Im Jahre 1918 begegneten sich nördlich von Hannover, im berüchtigten 'Celle Lager Scheuen' drei internierte italienische Offiziere: der Dramatiker Ugo Betti, der Schriftsteller Carlo Emilio Gadda und der Germanist Bonaventura Tecchi. Ihr leidenschaftliches Interesse für Literatur und der daraus entstehende Austausch half den drei Schicksalsgenossen, die Entbehrungen der Gefangenschaft zu überstehen.Fast 100 Jahre später liegen Gaddas Gefangenentagebuch und Tecchis Prosaporträts 'Baracca 15c' nun erstmals auf Deutsch vor und dokumentieren eindrücklich und bewegend die Zeit dieser Lagerhaft, die ihre Biografien entscheidend geprägt hat.'Celle-Lager war nach allgemeinem Bekunden eines der härtesten unterden deutschen und österreichischen Gefangenenlagern, die im ErstenWeltkrieg den italienischen Offizieren vorbehalten waren.'Bonaventura Tecchi'Die vorsätzlichen deutschen Repressalien sind sehr hart.: Man zittert im feuchten Wind, während die Deutschen gemütlich plaudern und ihre Späße machen. - Es herrscht eine absolute, strenge Grußpflicht gegenüber den deutschen Offizieren; sie zu vernachlässigen brächte die Zuwiderhandelndenins Gefängnis.'Carlo Emilio Gadda
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Tief beeindruckt berichtet Maike Albath von diesen im Deutschen bisher nicht vorliegenden Aufzeichnungen Gaddas aus dem Ersten Weltkrieg, die zudem noch hervorragend ediert und übersetzt seien. Sie schildert den Zusamennhang, den späten Kriegseintritt Italiens und den schrecklichen Kriegsverlauf, der auf italienischer Seite schon in den ersten Monaten Hunderttausende Menschenleben forderte. Gadda verschlug es in die Kriegsgefangenschaft nach Celle bei Hannover, ein Städtchen "in eintöniger Landschaft mit aschgrauem Himmel". Albath empfiehlt seine Tagebücher als einen packenden Einblick in das Geschehen des Ersten Weltkriegs,aber auch als eine frühen Blick in das Werk Gaddas, den sie für seine grandiosen späteren Werke überaus schätzt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2015Schneidende Urteile
Italienische Dichter trafen sich 1918 im Lager in Celle
Celle-Lager 1918. In der Lüneburger Heide teilen drei kriegsgefangene italienische Offiziere, die später allesamt als Dichter hervorgetreten sind, für viele Monate den Lageralltag miteinander und schließen Bekanntschaft: der Dramatiker Ugo Betti, der Germanist Bonaventura Tecchi und der Romancier Carlo Emilio Gadda. Die beiden Letzteren haben Aufzeichnungen darüber hinterlassen, die nun erstmals ins Deutsche übertragen wurden.
Carlo Emilio Gadda, der bedeutendste der drei, fällt in seinem Tagebuch schneidende Urteile und beklagt selbst seinen schwierigen Charakter, den fast jede Zeile belegt. Das ruhmlose Erscheinungsbild der italienischen Armee und seine eigene erzwungene Untätigkeit schmerzen den glühenden Patrioten zutiefst, das Preußentum der Deutschen verachtet er und bewundert es doch klammheimlich. Immer wieder drehen sich die Aufzeichnungen um die erbärmliche Versorgung mit Lebensmitteln, die durch Zusendungen aus der Heimat immerhin gelindert wird.
Dass dies im letzten Kriegsjahr in Deutschland Alltag ist, ist Gadda sichtlich nicht bewusst. Besonders interessant sind die Einträge aus der Zeit nach Kriegsende, zum Beispiel die Besuche im Ort Celle, zog sich doch das Lagerleben noch einige Wochen hin, bis genügend Transportkapazität für alle Soldaten zur Verfügung stand. Fast schon mitleidsvoll ist jetzt der Blick auf die besiegten Deutschen. Reizvoll ist der Vergleich mit den Betrachtungen, die Bonaventura Tecchi 1956 in seinem Büchlein "Baracca 15c" im Rückblick angestellt hat. Sehr viel ausgewogener und altersmilde schildert Bonaventura Tecchi hier den einstigen Lageralltag, wohl wissend, dass ihnen als Offizieren noch manche Privilegien im Vergleich zu den einfachen Soldaten eingeräumt wurden und dass der Begriff Lager im folgenden Krieg noch ganz andere Umsetzungen erfahren hat. Ein reicher dokumentarischer Anhang beschließt das lesenswerte Buch.
THOMAS MEISSNER.
Oskar Ansull (Hrsg.): "Die Baracke der Dichter. Carlo Emilio Gadda und Bonaventura Tecchi im Celle-Lager 1918. Texte aus der Kriegsgefangenschaft". Zu Klampen Verlag, Springe 2014. 293 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Italienische Dichter trafen sich 1918 im Lager in Celle
Celle-Lager 1918. In der Lüneburger Heide teilen drei kriegsgefangene italienische Offiziere, die später allesamt als Dichter hervorgetreten sind, für viele Monate den Lageralltag miteinander und schließen Bekanntschaft: der Dramatiker Ugo Betti, der Germanist Bonaventura Tecchi und der Romancier Carlo Emilio Gadda. Die beiden Letzteren haben Aufzeichnungen darüber hinterlassen, die nun erstmals ins Deutsche übertragen wurden.
Carlo Emilio Gadda, der bedeutendste der drei, fällt in seinem Tagebuch schneidende Urteile und beklagt selbst seinen schwierigen Charakter, den fast jede Zeile belegt. Das ruhmlose Erscheinungsbild der italienischen Armee und seine eigene erzwungene Untätigkeit schmerzen den glühenden Patrioten zutiefst, das Preußentum der Deutschen verachtet er und bewundert es doch klammheimlich. Immer wieder drehen sich die Aufzeichnungen um die erbärmliche Versorgung mit Lebensmitteln, die durch Zusendungen aus der Heimat immerhin gelindert wird.
Dass dies im letzten Kriegsjahr in Deutschland Alltag ist, ist Gadda sichtlich nicht bewusst. Besonders interessant sind die Einträge aus der Zeit nach Kriegsende, zum Beispiel die Besuche im Ort Celle, zog sich doch das Lagerleben noch einige Wochen hin, bis genügend Transportkapazität für alle Soldaten zur Verfügung stand. Fast schon mitleidsvoll ist jetzt der Blick auf die besiegten Deutschen. Reizvoll ist der Vergleich mit den Betrachtungen, die Bonaventura Tecchi 1956 in seinem Büchlein "Baracca 15c" im Rückblick angestellt hat. Sehr viel ausgewogener und altersmilde schildert Bonaventura Tecchi hier den einstigen Lageralltag, wohl wissend, dass ihnen als Offizieren noch manche Privilegien im Vergleich zu den einfachen Soldaten eingeräumt wurden und dass der Begriff Lager im folgenden Krieg noch ganz andere Umsetzungen erfahren hat. Ein reicher dokumentarischer Anhang beschließt das lesenswerte Buch.
THOMAS MEISSNER.
Oskar Ansull (Hrsg.): "Die Baracke der Dichter. Carlo Emilio Gadda und Bonaventura Tecchi im Celle-Lager 1918. Texte aus der Kriegsgefangenschaft". Zu Klampen Verlag, Springe 2014. 293 S., geb., 24,- [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.05.2015In der Ödnis des deutschen Sandes
Der Weltkrieg als Katastrophe Italiens: Carlo Emilio Gadda und Bonaventura Tecchi im Celle-Lager 1918
Am 20. September 1918 besuchte Eugenio Pacelli, damals Apostolischer Nuntius in Bayern, das Kriegsgefangenenlager in Scheuen bei Celle in Niedersachsen. Es war nicht irgendein Tag. Am 20. September 1870 hatten italienische Truppen Rom eingenommen und den Kirchenstaat in den noch jungen Nationalstaat Italien integriert. Italienische Kriegsgefangene hatten ein aufwendiges Festprogramm organisiert, mit Ausstellungen, Sportwettkämpfen und Theateraufführungen.
Ein italienischer Offizier hielt in seinem Tagebuch die Ankunft von Monsignore Pacelli fest, „dem ersten Italiener, der als Nichtgefangener seinen Fuß ins Cellelager setzt“. Der Offizier war noch drei Tage später mit der Aufzeichnung über den 20. September, den Auftritt und die Ansprache des Nuntius beschäftigt: „Er ist groß, schlank, mit Brille, trägt einen Priesterhut aus glattem Filz, aber kleiner und runder als die üblichen und mit einer grünen und goldenen Kordel verziert; dünne und spitze Nase; schwarze Soutane. Er öffnet einen dunkelbraunen Schirm à la Landpfarrer; er hat kein geistliches Gefolge. Im Laufschritt geht alles zur Kirche; die italienischen Offiziere, das übliche Gedränge um ihn und hinter ihm wie eine Schafsherde.“
Das klingt distanziert, und ausdrücklich hatte sich der Tagebuchschreiber vorgenommen, aus der Perspektive eines Zuschauers zu schreiben. Aber dann treten ihm während der Ansprache des Nuntius, der den apostolischen Segen des Papstes Benedikt XV. überbringt (und, was der Offizier nicht wissen kann, ab 1939 als Pius XII. selbst Papst sein wird), doch die Tränen in die Augen. Der Offizier schreibt: „Ich habe alles erlitten, die Armut, den Tod des Vaters, Demütigung, Krankheit, Schwäche, die Ohnmacht des Leibes und der Seele, die Angst, den Hohn, um in Karfreit zu enden, am Ende aller Enden. Ich habe keine Liebe erfahren und auch sonst nichts. Die Intelligenz dient mir nur dazu, zu betrachten und zu leiden. Der Elan des Traums, die Liebe zum Vaterland und zur Gefahr, meine Begeisterung für den Krieg haben mich zu einem ungeheuerlichen Leiden geführt, zu einer geistigen Entstellung, die ihresgleichen sucht. Mit der Intensität eines Asketen spürte ich in diesem Moment die Leere, die schreckliche Leere meines Lebens, seine Kürze, sein Ende.“
Carlo Emilio Gadda, 1893 in Mailand geboren, war knapp 25, als er diesen Eintrag in seinem Gefangenentagebuch verfasste. Ein Schriftsteller war er noch nicht, zitierte aber gerne Dante und Vergil. Seine Artikel für die Lagerzeitung der Italiener gefielen ihm selber nicht. Aber sein Tagebuch ist im doppelten Sinne eine Quelle seiner Autorschaft, die ihn – vor allem mit den Romanen „Die grässliche Bescherung in der Via Merulana“ (1957) und „Die Erkenntnis des Schmerzes“ (1963) – zu einem der weltliterarisch bedeutsamen Repräsentanten der italienischen Moderne werden ließ.
Eine Quelle im doppelten Sinne, weil dieses Tagebuch sowohl die Erfahrung festhält, die am Ursprung der Autorschaft Gaddas steht, wie den Versuch, eine Sprache für diese Erfahrung zu finden, die sich in einem Ortsnamen verdichtet: Karfreit. An diesem Ort an der Alpenfront im heutigen Slowenien, italienisch Caporetto, hatte Italien in der 12. Isonzoschlacht im Spätherbst 1917 eine der großen Niederlagen des Ersten Weltkrieges erlitten. Sie war so groß und verlustreich, dass sie stärker in die Nachkriegszeit ausstrahlte als der Umstand, dass Italien am Ende zu den Siegermächten gehörte. Und auch dieser „Sieg“ hatte längst nicht erbracht, was sich die Protagonisten des Großmachtstrebens beim Eintritt in den Krieg vor 100 Jahren, am 23. Mai 1915 erhofft hatten.
Mit welcher propagandistischen Verve die Futuristen und der Dichter Gabriele d’Annunzio nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs die Neutralitätspolitik Italiens attackierten und dann die Kriegserklärung an Österreich-Ungarn forderten, ist auch in Deutschland nicht unbekannt. Weniger bekannt ist, wie die Niederlage von Caporetto zu einem Schlüsselsymbol der italienischen Nachkriegskultur wurde. Curzio Malaparte, Jahrgang 1898, deutete die Auflösungserscheinungen im italienischen Heer als Generalstreik der Infanteristen – und näherte sich dem Faschismus an. Auch Gadda, der bei Caporetto in Gefangenschaft geraten war, trat 1921 der faschistischen Partei bei. In seinen Tagebüchern aus dem Celle-Lager lässt sich der Versuch nachlesen, der Kriegsbegeisterung und dem Aufschwung der italienischen Nation noch am Tiefpunkt der Desillusionierung treu zu bleiben.
Wie Gadda wurde der Arztsohn und Jurist Ugo Betti (1892-1953) in der „Ödnis des deutschen Sandes“ – so nannte Gadda das Celle-Lager – zum Autor. Bonaventura Tecchi (1896-1968), auch er als Kämpfer der „Alpini“ in Gefangenschaft gekommen, später einer der bedeutenden Germanisten Italiens, begann hier seinen Roman „Der Name im Sand“ (1924) zu schreiben. Gaddas und Tecchis Aufzeichnungen sind nun erstmals auf deutsch zu lesen, freilich eingebettet in eine Edition, die sich zwischen Einordnung der Tagebücher in den italienischen Kontext und Einordnung in die Lokalgeschichte des Celle-Lagers nicht recht entscheiden mag. Aber gut, dass es die Texte jetzt gibt.
LOTHAR MÜLLER
Carlo Emilio Gadda / Bonaventura Tecchi: Die Baracke de Dichter. Italienische Kriegsgefangene im Celle-Lager 1918. Herausgegeben von Oskar Ansull. Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend und Ulrike Stopfel. Zu Klampen Verlag, Springe 2014.
293 Seiten, 24 Euro.
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Der Weltkrieg als Katastrophe Italiens: Carlo Emilio Gadda und Bonaventura Tecchi im Celle-Lager 1918
Am 20. September 1918 besuchte Eugenio Pacelli, damals Apostolischer Nuntius in Bayern, das Kriegsgefangenenlager in Scheuen bei Celle in Niedersachsen. Es war nicht irgendein Tag. Am 20. September 1870 hatten italienische Truppen Rom eingenommen und den Kirchenstaat in den noch jungen Nationalstaat Italien integriert. Italienische Kriegsgefangene hatten ein aufwendiges Festprogramm organisiert, mit Ausstellungen, Sportwettkämpfen und Theateraufführungen.
Ein italienischer Offizier hielt in seinem Tagebuch die Ankunft von Monsignore Pacelli fest, „dem ersten Italiener, der als Nichtgefangener seinen Fuß ins Cellelager setzt“. Der Offizier war noch drei Tage später mit der Aufzeichnung über den 20. September, den Auftritt und die Ansprache des Nuntius beschäftigt: „Er ist groß, schlank, mit Brille, trägt einen Priesterhut aus glattem Filz, aber kleiner und runder als die üblichen und mit einer grünen und goldenen Kordel verziert; dünne und spitze Nase; schwarze Soutane. Er öffnet einen dunkelbraunen Schirm à la Landpfarrer; er hat kein geistliches Gefolge. Im Laufschritt geht alles zur Kirche; die italienischen Offiziere, das übliche Gedränge um ihn und hinter ihm wie eine Schafsherde.“
Das klingt distanziert, und ausdrücklich hatte sich der Tagebuchschreiber vorgenommen, aus der Perspektive eines Zuschauers zu schreiben. Aber dann treten ihm während der Ansprache des Nuntius, der den apostolischen Segen des Papstes Benedikt XV. überbringt (und, was der Offizier nicht wissen kann, ab 1939 als Pius XII. selbst Papst sein wird), doch die Tränen in die Augen. Der Offizier schreibt: „Ich habe alles erlitten, die Armut, den Tod des Vaters, Demütigung, Krankheit, Schwäche, die Ohnmacht des Leibes und der Seele, die Angst, den Hohn, um in Karfreit zu enden, am Ende aller Enden. Ich habe keine Liebe erfahren und auch sonst nichts. Die Intelligenz dient mir nur dazu, zu betrachten und zu leiden. Der Elan des Traums, die Liebe zum Vaterland und zur Gefahr, meine Begeisterung für den Krieg haben mich zu einem ungeheuerlichen Leiden geführt, zu einer geistigen Entstellung, die ihresgleichen sucht. Mit der Intensität eines Asketen spürte ich in diesem Moment die Leere, die schreckliche Leere meines Lebens, seine Kürze, sein Ende.“
Carlo Emilio Gadda, 1893 in Mailand geboren, war knapp 25, als er diesen Eintrag in seinem Gefangenentagebuch verfasste. Ein Schriftsteller war er noch nicht, zitierte aber gerne Dante und Vergil. Seine Artikel für die Lagerzeitung der Italiener gefielen ihm selber nicht. Aber sein Tagebuch ist im doppelten Sinne eine Quelle seiner Autorschaft, die ihn – vor allem mit den Romanen „Die grässliche Bescherung in der Via Merulana“ (1957) und „Die Erkenntnis des Schmerzes“ (1963) – zu einem der weltliterarisch bedeutsamen Repräsentanten der italienischen Moderne werden ließ.
Eine Quelle im doppelten Sinne, weil dieses Tagebuch sowohl die Erfahrung festhält, die am Ursprung der Autorschaft Gaddas steht, wie den Versuch, eine Sprache für diese Erfahrung zu finden, die sich in einem Ortsnamen verdichtet: Karfreit. An diesem Ort an der Alpenfront im heutigen Slowenien, italienisch Caporetto, hatte Italien in der 12. Isonzoschlacht im Spätherbst 1917 eine der großen Niederlagen des Ersten Weltkrieges erlitten. Sie war so groß und verlustreich, dass sie stärker in die Nachkriegszeit ausstrahlte als der Umstand, dass Italien am Ende zu den Siegermächten gehörte. Und auch dieser „Sieg“ hatte längst nicht erbracht, was sich die Protagonisten des Großmachtstrebens beim Eintritt in den Krieg vor 100 Jahren, am 23. Mai 1915 erhofft hatten.
Mit welcher propagandistischen Verve die Futuristen und der Dichter Gabriele d’Annunzio nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs die Neutralitätspolitik Italiens attackierten und dann die Kriegserklärung an Österreich-Ungarn forderten, ist auch in Deutschland nicht unbekannt. Weniger bekannt ist, wie die Niederlage von Caporetto zu einem Schlüsselsymbol der italienischen Nachkriegskultur wurde. Curzio Malaparte, Jahrgang 1898, deutete die Auflösungserscheinungen im italienischen Heer als Generalstreik der Infanteristen – und näherte sich dem Faschismus an. Auch Gadda, der bei Caporetto in Gefangenschaft geraten war, trat 1921 der faschistischen Partei bei. In seinen Tagebüchern aus dem Celle-Lager lässt sich der Versuch nachlesen, der Kriegsbegeisterung und dem Aufschwung der italienischen Nation noch am Tiefpunkt der Desillusionierung treu zu bleiben.
Wie Gadda wurde der Arztsohn und Jurist Ugo Betti (1892-1953) in der „Ödnis des deutschen Sandes“ – so nannte Gadda das Celle-Lager – zum Autor. Bonaventura Tecchi (1896-1968), auch er als Kämpfer der „Alpini“ in Gefangenschaft gekommen, später einer der bedeutenden Germanisten Italiens, begann hier seinen Roman „Der Name im Sand“ (1924) zu schreiben. Gaddas und Tecchis Aufzeichnungen sind nun erstmals auf deutsch zu lesen, freilich eingebettet in eine Edition, die sich zwischen Einordnung der Tagebücher in den italienischen Kontext und Einordnung in die Lokalgeschichte des Celle-Lagers nicht recht entscheiden mag. Aber gut, dass es die Texte jetzt gibt.
LOTHAR MÜLLER
Carlo Emilio Gadda / Bonaventura Tecchi: Die Baracke de Dichter. Italienische Kriegsgefangene im Celle-Lager 1918. Herausgegeben von Oskar Ansull. Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend und Ulrike Stopfel. Zu Klampen Verlag, Springe 2014.
293 Seiten, 24 Euro.
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Eine beeindruckende Geste des Erinnerns: Gaddas Gefangenentagebuch und die Prosaskizzen von Tecchi dokumentieren eindrücklich und bewegend Zeit und Umstände ihrer Internierung. Rolf-Dieter Diehl in: Cellesche Zeitung, 1. Oktober 2014