Produktdetails
- Verlag: Ammann
- ISBN-13: 9783250105084
- ISBN-10: 3250105082
- Artikelnr.: 22812289
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2007Alle Lust will Ewigkeit
Georges-Arthur Goldschmidts Selbsterforschung
Eine seltsame Befreiung: Die Soldaten des Dritten Reichs ziehen im September 1944 aus den Bergen von Hoch-Savoyen ab, der Junge jüdischer Herkunft kann sich aus dem entlegenen Bauernhof hervortrauen und ins Internat zurückkehren - ein Albdruck scheint zu weichen. Tatsächlich aber muss Arthur Kellerlicht an den Ort seiner Karzerhaft zurückkehren, an den Ort, wo ihm beim kleinsten Vergehen das bloße Hinterteil versohlt wird. "Die Befreiung", so der Titel der neuesten Erzählung von Georges-Arthur Goldschmidt, ist vorerst nur scheinbar eine. So zögert der Jüngling; fast schleicht er sich ins Internat, aus dem er vor einem Jahr fliehen musste, um nicht verhaftet und deportiert zu werden.
Aber auch die Angst vor der strengen Internatsleiterin ist vordergründig - die munter wuchernde Sexualität des Burschen lässt die Lage vollends paradox werden. Im Grunde gefallen ihm die Haselrutenschläge von Fräulein Lucas, unter denen er sich pathetisch dreht und windet, sie befeuern scham- wie lustvolle Phantasien. Mit ähnlicher Hingabe akzeptiert er erniedrigende homosexuelle Praktiken mit anderen Schülern, sogar mit dem neuen Lehrer: "Sein Körper war zum Manipuliertwerden da wie ein Stück Schweinefleisch zum Pökeln."
Bei jugendlicher Sexualverwirrung bleibt Goldschmidt natürlich nicht stehen: Kaltblütig, in gut psychoanalytischer Tradition erforscht er die Abgründe, die sich dahinter verbergen. Trotz der Namensänderung scheint die Biographie des Autors durch den Schleier der Fiktion hindurch, Goldschmidt treibt die Selbsterforschung voran, die er bereits in "Der Spiegeltag", "Die Absonderung" und "Die Aussetzung" unternommen hatte: Die früheren Werke beschreiben ebenfalls die Geschichte eines Kinds konvertierter Hamburger Juden, das vor den Deutschen flieht und über Italien in das Internat in den französischen Alpen gelangt; die Eltern entkommen den Nationalsozialisten nicht. Hier werden die zwei Jahre zwischen dem Abmarsch der Deutschen und dem Abitur geschildert, welches das Studium in Paris ermöglicht.
Wie erklärt sich die eigenartige Gefühlsmelange? Arthur klagt sich dafür an, überlebt zu haben: "Dabei, unnützer Esser, hatte er wohlernährt sogar zugenommen, ungeschoren und wohlbehalten sein Überleben erschummelt." Das schlechte Gewissen des Schoa-Überlebenden - ein Phänomen, das dem Außenstehenden auf schmerzliche Weise absurd scheint. Bei Arthur mischt es sich mit Strafphantasien: "Da die Köchin alles über ihn wußte, da sie wußte, daß er schmutzige Gedanken im Kopf hatte, war es fast selbstverständlich, daß sie ihn an die Gestapo ausgeliefert hatte." Die Verknüpfung von Sexualverwirrung und historischer Katastrophe macht Goldschmidts Werk einzigartig in der literarischen Darstellung des Schreckens.
Goldschmidts Erzählung, deren kreisende Bewegung selbst etwas Obsessives hat, ziseliert die psychischen Wirren bis in feinste Verästelungen. Sie zeigt überzeugend, wie Arthur in der Strafe ein Gefühl der Sicherheit finden kann: "zurechtgewiesen werden, gemaßregelt, umgürtelt, in eine ihn umfassende Form eingeschlossen werden". Aberwitzige Strafvorstellungen wie die "Selbsthaubitze", mit der Arthur sich nackt verschießt, halten "die lebensgefährlichen Bilder" der verstorbenen Eltern fern, sie ermöglichen ein Überleben. Der Haltlose findet in der Unterwerfung zu sich selbst und erfährt eine "Neugeburt". Was unter der Feder eines weniger Talentierten zu einer schlüpfrigen und fragwürdigen Mischung verkommen wäre, wird hier zur Dialektik einer Selbstfindung veredelt. Aus dem Schmutz sexueller Erniedrigung vermag Goldschmidt das Wertvollste zu destillieren: die Freiheit des Denkens und des Gewissens. Die Gewährsmänner winken sichtbar, vor allem Rousseaus "Bekenntnisse": Die berühmte Züchtigung des kleinen Jean-Jacques durch Mademoiselle Lambercier steht im Hintergrund der masochistischen Freuden. So ist Arthur bei der Lektüre, "als hätte man das Buch für ihn geschrieben". Grundsätzlich hat diese unbarmherzige Selbsterforschung ihr Vorbild in der Tradition großer Konfessionen. Die Zitate an den Kapitelanfängen stammen aus Karl Philipp Moritz' "Anton Reiser", der schon dem Helden in "Der Spiegeltag" ein Seelenverwandter war.
"Die Befreiung" stellt gleich in mehrfacher Hinsicht eine Weiterführung früherer Texte dar. Es findet sich eine Intensivierung der psychologischen Beschreibung: Der Leser wird immer tiefer in den Wirbelwind von Sexualität, Angst und Schuldgefühlen hineingezogen, der den Helden durchweht; der Stil wird noch persönlicher, intimer, drängender, auch expliziter; und schließlich hat der Autor die Erzählung auf deutsch verfasst, während die früheren Texte von seinem Freund Peter Handke übersetzt wurden - Goldschmidt hat sich mit der Sprache wieder angefreundet, von der es in "Die Befreiung" heißt, dass sie "für immer das Morden beinhalten werde."
Eine grandiose Erzählung: Warum bleibt ein Unwohlsein? Der Leser folgt dem Autor zum wiederholten Mal bei der Selbsterforschung. Die Akzentuierung mag neu sein, doch es kommt zur ermüdenden Wiederholung bekannter Ereignisse, und dieses Déjà-vu wird durch die Kreisbewegung von Goldschmidts Schreiben verstärkt. Man hat den Eindruck, der Selbstbefreiung des Autors beizuwohnen, einer verführerisch subtilen, sprachmächtigen Emanzipation, die im nobelsten Sinne statthat, aber letztlich sich selbst genügt.
NIKLAS BENDER
Georges-Arthur Goldschmidt: "Die Befreiung".
Erzählung. Ammann Verlag, Zürich 2007. 205 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Georges-Arthur Goldschmidts Selbsterforschung
Eine seltsame Befreiung: Die Soldaten des Dritten Reichs ziehen im September 1944 aus den Bergen von Hoch-Savoyen ab, der Junge jüdischer Herkunft kann sich aus dem entlegenen Bauernhof hervortrauen und ins Internat zurückkehren - ein Albdruck scheint zu weichen. Tatsächlich aber muss Arthur Kellerlicht an den Ort seiner Karzerhaft zurückkehren, an den Ort, wo ihm beim kleinsten Vergehen das bloße Hinterteil versohlt wird. "Die Befreiung", so der Titel der neuesten Erzählung von Georges-Arthur Goldschmidt, ist vorerst nur scheinbar eine. So zögert der Jüngling; fast schleicht er sich ins Internat, aus dem er vor einem Jahr fliehen musste, um nicht verhaftet und deportiert zu werden.
Aber auch die Angst vor der strengen Internatsleiterin ist vordergründig - die munter wuchernde Sexualität des Burschen lässt die Lage vollends paradox werden. Im Grunde gefallen ihm die Haselrutenschläge von Fräulein Lucas, unter denen er sich pathetisch dreht und windet, sie befeuern scham- wie lustvolle Phantasien. Mit ähnlicher Hingabe akzeptiert er erniedrigende homosexuelle Praktiken mit anderen Schülern, sogar mit dem neuen Lehrer: "Sein Körper war zum Manipuliertwerden da wie ein Stück Schweinefleisch zum Pökeln."
Bei jugendlicher Sexualverwirrung bleibt Goldschmidt natürlich nicht stehen: Kaltblütig, in gut psychoanalytischer Tradition erforscht er die Abgründe, die sich dahinter verbergen. Trotz der Namensänderung scheint die Biographie des Autors durch den Schleier der Fiktion hindurch, Goldschmidt treibt die Selbsterforschung voran, die er bereits in "Der Spiegeltag", "Die Absonderung" und "Die Aussetzung" unternommen hatte: Die früheren Werke beschreiben ebenfalls die Geschichte eines Kinds konvertierter Hamburger Juden, das vor den Deutschen flieht und über Italien in das Internat in den französischen Alpen gelangt; die Eltern entkommen den Nationalsozialisten nicht. Hier werden die zwei Jahre zwischen dem Abmarsch der Deutschen und dem Abitur geschildert, welches das Studium in Paris ermöglicht.
Wie erklärt sich die eigenartige Gefühlsmelange? Arthur klagt sich dafür an, überlebt zu haben: "Dabei, unnützer Esser, hatte er wohlernährt sogar zugenommen, ungeschoren und wohlbehalten sein Überleben erschummelt." Das schlechte Gewissen des Schoa-Überlebenden - ein Phänomen, das dem Außenstehenden auf schmerzliche Weise absurd scheint. Bei Arthur mischt es sich mit Strafphantasien: "Da die Köchin alles über ihn wußte, da sie wußte, daß er schmutzige Gedanken im Kopf hatte, war es fast selbstverständlich, daß sie ihn an die Gestapo ausgeliefert hatte." Die Verknüpfung von Sexualverwirrung und historischer Katastrophe macht Goldschmidts Werk einzigartig in der literarischen Darstellung des Schreckens.
Goldschmidts Erzählung, deren kreisende Bewegung selbst etwas Obsessives hat, ziseliert die psychischen Wirren bis in feinste Verästelungen. Sie zeigt überzeugend, wie Arthur in der Strafe ein Gefühl der Sicherheit finden kann: "zurechtgewiesen werden, gemaßregelt, umgürtelt, in eine ihn umfassende Form eingeschlossen werden". Aberwitzige Strafvorstellungen wie die "Selbsthaubitze", mit der Arthur sich nackt verschießt, halten "die lebensgefährlichen Bilder" der verstorbenen Eltern fern, sie ermöglichen ein Überleben. Der Haltlose findet in der Unterwerfung zu sich selbst und erfährt eine "Neugeburt". Was unter der Feder eines weniger Talentierten zu einer schlüpfrigen und fragwürdigen Mischung verkommen wäre, wird hier zur Dialektik einer Selbstfindung veredelt. Aus dem Schmutz sexueller Erniedrigung vermag Goldschmidt das Wertvollste zu destillieren: die Freiheit des Denkens und des Gewissens. Die Gewährsmänner winken sichtbar, vor allem Rousseaus "Bekenntnisse": Die berühmte Züchtigung des kleinen Jean-Jacques durch Mademoiselle Lambercier steht im Hintergrund der masochistischen Freuden. So ist Arthur bei der Lektüre, "als hätte man das Buch für ihn geschrieben". Grundsätzlich hat diese unbarmherzige Selbsterforschung ihr Vorbild in der Tradition großer Konfessionen. Die Zitate an den Kapitelanfängen stammen aus Karl Philipp Moritz' "Anton Reiser", der schon dem Helden in "Der Spiegeltag" ein Seelenverwandter war.
"Die Befreiung" stellt gleich in mehrfacher Hinsicht eine Weiterführung früherer Texte dar. Es findet sich eine Intensivierung der psychologischen Beschreibung: Der Leser wird immer tiefer in den Wirbelwind von Sexualität, Angst und Schuldgefühlen hineingezogen, der den Helden durchweht; der Stil wird noch persönlicher, intimer, drängender, auch expliziter; und schließlich hat der Autor die Erzählung auf deutsch verfasst, während die früheren Texte von seinem Freund Peter Handke übersetzt wurden - Goldschmidt hat sich mit der Sprache wieder angefreundet, von der es in "Die Befreiung" heißt, dass sie "für immer das Morden beinhalten werde."
Eine grandiose Erzählung: Warum bleibt ein Unwohlsein? Der Leser folgt dem Autor zum wiederholten Mal bei der Selbsterforschung. Die Akzentuierung mag neu sein, doch es kommt zur ermüdenden Wiederholung bekannter Ereignisse, und dieses Déjà-vu wird durch die Kreisbewegung von Goldschmidts Schreiben verstärkt. Man hat den Eindruck, der Selbstbefreiung des Autors beizuwohnen, einer verführerisch subtilen, sprachmächtigen Emanzipation, die im nobelsten Sinne statthat, aber letztlich sich selbst genügt.
NIKLAS BENDER
Georges-Arthur Goldschmidt: "Die Befreiung".
Erzählung. Ammann Verlag, Zürich 2007. 205 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Ina Hartwig feiert diese jüngste Erzählung von Georges-Arthur Goldschmidt, in der er sich erneut mit seiner eigenen Kindheit auseinandersetzt, die er ab 1939 in einem katholischen Internat in den französischen Alpen verbrachte. Das dortige "Sodom des Internatslebens" beschreibe der Autor mit einer solchen "psychischen und sprachlichen Intensität", dass man als Leser jedes Mal erneut hineingezogen werde. Gerade die Rutenschläge der strengen Internatsleiterin Fräulein Lucas sind es, die das Heimweh des jüdischen Jungen überdecken und ihm so zur Obsession werden. So wird der junge Mann nach seiner Flucht vor den Deutschen freiwillig in jenen "geschlossenen Raum einer verstörenden pädagogisch-erotomanen Szenerie" zurückkehren, der Schmerzgenuss ist Goldschmidt zum "Motor seines Lebens", zum "roten Faden seines Denkens" geworden. Die gegenseitige Durchdringung von Erzählung und Autobiografie mag die Rezensentin hier kaum zu verwundern: "Seine eigene Lebensgeschichte ist Literatur geworden."
© Perlentaucher Medien GmbH
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