Die Beichte, das "Bußsakrament", dient der Vergebung der Sünden - das ist gläubigen Christen zu allen Zeiten gepredigt worden. In Wahrheit, so zeigt John Cornwell in seinem aufrüttelnden Buch, ist sie bis heute ein zentrales Unterdrückungsinstrument der katholischen Kirche geblieben. Nicht nur vermittelt sie schon Kindern die Welt als Sündenpfuhl - in ihrem Freiraum wurde systematischer Missbrauch überhaupt erst möglich.
Als Papst Pius X. im Jahr 1905 das Mindestalter für die Beichte auf sieben Jahre herabsetzte, begann ein großes Menschenexperiment: Kinder wurden seitdem systematisch in Scham und Schrecken gehalten. Die Furcht vor Sünde, Fegefeuer und ewiger Verdammnis schuf bei Generationen von Gläubigen ein Lebensgefühl der Angst. Es war kein Zufall, dass manche dieser Sünden Formen von Ungehorsam gegenüber den kirchlichen Autoritäten umfassten.
Vor allem aber hat die Beichte das Verhältnis vieler Gläubiger und katholischer Amtsträger zur Sexualität nachhaltig geprägt. Die Folgen sind bis heute spürbar in einer Epoche von Säkularisierung und sexueller Befreiung haben gerade der Freiraum der Beichte und das Konzept der Sünde dem Missbrauch von Kindern Vorschub geleistet.
John Cornwell, selbst Katholik und einer der führenden Vatikanexperten, zeigt auf der Grundlage eigener Erfahrungen und vieler konkreter Beispiele, wie sehr die Beichte zum Repressionsinstrument geworden ist - und warum sie offiziell wieder mehr in den Mittelpunkt des Glaubens rücken soll. Ein sehr persönliches, leidenschaftliches Buch - und ein dunkles Kapitel abendländischer Kulturgeschichte.
Als Papst Pius X. im Jahr 1905 das Mindestalter für die Beichte auf sieben Jahre herabsetzte, begann ein großes Menschenexperiment: Kinder wurden seitdem systematisch in Scham und Schrecken gehalten. Die Furcht vor Sünde, Fegefeuer und ewiger Verdammnis schuf bei Generationen von Gläubigen ein Lebensgefühl der Angst. Es war kein Zufall, dass manche dieser Sünden Formen von Ungehorsam gegenüber den kirchlichen Autoritäten umfassten.
Vor allem aber hat die Beichte das Verhältnis vieler Gläubiger und katholischer Amtsträger zur Sexualität nachhaltig geprägt. Die Folgen sind bis heute spürbar in einer Epoche von Säkularisierung und sexueller Befreiung haben gerade der Freiraum der Beichte und das Konzept der Sünde dem Missbrauch von Kindern Vorschub geleistet.
John Cornwell, selbst Katholik und einer der führenden Vatikanexperten, zeigt auf der Grundlage eigener Erfahrungen und vieler konkreter Beispiele, wie sehr die Beichte zum Repressionsinstrument geworden ist - und warum sie offiziell wieder mehr in den Mittelpunkt des Glaubens rücken soll. Ein sehr persönliches, leidenschaftliches Buch - und ein dunkles Kapitel abendländischer Kulturgeschichte.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wie viel Macht die Kirche über die ihr anvertrauten Seelen hat, vermag Rudolf Neumaier nach der Lektüre von John Cornwells Abrechnungsschrift zu erahnen. Dabei ist Cornwells Auflistung der Missbrauchsfälle im 20. Jahrhundert bis heute das entscheidende Kriterium für den Rezensenten. Die Abscheu gegen den Klerikalkatholizismus, der selbst regelmäßig nur "Baubescheide der Seele" veröffentlicht, wächst bei ihm mit jeder Seite. Wenn Cornwell allerdings die Beichte als Instrument für den Missbrauch darzustellen versucht, geht der Rezensent nicht mit. Dass pädokriminelle Priester wirklich den Beichtstuhl als Machtinstrument nötig gehabt haben sollen, um Opfer zu finden, mag er nicht glauben. Düster genug sind Cornwells Schilderungen von Priesterseminaren und mittelalterlichen Ordenshäusern auch ohne Hinweis auf die Beichte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2014Eine ermordete Seele klagt an
Der Ire John Cornwell wollte katholischer Priester werden. Dann wurde er von seinem Beichtvater missbraucht. Nun revanchiert er sich mit einer wütenden Polemik.
Der Klappentext verspricht eine "Geschichte von Macht und Unterdrückung. Die Beichte, das ,Bußsakrament', dient der Vergebung der Sünden. Das ist gläubigen Christen zu allen Zeiten gepredigt worden. In Wahrheit, so zeigt John Cornwell in seinem aufrüttelnden Buch, ist sie stets auch ein zentrales Machtinstrument der katholischen Kirche gewesen. Nicht nur vermittelt sie schon Kindern die Welt als Sündenpfuhl - in ihrem Freiraum wurde systematischer Missbrauch erst möglich."
Wer also eine sine ira et studio vorgetragene gelehrte Analyse lesen möchte, greife lieber zu anderen Werken. Wer aber Freude an einer heftigen, stark autobiographisch gefärbten Polemik über das Thema Beichte sucht, wer schon immer der Meinung war, dass es ohne den Beichtstuhl auch keinen Kindesmissbrauch gäbe, wer den Argwohn hegte, dass sich hier "lüsternen Beichtvätern die Gelegenheit bot, sich unbeobachtet an schwache Frauen heranzumachen und sie zu verführen", der wird einen mit zahlreichen pikanten Anekdoten gespickten und gut geschriebenen Text finden, der seine Auffassung stützt.
Wer schließlich vermutet, Pius X., die bête noire des Autors, habe mit Hilfe von "Umberto Benigni, einem korpulenten, energiegeladenen Brillenträger", ein Spionagenetz aufgebaut, das eine "moderne Spielart der Inquisition" war, eine Organisation, deren "größtenteils kriminelle Aktivitäten" der Denunziation von "modernistischen", liberalen Theologen oder Historikern dienten, der wird sich bestätigt fühlen. Über Pius X. erfährt man: "Er schnupfte Tabak und rauchte Zigarren. Frühe Wochenschauen zeigen einen mittelgroßen Mann mit langsamen Bewegungen, der einen großen Bauch vor sich herschiebt und eine Art wachsame Trägheit ausstrahlt. Sein Gesicht war faltenlos, seine Augen schwermütig. Sein üppiges Haupthaar war schon in seiner Jugend weiß geworden. Doch unter der frommen, onkelhaften Oberfläche verbarg sich auch ein durchaus herrischer Zug."
Vor allem aber war er antiintellektuell und reaktionär. In die Geschichte der Beichte ist er nach Cornwell deshalb negativ eingegangen, weil er durchsetzte, dass Kinder schon im Alter von sieben Jahren beichten mussten und nicht wie vorher erst mit zwölf oder dreizehn. Der Grund dafür war, dass Pius Kinder für sexuelle Subjekte hielt. Man kann über die Maßnahme des Papstes und seine kinderpsychologische These streiten. Immerhin war er damit in Übereinstimmung mit einem seiner berühmtesten Zeitgenossen, der sich zu dieser Frage geäußert hat, wenn man auch sagen darf, dass Freuds Psychoanalyse nicht zur Weckung des Schuldbewusstseins, sondern zur Heilung von dessen traumatischen Folgen diente. Generell ist das Problem - zumal in Deutschland - sicher nicht eine Überdosis an Schuldbewusstsein, wenn man sich auch fragen muss, ob es immer auf die adäquaten Gegenstände bezogen ist. Vielleicht entspricht unserer "Unfähigkeit zu trauern" auch eine "Unfähigkeit zu bereuen".
Cornwells Arbeit reiht sich - wider Willen - ein in eine lange Tradition antikatholischer oder doch antiklerikaler Studien, obwohl der Autor sich gelegentlich davon abzusetzen sucht. Nicht immer mit Erfolg: Es handelt sich oft um ganz ähnliche Diskursstrukturen, die freilich sehr unterschiedlichen Motiven entspringen. Er will natürlich nicht die "Geschichte aus den Schauermärchen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts" über die Beichte fortsetzen, auch nicht die in Deutschland aus der Polemik gegen den angeblichen Ultramontanismus der katholischen Kirche gespeiste Literatur des Kulturkampfes. Erst recht nicht die (von ihm gar nicht erwähnten) gegen Missbrauch im Beichtstuhl wetternden Arbeiten nationalsozialistischer Autoren, die sich auf die Akten der in den dreißiger Jahren geführten Prozesse gegen katholische Geistliche stützen - wie etwa Franz Roses Buch "Mönche vor Gericht. Eine Darstellung entarteten Klosterlebens nach Dokumenten und Akten" (1939).
Das Paradebeispiel für die Versklavung des individuellen Gewissens war sehr häufig die Beichte, speziell die Verknüpfung von Bekenntnis sexueller Sünden, zölibatärer Lebensform der Beichtväter und der Androhung drastischer Höllenstrafen für den nicht bußfertigen Sünder, zumal die Sünderin. Kritisiert wurden die Ängstigung von Kindern und Frauen und immer wieder die Erschleichung sexueller Kontakte. Schon die Einführung des Beichtstuhls als Instrument der räumlichen Distanzierung von Beichtvater und Beichtkind sollte dieser Gefahr ein Hindernis entgegensetzen, aber die Schaffung dieser "Black Box" hatte teilweise eher kontraproduktive Wirkungen.
Die Konzentration der nachtridentinischen katholischen Moraltheologie auf die Sexualität und zusätzlich auf die Gefahren der Onanie wird hervorgehoben und durch eine Fülle kritischer Kommentare belegt. Immerhin ist die hier von Cornwell und vielen anderen monierte Obsession gerade auch in völlig atheistischen Milieus ebenso verbreitet gewesen. Die psychiatrischen und psychologischen Warnungen vor den Gefahren der Masturbation seit dem achtzehnten Jahrhundert füllen Bände. Auch das von Cornwell angeführte Filmbeispiel, Michael Hanekes "Das weiße Band", wo ein evangelischer Pfarrer seinem Sohn nächtlich die Hände fesselt, um ihn vor den potentiell tödlichen Wirkungen der "Selbstbefleckung" zu schützen, spielt sich eben nicht im katholischen Milieu ab. Ohnehin ist die Auffassung, die Protestanten seien in sexualibus laxer gewesen als die Katholiken, eine Mär.
Der Autor, Jahrgang 1940, in einer irischen katholischen Familie aufgewachsen und seit früher Kindheit dem Beichtritual "unterworfen", tritt mit achtzehn Jahren in ein Priesterseminar ein. Die "dichte Beschreibung" dieses Milieus als einer "totalen Institution" im Sinne Goffmans gehört zu den gelungensten Passagen des Buches.
Cornwell wird selbst Opfer sexueller Übergriffe durch seinen Beichtvater: "Er fragte, ob er meinen Penis sehen und anfassen könne, um nachzuschauen, ob ich eine der ,bekannten Fehlbildungen' hätte, die zu übermäßig häufigen Erektionen führten. Masturbieren sei nichts Schlimmes, meinte er, aber es schade der Gesundheit, wenn man es zu oft mache. Ich war fünf Jahre zuvor in einer öffentlichen Toilette von einem Mann missbraucht worden, der sich mit ähnlichen Vertraulichkeiten an mich herangemacht hatte. Pater McCallum hatte sich das falsche Opfer ausgesucht. Ich stand auf und verließ den Raum."
Einige Zeit später verlässt er auch das Seminar und die Kirche. Das ganze dritte Kapitel des Buches enthält nun Beispiele der zitierten Art, die mit bisweilen penetranter Detailliertheit vorgetragen werden. Man könnte fast von moralisierendem pornographischem Positivismus sprechen. Ihr Ausgangspunkt sind die in jüngster Zeit bekanntgewordenen Fälle von Missbrauch, Verführung und Vergewaltigung in der katholischen Kirche der ganzen Welt. Die Aufzählung ist tatsächlich höchst erschütternd, zumal es dabei an Vertuschungsversuchen des Episkopats und höchster Stellen im Vatikan nicht gefehlt hat. Die Frage ist allerdings, ob die Ursache des Übels richtig ausgemacht wird.
Das persönliche Beispiel des Autors zeigt ja, dass Missbrauch kein kriminelles Monopol der katholischen Kirche war oder ist und dass er auch dort nicht strikt an die Beichte gekoppelt war. Das ist ihm auch durchaus bewusst. Aber der Missbrauch durch Priester erscheint ihm als besonders grausam, weil er eine Art "Seelenmord" darstellt: "Wenn Geistliche Kinder missbrauchen, hat das oftmals weiterreichende Folgen als die emotionalen und psychischen Verletzungen, wie sie die Opfer und ihre Familien bei sexuellem Missbrauch ohnehin schon erfahren. Ein solcher Übergriff auf ein junges Gemeindemitglied verletzt das Vertrauensverhältnis zwischen dem spirituellen Kind und seinem geistlichen Vater (...). Deshalb ist der sexuelle Missbrauch von Kindern durch Priester mit entsprechenden Fällen in der übrigen Bevölkerung kaum zu vergleichen."
Ob aber das Trauma bei Missbrauch durch den leiblichen Vater wirklich so viel geringer ist als beim spirituellen? Problematisch scheint auch die Annahme Cornwells, die plötzliche Häufung von Missbrauchsfällen in den späten sechziger und siebziger Jahren hänge damit zusammen, dass hier sexuell unaufgeklärte und unerfahrene Priester plötzlich mit den sexuellen Emanzipationstheorien der linken "sexuellen Befreiungsbewegung" konfrontiert worden seien.
Als unbefangener Leser, der sich soziologisch und historisch mit dem Thema der Beichte befasst hat, legt man das Werk mit zwiespältigen Gefühlen aus der Hand. Vieles ist "irgendwie" richtig gesehen und bisweilen sogar sehr scharfsinnig beobachtet. Häufig überwiegt aber der Eindruck, alles sei auch irgendwie "schief". Fast immer ist man geneigt, alle Einschätzungen entschieden mit "Jein" zu kommentieren.
ALOIS HAHN
John Cornwell: "Die Beichte". Eine dunkle Geschichte. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Enrico Heinemann. Berlin Verlag, Berlin 2014. 320 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Ire John Cornwell wollte katholischer Priester werden. Dann wurde er von seinem Beichtvater missbraucht. Nun revanchiert er sich mit einer wütenden Polemik.
Der Klappentext verspricht eine "Geschichte von Macht und Unterdrückung. Die Beichte, das ,Bußsakrament', dient der Vergebung der Sünden. Das ist gläubigen Christen zu allen Zeiten gepredigt worden. In Wahrheit, so zeigt John Cornwell in seinem aufrüttelnden Buch, ist sie stets auch ein zentrales Machtinstrument der katholischen Kirche gewesen. Nicht nur vermittelt sie schon Kindern die Welt als Sündenpfuhl - in ihrem Freiraum wurde systematischer Missbrauch erst möglich."
Wer also eine sine ira et studio vorgetragene gelehrte Analyse lesen möchte, greife lieber zu anderen Werken. Wer aber Freude an einer heftigen, stark autobiographisch gefärbten Polemik über das Thema Beichte sucht, wer schon immer der Meinung war, dass es ohne den Beichtstuhl auch keinen Kindesmissbrauch gäbe, wer den Argwohn hegte, dass sich hier "lüsternen Beichtvätern die Gelegenheit bot, sich unbeobachtet an schwache Frauen heranzumachen und sie zu verführen", der wird einen mit zahlreichen pikanten Anekdoten gespickten und gut geschriebenen Text finden, der seine Auffassung stützt.
Wer schließlich vermutet, Pius X., die bête noire des Autors, habe mit Hilfe von "Umberto Benigni, einem korpulenten, energiegeladenen Brillenträger", ein Spionagenetz aufgebaut, das eine "moderne Spielart der Inquisition" war, eine Organisation, deren "größtenteils kriminelle Aktivitäten" der Denunziation von "modernistischen", liberalen Theologen oder Historikern dienten, der wird sich bestätigt fühlen. Über Pius X. erfährt man: "Er schnupfte Tabak und rauchte Zigarren. Frühe Wochenschauen zeigen einen mittelgroßen Mann mit langsamen Bewegungen, der einen großen Bauch vor sich herschiebt und eine Art wachsame Trägheit ausstrahlt. Sein Gesicht war faltenlos, seine Augen schwermütig. Sein üppiges Haupthaar war schon in seiner Jugend weiß geworden. Doch unter der frommen, onkelhaften Oberfläche verbarg sich auch ein durchaus herrischer Zug."
Vor allem aber war er antiintellektuell und reaktionär. In die Geschichte der Beichte ist er nach Cornwell deshalb negativ eingegangen, weil er durchsetzte, dass Kinder schon im Alter von sieben Jahren beichten mussten und nicht wie vorher erst mit zwölf oder dreizehn. Der Grund dafür war, dass Pius Kinder für sexuelle Subjekte hielt. Man kann über die Maßnahme des Papstes und seine kinderpsychologische These streiten. Immerhin war er damit in Übereinstimmung mit einem seiner berühmtesten Zeitgenossen, der sich zu dieser Frage geäußert hat, wenn man auch sagen darf, dass Freuds Psychoanalyse nicht zur Weckung des Schuldbewusstseins, sondern zur Heilung von dessen traumatischen Folgen diente. Generell ist das Problem - zumal in Deutschland - sicher nicht eine Überdosis an Schuldbewusstsein, wenn man sich auch fragen muss, ob es immer auf die adäquaten Gegenstände bezogen ist. Vielleicht entspricht unserer "Unfähigkeit zu trauern" auch eine "Unfähigkeit zu bereuen".
Cornwells Arbeit reiht sich - wider Willen - ein in eine lange Tradition antikatholischer oder doch antiklerikaler Studien, obwohl der Autor sich gelegentlich davon abzusetzen sucht. Nicht immer mit Erfolg: Es handelt sich oft um ganz ähnliche Diskursstrukturen, die freilich sehr unterschiedlichen Motiven entspringen. Er will natürlich nicht die "Geschichte aus den Schauermärchen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts" über die Beichte fortsetzen, auch nicht die in Deutschland aus der Polemik gegen den angeblichen Ultramontanismus der katholischen Kirche gespeiste Literatur des Kulturkampfes. Erst recht nicht die (von ihm gar nicht erwähnten) gegen Missbrauch im Beichtstuhl wetternden Arbeiten nationalsozialistischer Autoren, die sich auf die Akten der in den dreißiger Jahren geführten Prozesse gegen katholische Geistliche stützen - wie etwa Franz Roses Buch "Mönche vor Gericht. Eine Darstellung entarteten Klosterlebens nach Dokumenten und Akten" (1939).
Das Paradebeispiel für die Versklavung des individuellen Gewissens war sehr häufig die Beichte, speziell die Verknüpfung von Bekenntnis sexueller Sünden, zölibatärer Lebensform der Beichtväter und der Androhung drastischer Höllenstrafen für den nicht bußfertigen Sünder, zumal die Sünderin. Kritisiert wurden die Ängstigung von Kindern und Frauen und immer wieder die Erschleichung sexueller Kontakte. Schon die Einführung des Beichtstuhls als Instrument der räumlichen Distanzierung von Beichtvater und Beichtkind sollte dieser Gefahr ein Hindernis entgegensetzen, aber die Schaffung dieser "Black Box" hatte teilweise eher kontraproduktive Wirkungen.
Die Konzentration der nachtridentinischen katholischen Moraltheologie auf die Sexualität und zusätzlich auf die Gefahren der Onanie wird hervorgehoben und durch eine Fülle kritischer Kommentare belegt. Immerhin ist die hier von Cornwell und vielen anderen monierte Obsession gerade auch in völlig atheistischen Milieus ebenso verbreitet gewesen. Die psychiatrischen und psychologischen Warnungen vor den Gefahren der Masturbation seit dem achtzehnten Jahrhundert füllen Bände. Auch das von Cornwell angeführte Filmbeispiel, Michael Hanekes "Das weiße Band", wo ein evangelischer Pfarrer seinem Sohn nächtlich die Hände fesselt, um ihn vor den potentiell tödlichen Wirkungen der "Selbstbefleckung" zu schützen, spielt sich eben nicht im katholischen Milieu ab. Ohnehin ist die Auffassung, die Protestanten seien in sexualibus laxer gewesen als die Katholiken, eine Mär.
Der Autor, Jahrgang 1940, in einer irischen katholischen Familie aufgewachsen und seit früher Kindheit dem Beichtritual "unterworfen", tritt mit achtzehn Jahren in ein Priesterseminar ein. Die "dichte Beschreibung" dieses Milieus als einer "totalen Institution" im Sinne Goffmans gehört zu den gelungensten Passagen des Buches.
Cornwell wird selbst Opfer sexueller Übergriffe durch seinen Beichtvater: "Er fragte, ob er meinen Penis sehen und anfassen könne, um nachzuschauen, ob ich eine der ,bekannten Fehlbildungen' hätte, die zu übermäßig häufigen Erektionen führten. Masturbieren sei nichts Schlimmes, meinte er, aber es schade der Gesundheit, wenn man es zu oft mache. Ich war fünf Jahre zuvor in einer öffentlichen Toilette von einem Mann missbraucht worden, der sich mit ähnlichen Vertraulichkeiten an mich herangemacht hatte. Pater McCallum hatte sich das falsche Opfer ausgesucht. Ich stand auf und verließ den Raum."
Einige Zeit später verlässt er auch das Seminar und die Kirche. Das ganze dritte Kapitel des Buches enthält nun Beispiele der zitierten Art, die mit bisweilen penetranter Detailliertheit vorgetragen werden. Man könnte fast von moralisierendem pornographischem Positivismus sprechen. Ihr Ausgangspunkt sind die in jüngster Zeit bekanntgewordenen Fälle von Missbrauch, Verführung und Vergewaltigung in der katholischen Kirche der ganzen Welt. Die Aufzählung ist tatsächlich höchst erschütternd, zumal es dabei an Vertuschungsversuchen des Episkopats und höchster Stellen im Vatikan nicht gefehlt hat. Die Frage ist allerdings, ob die Ursache des Übels richtig ausgemacht wird.
Das persönliche Beispiel des Autors zeigt ja, dass Missbrauch kein kriminelles Monopol der katholischen Kirche war oder ist und dass er auch dort nicht strikt an die Beichte gekoppelt war. Das ist ihm auch durchaus bewusst. Aber der Missbrauch durch Priester erscheint ihm als besonders grausam, weil er eine Art "Seelenmord" darstellt: "Wenn Geistliche Kinder missbrauchen, hat das oftmals weiterreichende Folgen als die emotionalen und psychischen Verletzungen, wie sie die Opfer und ihre Familien bei sexuellem Missbrauch ohnehin schon erfahren. Ein solcher Übergriff auf ein junges Gemeindemitglied verletzt das Vertrauensverhältnis zwischen dem spirituellen Kind und seinem geistlichen Vater (...). Deshalb ist der sexuelle Missbrauch von Kindern durch Priester mit entsprechenden Fällen in der übrigen Bevölkerung kaum zu vergleichen."
Ob aber das Trauma bei Missbrauch durch den leiblichen Vater wirklich so viel geringer ist als beim spirituellen? Problematisch scheint auch die Annahme Cornwells, die plötzliche Häufung von Missbrauchsfällen in den späten sechziger und siebziger Jahren hänge damit zusammen, dass hier sexuell unaufgeklärte und unerfahrene Priester plötzlich mit den sexuellen Emanzipationstheorien der linken "sexuellen Befreiungsbewegung" konfrontiert worden seien.
Als unbefangener Leser, der sich soziologisch und historisch mit dem Thema der Beichte befasst hat, legt man das Werk mit zwiespältigen Gefühlen aus der Hand. Vieles ist "irgendwie" richtig gesehen und bisweilen sogar sehr scharfsinnig beobachtet. Häufig überwiegt aber der Eindruck, alles sei auch irgendwie "schief". Fast immer ist man geneigt, alle Einschätzungen entschieden mit "Jein" zu kommentieren.
ALOIS HAHN
John Cornwell: "Die Beichte". Eine dunkle Geschichte. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Enrico Heinemann. Berlin Verlag, Berlin 2014. 320 S., geb., 22,99 [Euro].
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"Provokant wird Cornwells Studie zur Geschichte und zur Gegenwart dadurch, dass er Papst Pius X. und sein Dekret "Quam singulari" in den Mittelpunkt seiner Abhandlung stellt. In ihm bestimmte Pius X. 1910, dass jeder Katholik von nun an einmal in der Woche, statt wie früher einmal im Jahr, zur Beichte gehen müsse. Und noch viel dramatischer: Pius X. führte damit die Kinderbeichte und die Erstkommunion für die erst Siebenjährigen ein. Zu Recht spricht Cornwell von einem "der gewagtesten Experimente an Kindern, die je im Namen des Christentums verordnet wurden".", taz, Brigitte Werneburg, 05.02.2014