf“, ruft er sich oder ruft der Erzähler ihm, Gregor, zu. „Nie wieder Wald!“, heißt es nach der Erkenntnis, dass im Weltwald eben leider auch Platz für Freizeitsportler und Satansröhrlinge ist.
Handke lässt sein um weltliche Unberührtheit bemühtes Erzählen immer wieder hart an die Widerstände der Wirklichkeit stoßen, denn die um Friedensschlüsse und Demokratie bemühte Optimierungsgesellschaft ist seine schon seit Langem ausgemachte Gegnerin: „Die Träumer des Mittelalters, was waren das doch für andere Leute als die Aktivisten der modernen Zeiten“, heißt es im dritten Teil der „Ballade“. Man meint, in vielen Stellen auch den Zorn des nach der Vergabe des Nobelpreises an ihn heftig gescholtenen Peter Handke brodeln zu hören. Und dennoch: Es finden sich schöne Bilder der Weltverlorenheit in dieser Erzählung, aber auch kleine, mitunter heitere Utopien wie die vom Zeitalter der „Letzten Gäste“, aus dem sich eine Gesellschaft ernst zu nehmender Zeitgenossen herausbilden möge, die das Ausharren im Gasthaus nicht mehr den Verrückten und Versoffenen überlassen wollen.
Handkes Komik (Sie existiert wirklich. Gibt es eigentlich darüber schon Dissertationen?) entfaltet sich dort am wirkungsvollsten, wo er über eine gute Strecke hinweg beinahe kernig erzählt, ohne sich allzu sprachverknallt ins Wort fallen zu müssen. Als Gregor vor dem Bett seines „fetten buddhabäuchigen künftigen Patenkindes“ steht, beginnt er, den Säugling derb, aber auch recht originell zu beschimpfen („Furzkaspar“, „dem Vater-,Unbekannt‘-aus dem Gesicht-Geschnittener“), was bei dem Baby großes Amüsement zu wecken scheint. Aber natürlich lautet der Zuruf an sich selbst oder an den Erzähler auch hier schließlich: „Nichts wie weg.“
Weg, von hier nach da, und am Ende wieder zum Anfang? Seine poetischen Ordnungsvorstellungen verweisen den Heimkehrenden auf den einzigen Himmel, der, wenn schon nicht Erlösung, dann immerhin erprobte Verlässlichkeit verspricht, den „Himmel der Sprache“. Wie ein Transparent breitet Handke ihn gegen Ende der Erzählung aus, oder wie eine Kinoleinwand. Noch einmal soll sich das Leben in der zufälligen Beschreibung widerspiegeln: ein Sommerregen, auf dem Asphalt verdampfend, die im Garten tanzenden Mücken, die abends im Haus weitertanzen, Kondensstreifen am Himmel, die in der Bahn lesende Schwarze, der alle Zweige überragende Kronzweig im Wald – das Zeitalter des Verschweigens ist zweifelsfrei das ersehnte, aber noch ist es eben nicht so weit. Und bis dahin geht es für Handke weiter darum, das Recht der Literatur auf sich selbst zu beweisen.
Handke übersetzt die
schlimmen Gebrauchswörter.
Es heißt dann „Taschentelefon“
Gibt es eigentlich schon
Dissertationen über
Handkes Komik?
„Wie müde und verlassen ich bin“: Lied- und Gedichtzeilen fliegen Peter Handkes Erzähler von ferne an. Wie diese, nicht ganz korrekt zitierte, von Nicolas Born.
Foto: CESAR CABRERA
Peter Handke: Die Ballade des letzten Gastes.
Suhrkamp, Berlin 2023.
185 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2023

Der Letzte an der Bar

Phantasien des Widerstands: Peter Handkes "Ballade des letzten Gastes" ist ein Spätwerk gegen das Gewicht der Welt.

Von Jan Wiele

Während der Journalismus vielerorts Tiefpunkte seiner Geschichte erreicht, heruntergekommen zur Bedienung billiger Reize, zunehmend erstarrt zu Kachelsprüchen in Agentursprache, während der Mensch neben einem mit großem Ernst "kostenneutral", "Stand jetzt" oder "Wir müssen noch mal über das Wording nachdenken" in sein Telefon sagt: In dieser Lage ein Buch von Peter Handke aufzuschlagen wirkt fast wie ein Akt des Widerstands. Eines Widerstands gegen die festgelegte Sprache, den er tapfer weiter leistet, eines Widerstands gegen die Vereinnahmung des Einzelnen, der sich als einsamer Geher an den Rändern (und manchmal auch jenseits von jedem) dem Herdentrieb beständig entzieht, auch mit über achtzig Jahren noch, auch in seinem neuen Buch mit dem Titel "Die Ballade des letzten Gastes".

Wer Handkes Prosa nicht mag, wird darin seine Abneigung nur bestätigt finden; wer Handkes Prosa mag, findet fröhlich "more of the same" darin. "Er war im Leben immer wieder in die Irre gegangen, schon von Kindesbeinen an." Und: "Lieber Umwege nehmen, und möglichst spät, am liebsten erst in der tiefen Dämmerung heimkommen, oder überhaupt nicht eintreten in das doch wie einladend illuminierte Haus." Kennt man das nicht irgendwoher? Ist das nicht aus einem anderen, früheren Handke, könnte es nicht auch in "Langsame Heimkehr" stehen, in "Mein Jahr in der Niemandsbucht" oder in "Die Obstdiebin"? Ja, ohne Weiteres. Und noch viel mehr aus diesen und anderen Werken kommt einem hier bekannt vor, kehrt leicht verändert wieder wie in Versionen eines Lieds.

Die "Ballade des letzten Gastes", die natürlich keine im engeren Genre-Sinne ist, sondern ein Stück lyrischer, mit viel Literaturgeschichte angereicherter Journalprosa, hat eine vertraute Melodie und handelt von Busbahnhöfen, Ackerfurchen, Hochhäusern, Obstwiesen, Umgehungsstraßen, von der "großen Agglomeration im ehemaligen Vieldörferland", von Kino-Erinnerungen, Gedankenspielen und Albträumen, kleinen und größeren Wutausbrüchen; sie variiert zudem poetologische Lebensthemen Handkes. Gleich zu Beginn fühlt man sich an seine Büchnerpreisrede von 1973 erinnert, in der er unter Bezug auf Thomas Bernhard sagte, wenn ihm beim Schreiben auch nur der Ansatz eines Begriffs auftauche, weiche er aus "in eine andere Richtung, in eine andere Landschaft, in der es noch keine Erleichterungen und Totalitätsansprüche durch Begriffe gibt".

Nur wenig abgewandelt heißt es in der "Ballade" nun in Bezug auf Bilder: "Nur keine Bilder, und vor allem keine festumrissenen! Und wenn er doch dann und wann etwas 'Bildartiges' witterte, das ihn gleichsam hinterrücks anzufliegen drohte, tat er, in seinem Innern jedenfalls, einen Seiten- und Ausweichschritt wie auf einer Tanzfläche oder in einer Arena, und vorbei schoß der Bildpfeil." Das wiederum erinnert daran, dass Handke auch schon einen ganzen, sehr langen Roman namens "Der Bildverlust" geschrieben hat.

Er ist noch immer ein großer Ausweicher vor Bildern und Begriffen, der eben diesen Vorgang zu beschreiben zu seiner "Chronistenpflicht" macht, und wie schon in Bezug auf "Die Obstdiebin" (F.A.Z. vom 16. November 2017) kommt man nicht umhin zu fragen, ob Handkes Werk womöglich ein einziger, langer Traum ist, immer wieder sich verschiebend und verdichtend. Die "Ballade" ist dennoch besonders: Mehr als irgendetwas von Handke zuvor hat sie den Charakter eines Spätwerks, das die Vorstellung, "der Letzte zu sein", fast obsessiv variiert: in der nächtlich kreisenden Straßenbahn, an der Bar, auf dem Planeten.

In Schwarz ist das Buch getaucht; das erinnert an Johnny Cash oder Leonard Cohen am Ende ihres Weges. In der Erinnerungsjukebox des Handke-Erzählers, der hier Gregor heißt (aber nicht Keuschnig, sondern Werfer), stecken indes alte Schlager - denn dieses Buch handelt von einer Heimkehr zur Familie und teils auch in die Fünfzigerjahre. "Wir wollen niemals auseinandergehen": Das singen Mutter und Schwester gemeinsam in einer Szene aus der Kindheit, auch zittert der Erzähler bisweilen mit Grillparzer vor der "Begierde nach dem Zusammenhang", und doch ist und bleibt er einsamer Streuner. Nicht nur hat er keine Kinder, er ist auch nicht fähig, ein Kind zu berühren: So stark die Freiheit von Handkes Hobos oft beeindruckt, so sehr fragt man sich insbesondere in diesem Buch auch, ob sie in gewisser Weise lebensuntüchtig sind.

Das würde Handkes Erzähler womöglich auch gar nicht abstreiten, wobei er eben sein Glück im Alleinsein sucht. Schon als junger Mann kommt er nur noch für eine Woche im Jahr in die Heimat zurück, und als er, viel später, dabei einmal auch die Nachricht vom Kriegstod seines Bruders in der Fremdenlegion den Angehörigen überbringen muss, ist er ebenso überfordert wie einst mit der Patenschaft für das Kind seiner Schwester. Geschickt führt Handke in seiner Erzählung verschiedene Zeitebenen eng, was einen öfter rätseln lässt, in welcher man sich gerade befindet.

Bei aller Wut auf die Welt, die sich hier auch wieder in absurden, also spielerischen Schimpftiraden ausdrückt (das Kleinkind nennt der Erzähler "Furzkaspar" und "Speiteufel"; angesichts einer erotischen Kinoszene, die ihm nicht gefällt, fordert er die Einführung einer Diktatur, die so etwas verbietet), ist dem gealterten Troubadour aber auch ein Bedauern anzumerken, eine Erkenntnis des durch sein lebenslanges Fluchtverhalten Verpassten.

Es ist ein Buch der Trauerarbeit, das sich, springend auch durch verschiedene Erzählperspektiven, zur Chronik des verstorbenen Bruders, zu einer, wenn auch sehr untypischen Familienchronik mausert. Die Heimkehr-Thematik wird mit den Irrfahrten des Odysseus verbunden, und bei allen augenfälligen Unterschieden kann Handkes Erzähler auch, wenngleich manchmal nur in der Phantasie, zum Berserker werden. So wie manche Menschen ja lieber etwas zerstören, was sie oder ihre Vorfahren schon über lange Zeit aufgebaut haben, als es den Falschen zu hinterlassen, will "Gregor, der Letzte" einmal schon losberserkern und den alten Obstgarten mit der Motorsäge niedermähen. Das ist belustigend und traurig zugleich. Man bewundert an diesem bei aller Vertrautheit überraschenden, hakenschlagenden Buch abermals die große Unabhängigkeit des einsamen Wandersmannes, während man gleichzeitig erkennt, welchen Preis er für seine Art des Widerstandes bezahlen muss.

Peter Handke: "Die Ballade des letzten Gastes".

Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 186 S., geb., 24,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Staunend fragt man sich als Leser, wie er das wieder hinbekommen hat, dieser Handke, mit seinen fein ausdifferenzierten Sätzen und fein verästelten Wahrnehmungsgespinsten.« Carsten Otte SWR-Bestenliste 20231203