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1949 wird der Arzt Julius Brunner der gewerbsmäßigen Abtreibung angeklagt. Er hat es als seine Lebensaufgabe betrachtet, anderen Menschen zu helfen. Auch der jungen Kellnerin, die schwanger wurde von einem Mann, der längst mit einer anderen verlobt war. Mit 74 Jahren muss Julius Brunner monatelang zur Abklärung in die Heilanstalt und rettet sich dort mit imaginären Fahrten in einem Heißluftballon und mit Abenteuergeschichten, die er für seine Enkelin erfindet. Verena Stefan hat einen berührenden und humorvollen Roman über ihren Großvater geschrieben. Gestützt auf ihre Erinnerung sowie…mehr

Produktbeschreibung
1949 wird der Arzt Julius Brunner der gewerbsmäßigen Abtreibung angeklagt. Er hat es als seine Lebensaufgabe betrachtet, anderen Menschen zu helfen. Auch der jungen Kellnerin, die schwanger wurde von einem Mann, der längst mit einer anderen verlobt war. Mit 74 Jahren muss Julius Brunner monatelang zur Abklärung in die Heilanstalt und rettet sich dort mit imaginären Fahrten in einem Heißluftballon und mit Abenteuergeschichten, die er für seine Enkelin erfindet. Verena Stefan hat einen berührenden und humorvollen Roman über ihren Großvater geschrieben. Gestützt auf ihre Erinnerung sowie Originalzitate der Justiz und Psychiatrie, erzählt sie von seinem ungewöhnlichen Leben und ihrer wunderbaren Zuneigung.
Autorenporträt
Verena Stefan, 1947 in Bern geboren, ließ sich zur Physiotherapeutin ausbilden und studierte Soziologie sowie vergleichende Religionswissenschaften in Berlin. 1972 war sie Mitgründerin der feministischen Gruppierung "Brot und Rosen". 1975 erschien ihr erstes Buch "Häutungen" und machte sie international bekannt. Das autobiographisch geprägte Werk wurde zum Kultbuch der feministischen Bewegung. Stefans Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, etwa 1988 und 1994 mit dem Buchpreis der Stadt Bern und 2008 mit dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung für ihren Roman "Fremdschläfer". Seit 1998 lebt Stefan in Montreal, Kanada.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Mit ihrem Roman "Die Befragung der Zeit" legt Verena Stefan nach Meinung vpn Martina Läubli ein "Stück Schweizer Rechtsgeschichte" vor. Assoziativ und die Linearität der Zeit wie der Stimmen aufbrechend, erzählt die Autorin die beengende Geschichte ihres Großvaters, dem Landarzt Brunner, der 1949 wegen des Vorwurfs, illegale Abtreibungen vorgenommen zu haben, in die 'Irrenanstalt Waldau' eingeliefert wurde, fasst Läubli zusammen. Konstruiert aus historischen Dokumenten, scharfsinnigen medizinischen Beobachtungen und einer beeindruckenden Stimmenvielfalt, so die Rezensentin, entsteht vor dem Leser eine spannende und zugleich ergreifende Geschichte um Abtreibung, Moral und familiäres Unglück.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.06.2014

Eine Frauensache
Verena Stefans Roman "Die Befragung der Zeit"

Leben in Literatur zu verwandeln ist keine leichte Übung. Wie es gelingen kann, für das eigene Erleben Worte zu finden, die über das Private hinausweisen, zeigte die 1947 in Bern geborene, heute in Montreal lebende Verena Stefan 1975 schon mit ihrem ersten Buch "Häutungen". Stefans Versuch, ihr körperliches und sexuelles Erleben in eine radikal subjektive Sprache zu übersetzen, die sich vom männlichen Blick auf den weiblichen Körper und dem männlich dominierten Sprechen darüber zu emanzipieren versuchte, wurde zu einem in mehrere Sprachen übersetzten Bestseller. "Häutungen" gilt bis heute als Kultbuch der Frauenbewegung.

Der Text ist nicht gänzlich frei vom Jargon seiner Entstehungszeit und von einer manchmal peinlich berührenden Intimität, deren Ausmaß vergleichbar ist mit dem von Wolfgang Herrndorfs "Arbeit und Struktur" oder Christoph Schlingensiefs "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein". Dennoch macht der Anspruch, den Zusammenhang von Sprache und Körperwahrnehmung zu erforschen, das Buch noch immer lesenswert. Auch in "Es ist reich gewesen" (1993), dem Bericht vom Sterben ihrer Mutter, oder in "Fremdschläfer" (2003), über ihre Krebserkrankung, ist dieser Zusammenhang das Feld von Stefans schreibendem Erkunden. Seit dem Debüt hat der Reflexionsgrad zugenommen, während das Bekenntnishafte immer weiter in den Hintergrund rückte.

In "Die Befragung der Zeit" ist der autobiographisch grundierte Kern nur noch Ausgangspunkt für eine freie Rekonstruktion der Lebensgeschichte von Stefans Großvater: "Mein Großvater starb, als ich fünf Jahre alt war. Aus der Erinnerung an ein Lebensgefühl, das in heiße Sommer eingebettet war, aus den Erzählungen der Familie und einigen Hinweisen aus den Tagebüchern meiner Mutter habe ich sein Leben erfunden und Kunstfiguren geschaffen, die eine fiktive Familie bilden." Die Familie im Roman ist die des Schweizer Dorfarztes, der hier auf den Namen Julius Brunner hört. Im Sommer 1949 wird der gealterte, an Herzschwäche leidende Arzt aufgrund des Verrats einer Patientin der gewerbsmäßigen Abtreibung angeklagt und in die Berner Heil- und Pflegeanstalt Waldau eingeliefert. Dort will man seine Zurechnungsfähigkeit überprüfen. Brunner muss sich quälenden Befragungen und Assoziationstests unterziehen.

Um der bedrückenden Atmosphäre zu entkommen, denkt er sich für seine Enkelin Rosa Geschichten über den Luftfahrtpionier Spelterini aus. Der Ballonfahrer, der in Brunners Phantasie gleich dem Luftschiffer Giannozzo aus Jean Pauls "Titan" eine neue Sicht auf die Welt erfährt, ist eine Identifikationsfigur für den Arzt, der verzweifelten Frauen half, aber die Notlage der Frauen auch ausgenutzt hat, um seine Finanzen aufzubessern.

Stefan montiert ihre Imaginationen mit Textpassagen aus der Akte des Großvaters, die im Staatsarchiv des Kantons Bern aufbewahrt wird und auf achthundert Seiten in trockener Amtssprache den Prozess, die Verhöre des Arztes und der Frauen dokumentiert, die aus der zeitlichen Distanz nicht nur durch ihre Sprache, sondern auch durch das Gesagte irritierend antiquiert, fast mittelalterlich klingen. Die Dokumente zeigen, mit welcher Härte sowohl gegen Frauen vorgegangen wurde, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen ließen, als auch gegen diejenigen, die Abtreibungen durchführten.

Die Befragung der Zeit beschränkt sich aber nicht auf den historischen Wandel im Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen. Julius Brunners Erzählungen vom Luftfahrtpionier Spelterini meditieren über menschliche Zeitwahrnehmung. Und sie legen in der Enkelin den Keim, die Welt und menschliches Handeln von einer übergeordneten Warte aus zu betrachten und eine eigene Sprache zu finden. Die literarische Begeisterung von Brunners Tochter Lina richtet sich im Roman auf die Gedichte Rilkes. Aus Verena Stefan, dem realen Vorbild von Brunners Enkelin Rosa, ist nach dem Tod des Großvaters selbst eine Literatin geworden.

BEATE TRÖGER.

Verena Stefan: "Die Befragung der Zeit". Roman. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2014. 224 S., geb., 18,90 [Euro].

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