Indien 1857: George Fleury, ein junger Angehöriger der britischen Oberschicht, reist zu dem isolierten britischen Außenposten Krishnapur. Von dort soll er über den positiven Einfluss von Zivilisation und Fortschritt auf das rückständige Indien berichten. Gerüchte von Unruhen und Aufständen erreichen die Stadt, das Land ist in Aufruhr, doch die Vertreter der Britischen Ostindien-Kompanie halten Tea Time, fest überzeugt von ihrer militärischen und moralischen Überlegenheit. Als sie tatsächlich unter Belagerung geraten, kämpfen sie in einer zunehmend verzweifelten Lage nicht nur um ihr Leben, sondern auch um jeden Rest von viktorianisch geprägtem Anstand und Würde. Der historische Aufstand der indischen Sepoy-Soldaten Mitte des vorletzten Jahrhunderts bildet den Hintergrund dieser brillanten, von absurdem britischem Humor durchzogenen Erzählung um den wackeren George Fleury.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2015Mit Tropenhelm und Schottenrock in die Schlammschlacht
Voll wüster Lust am Untergang erzählt der Booker-Preisträger James Gordon Farrell vom indischen Sepoy-Aufstand gegen die Briten. Nun gibt es "Die Belagerung von Krishnapur" von 1973 endlich auch auf Deutsch.
Wie witzig kann der Untergang eines Imperiums sein? Für den irisch-englischen Erzähler James Gordon Farrell (1935 bis 1979) jedenfalls sehr witzig. Schon in "Troubles", dem 2013 endlich auch auf Deutsch erschienenen ersten Roman seiner Empire-Trilogie, entfaltet er grandiose Komik aus einer Allegorie des unaufhaltsamen Niedergangs: der 1919 spielenden Geschichte eines an der irischen Südküste gelegenen zerfallenden Luxushotels und seiner skurrilen Bewohner, die, vor dem Hintergrund des im selben Jahr ausbrechenden irischen Unabhängigkeitskriegs, den Zerfall des British Empire spiegelt. In "Die Belagerung von Krishnapur", dem 1973 erschienenen zweiten Roman der Trilogie, für den er den Man-Booker-Preis erhielt, dreht Farrell noch einmal mächtig auf. Da rollen die Köpfe scharenweise - für Farrell kein Grund, den Humor zu verlieren.
Der Roman versetzt den Leser in den indischen Aufstand des Jahres 1857, der nach den Sepoys, den indischen Soldaten der Britischen Ostindien-Kompanie, auch Sepoy-Aufstand heißt. Der Handlungsort Krishnapur ist nur in Maßen imaginär: Farrell hat ihn der Garnison von Lakhnau (Lucknow) nachgeformt, wo die Besatzung aus rund 1500 britischen und loyalen indischen Soldaten und eine ebenso große Anzahl von Zivilisten fünf Monate lang der Belagerung drückend überlegener Sepoy-Truppen unter schwersten Verlusten standzuhalten vermochten - eine Episode, die in die Heroengeschichte des British Empire einging und, worauf Pankaj Mishra in seinem Nachwort aufmerksam macht, die Mode patriotischer "Aufstandsromane" hervorbrachte. Farrell hat die historischen Quellen sorgfältig studiert und liefert auf dieser Basis mit hohem Sinn fürs atmosphärische Detail die ironische Variante eines Aufstandsromans.
Die zentrale Figur seines Romans ist Mr. Hopkins, der "Collector" von Krishnapur, einer der ranghöchsten Beamten der britischen Zivilverwaltung mit erheblichen Machtbefugnissen. Schon bei den ersten Anzeichen eines drohenden Aufstandes lässt er - unter Missbilligung seiner sorglosen Umgebung - seine Residenz mit einigen angrenzenden Gebäuden zu einer improvisierten Festung ausbauen. Der Collector ist ein unbedingter Verfechter des Fortschrittsglaubens und überzeugt insbesondere von der Überlegenheit der britischen Zivilisation. Seine bei jeder Gelegenheit hervorgezogene Bibel ist deshalb der Katalog der "Great Exhibition", der Londoner Weltausstellung von 1851, die er "als ein gemeinsames Gebet aller zivilisierten Nationen" beurteilt und von der er eine Menge von Farrell mit Gespür für zeittypische Kuriositäten ausgewählte Objekte als Zeugnisse des unaufhaltsamen Fortschritts in seine indische Residenz importiert hat. Der Collector, der mit Autorität, Würde und Sachverstand den Widerstand der Residenz beim bald ausbrechenden Aufstand organisiert und dem dabei alle seine Überzeugungen Schritt für Schritt abhandenkommen, ist der komplexeste Charakter des so spannenden wie amüsanten Romans.
Ihn umgibt Farrell mit einer Fülle farbiger Figuren, die seine herrliche Charakterisierungskunst immer haarscharf an der Karikatur vorbeischrammen lässt und die insgesamt ein possierliches Panorama der frühviktorianischen Gesellschaft ergeben. Da sind der sentimentale Schöngeist Fleury, der unter dem Druck der Belagerung das kindliche Heldentum einer Comicfigur entwickelt und sich den Wonnen des Alltags zuwendet, und seine verwitwete Schwester Miriam, die ihr Überleben damit sichert, dass sie sich zu einem illusionslosen Pragmatismus bekennt, da ist die nach dem Musterkatalog einer viktorianischen Schönheit entworfene prüde-kokette Arzttochter Louise, die am Ende der Belagerung, von Furunkeln übersät und von Skorbut geplagt, achtlos darüber hinwegsieht, dass aus ihrem zerrissenen Kleid ein Stück ihrer Brust hervorblitzt, da ist der dem Collector im Rang nachgeordnete "Magistrate", der als zynischer Materialist und reformorientierter Chartist im Dreck und Gestank der Belagerung seinen Glauben an die Menschheit verliert, und da ist ein Pfarrer, der unter dem Pfeifen der Kugeln noch den Sterbenden seine physikotheologischen Gottesbeweise in die ertaubenden Ohren brüllt. Und da ist Leutnant Harry, der in Gefahr und größter Not immer das tut, was man offensichtlich von einem, der Harry heißt und englischer Leutnant ist, erwarten darf: durch ein irres Husarenstück die im Grunde schon unrettbar verlorene Residenz für ein paar weitere Tage zu retten.
Dies überdrehte Ensemble virtuoser Charakterdarsteller höchst britischer Prägung, das den Leser immer wieder zweifeln lässt, ob er sich in einem realistischen Kriegsroman befindet oder nicht doch in einer Slapstickkomödie, nutzt Farrell zur Kritik an der Borniertheit, der Selbstgefälligkeit und den Werten der viktorianischen Gesellschaft, die er mit wildem Witz in den Schlächtereien Mann gegen Mann, dem Schlamm und dem Hunger der Belagerung von Krishnapur zugrunde gehen lässt. Zu Anfang der Belagerung unternimmt der Collector seine Kontrollgänge noch mit Tropenhelm und Stock und im Gehrock, in dessen Knopfloch er eine rosarote Rose trägt, aber schon bald kommt der Augenblick, in dem bei der obligaten Teestunde mit seinen Offizieren "eine Serie von Musketenkugeln" dafür sorgt, dass seine zitternde Hand den Zucker nicht mehr aus der Dose in die Tasse befördern kann. Und wenige Wochen später muss er sich das eingestehen, was ihm Farrell mit schwereloser Amüsiertheit ins Bewusstsein schreibt: "Aus dem Hof, wo seine Glaubensüberzeugungen wie gemästete Hühner auf der Stange gehockt hatten, wurden in jeder Nacht der Belagerung eine oder zwei zwischen den Zähnen des Rationalismus und der Verzweiflung davongetragen." In den Monaten der Belagerung gehen alle Zeugnisse der britischen Kultur - "Humidore und Kerzenleuchter, Elefantenfüße mit Überbau und Ruderblätter mit Namen von College-Eights in Goldfarbe" - und insbesondere die Kulturtrophäen der Weltausstellung als Füllmaterial in den Befestigungsanlagen von Krishnapur zugrunde. Und als am Ende der die Entsatztruppen führende englische General die Überlebenden von Krishnapur entsetzt betrachtet, da glaubt er, eine Gesellschaft im schlammigsten Urzustand, schlimmer noch: indische Parias vor Augen zu haben: "Er hatte noch nie Engländer gesehen, die sich dermaßen hatten gehen lassen; sie sahen eher aus wie Unberührbare."
James Gordon Farrells mit wüster Lust am Untergang erzählter Roman ist das Werk eines Mannes, den man einen geborenen Erzähler wird nennen müssen. Er erzählt derart im besten Sinne hemmungslos, als habe es nie eine Krise des Erzählens und nie einen modernen Roman gegeben, und bei Bedarf wendet er sich auch gern einmal direkt an den Leser: "Können Sie sich vorstellen, wie sich der Besitzer eines guten Chesterfield-Sofas gefühlt haben muss, es derart im Polizeigriff zum Untergang im peitschenden Regen abgeschleppt zu sehen?" Sehr britisch dies alles! Und das reine Lesevergnügen!
Nur eines darf man von James Gordon Farrells von Grete Osterwald flüssig übersetztem und mit nützlichen historischen Erläuterungen versehenem Roman nicht erwarten: dass seine Kritik an den Bewusstseinsformen der viktorianischen Gesellschaft, in denen sich der Untergang des British Empire ankündigt, sich ausweitet zu einer auch nur halbwegs tragfähigen Kritik am britischen Kolonialismus. Dazu bleiben die Inder selbst allzu klischeehaft und auch zu sehr im Hintergrund dieses Romans, und dazu hätte er überdies auf den britischen Rachefeldzug eingehen müssen, der dem indischen Aufstand folgte. Als der sentimentale Fleury sich einmal zu fragen beginnt, "wie viel vom indischen Leben dem Engländer, der gerüstet mit seiner eigenen Religion und eigenen Sitten herkam, verschlossen blieb", weist er sich selbst sofort mit der Überlegung zurecht, es sei dies "nicht der Moment, damit anzufangen, über solche Dinge nachzugrübeln".
Wenn der Indische Aufstand nicht der rechte Moment war, welcher dann? Man merkt es dem Roman jedenfalls nicht an, dass Queen Victoria, deren Porträt Farrell "aus blauen Glubschaugen" auf das blutige Geschehen blicken lässt, zwanzig Jahre nach der Niederschlagung des Aufstands 1877 zur Empress of India gekrönt wird. Farrell, der Entertainer, der alles aus der britischen Perspektive erzählt, möchte, dass der Leser sich gern an seine Helden erinnert: ein wunderbarer Kerl, dieser Collector, prächtige Jungs, dieser Harry und dieser Fleury, die den Sepoys noch einmal zeigen, wie man kämpft! Der Preis, den er dafür zahlt, besteht darin, dass er die von ihm erzählte mörderische Episode weitgehend aus der politischen Geschichte des Kolonialismus herausbricht.
ERNST OSTERKAMP
James Gordon Farrell: "Die Belagerung von Krishnapur". Roman.
Aus dem Englischen von Grete Osterwald. Nachwort von Pankaj Mishra. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015. 478 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Voll wüster Lust am Untergang erzählt der Booker-Preisträger James Gordon Farrell vom indischen Sepoy-Aufstand gegen die Briten. Nun gibt es "Die Belagerung von Krishnapur" von 1973 endlich auch auf Deutsch.
Wie witzig kann der Untergang eines Imperiums sein? Für den irisch-englischen Erzähler James Gordon Farrell (1935 bis 1979) jedenfalls sehr witzig. Schon in "Troubles", dem 2013 endlich auch auf Deutsch erschienenen ersten Roman seiner Empire-Trilogie, entfaltet er grandiose Komik aus einer Allegorie des unaufhaltsamen Niedergangs: der 1919 spielenden Geschichte eines an der irischen Südküste gelegenen zerfallenden Luxushotels und seiner skurrilen Bewohner, die, vor dem Hintergrund des im selben Jahr ausbrechenden irischen Unabhängigkeitskriegs, den Zerfall des British Empire spiegelt. In "Die Belagerung von Krishnapur", dem 1973 erschienenen zweiten Roman der Trilogie, für den er den Man-Booker-Preis erhielt, dreht Farrell noch einmal mächtig auf. Da rollen die Köpfe scharenweise - für Farrell kein Grund, den Humor zu verlieren.
Der Roman versetzt den Leser in den indischen Aufstand des Jahres 1857, der nach den Sepoys, den indischen Soldaten der Britischen Ostindien-Kompanie, auch Sepoy-Aufstand heißt. Der Handlungsort Krishnapur ist nur in Maßen imaginär: Farrell hat ihn der Garnison von Lakhnau (Lucknow) nachgeformt, wo die Besatzung aus rund 1500 britischen und loyalen indischen Soldaten und eine ebenso große Anzahl von Zivilisten fünf Monate lang der Belagerung drückend überlegener Sepoy-Truppen unter schwersten Verlusten standzuhalten vermochten - eine Episode, die in die Heroengeschichte des British Empire einging und, worauf Pankaj Mishra in seinem Nachwort aufmerksam macht, die Mode patriotischer "Aufstandsromane" hervorbrachte. Farrell hat die historischen Quellen sorgfältig studiert und liefert auf dieser Basis mit hohem Sinn fürs atmosphärische Detail die ironische Variante eines Aufstandsromans.
Die zentrale Figur seines Romans ist Mr. Hopkins, der "Collector" von Krishnapur, einer der ranghöchsten Beamten der britischen Zivilverwaltung mit erheblichen Machtbefugnissen. Schon bei den ersten Anzeichen eines drohenden Aufstandes lässt er - unter Missbilligung seiner sorglosen Umgebung - seine Residenz mit einigen angrenzenden Gebäuden zu einer improvisierten Festung ausbauen. Der Collector ist ein unbedingter Verfechter des Fortschrittsglaubens und überzeugt insbesondere von der Überlegenheit der britischen Zivilisation. Seine bei jeder Gelegenheit hervorgezogene Bibel ist deshalb der Katalog der "Great Exhibition", der Londoner Weltausstellung von 1851, die er "als ein gemeinsames Gebet aller zivilisierten Nationen" beurteilt und von der er eine Menge von Farrell mit Gespür für zeittypische Kuriositäten ausgewählte Objekte als Zeugnisse des unaufhaltsamen Fortschritts in seine indische Residenz importiert hat. Der Collector, der mit Autorität, Würde und Sachverstand den Widerstand der Residenz beim bald ausbrechenden Aufstand organisiert und dem dabei alle seine Überzeugungen Schritt für Schritt abhandenkommen, ist der komplexeste Charakter des so spannenden wie amüsanten Romans.
Ihn umgibt Farrell mit einer Fülle farbiger Figuren, die seine herrliche Charakterisierungskunst immer haarscharf an der Karikatur vorbeischrammen lässt und die insgesamt ein possierliches Panorama der frühviktorianischen Gesellschaft ergeben. Da sind der sentimentale Schöngeist Fleury, der unter dem Druck der Belagerung das kindliche Heldentum einer Comicfigur entwickelt und sich den Wonnen des Alltags zuwendet, und seine verwitwete Schwester Miriam, die ihr Überleben damit sichert, dass sie sich zu einem illusionslosen Pragmatismus bekennt, da ist die nach dem Musterkatalog einer viktorianischen Schönheit entworfene prüde-kokette Arzttochter Louise, die am Ende der Belagerung, von Furunkeln übersät und von Skorbut geplagt, achtlos darüber hinwegsieht, dass aus ihrem zerrissenen Kleid ein Stück ihrer Brust hervorblitzt, da ist der dem Collector im Rang nachgeordnete "Magistrate", der als zynischer Materialist und reformorientierter Chartist im Dreck und Gestank der Belagerung seinen Glauben an die Menschheit verliert, und da ist ein Pfarrer, der unter dem Pfeifen der Kugeln noch den Sterbenden seine physikotheologischen Gottesbeweise in die ertaubenden Ohren brüllt. Und da ist Leutnant Harry, der in Gefahr und größter Not immer das tut, was man offensichtlich von einem, der Harry heißt und englischer Leutnant ist, erwarten darf: durch ein irres Husarenstück die im Grunde schon unrettbar verlorene Residenz für ein paar weitere Tage zu retten.
Dies überdrehte Ensemble virtuoser Charakterdarsteller höchst britischer Prägung, das den Leser immer wieder zweifeln lässt, ob er sich in einem realistischen Kriegsroman befindet oder nicht doch in einer Slapstickkomödie, nutzt Farrell zur Kritik an der Borniertheit, der Selbstgefälligkeit und den Werten der viktorianischen Gesellschaft, die er mit wildem Witz in den Schlächtereien Mann gegen Mann, dem Schlamm und dem Hunger der Belagerung von Krishnapur zugrunde gehen lässt. Zu Anfang der Belagerung unternimmt der Collector seine Kontrollgänge noch mit Tropenhelm und Stock und im Gehrock, in dessen Knopfloch er eine rosarote Rose trägt, aber schon bald kommt der Augenblick, in dem bei der obligaten Teestunde mit seinen Offizieren "eine Serie von Musketenkugeln" dafür sorgt, dass seine zitternde Hand den Zucker nicht mehr aus der Dose in die Tasse befördern kann. Und wenige Wochen später muss er sich das eingestehen, was ihm Farrell mit schwereloser Amüsiertheit ins Bewusstsein schreibt: "Aus dem Hof, wo seine Glaubensüberzeugungen wie gemästete Hühner auf der Stange gehockt hatten, wurden in jeder Nacht der Belagerung eine oder zwei zwischen den Zähnen des Rationalismus und der Verzweiflung davongetragen." In den Monaten der Belagerung gehen alle Zeugnisse der britischen Kultur - "Humidore und Kerzenleuchter, Elefantenfüße mit Überbau und Ruderblätter mit Namen von College-Eights in Goldfarbe" - und insbesondere die Kulturtrophäen der Weltausstellung als Füllmaterial in den Befestigungsanlagen von Krishnapur zugrunde. Und als am Ende der die Entsatztruppen führende englische General die Überlebenden von Krishnapur entsetzt betrachtet, da glaubt er, eine Gesellschaft im schlammigsten Urzustand, schlimmer noch: indische Parias vor Augen zu haben: "Er hatte noch nie Engländer gesehen, die sich dermaßen hatten gehen lassen; sie sahen eher aus wie Unberührbare."
James Gordon Farrells mit wüster Lust am Untergang erzählter Roman ist das Werk eines Mannes, den man einen geborenen Erzähler wird nennen müssen. Er erzählt derart im besten Sinne hemmungslos, als habe es nie eine Krise des Erzählens und nie einen modernen Roman gegeben, und bei Bedarf wendet er sich auch gern einmal direkt an den Leser: "Können Sie sich vorstellen, wie sich der Besitzer eines guten Chesterfield-Sofas gefühlt haben muss, es derart im Polizeigriff zum Untergang im peitschenden Regen abgeschleppt zu sehen?" Sehr britisch dies alles! Und das reine Lesevergnügen!
Nur eines darf man von James Gordon Farrells von Grete Osterwald flüssig übersetztem und mit nützlichen historischen Erläuterungen versehenem Roman nicht erwarten: dass seine Kritik an den Bewusstseinsformen der viktorianischen Gesellschaft, in denen sich der Untergang des British Empire ankündigt, sich ausweitet zu einer auch nur halbwegs tragfähigen Kritik am britischen Kolonialismus. Dazu bleiben die Inder selbst allzu klischeehaft und auch zu sehr im Hintergrund dieses Romans, und dazu hätte er überdies auf den britischen Rachefeldzug eingehen müssen, der dem indischen Aufstand folgte. Als der sentimentale Fleury sich einmal zu fragen beginnt, "wie viel vom indischen Leben dem Engländer, der gerüstet mit seiner eigenen Religion und eigenen Sitten herkam, verschlossen blieb", weist er sich selbst sofort mit der Überlegung zurecht, es sei dies "nicht der Moment, damit anzufangen, über solche Dinge nachzugrübeln".
Wenn der Indische Aufstand nicht der rechte Moment war, welcher dann? Man merkt es dem Roman jedenfalls nicht an, dass Queen Victoria, deren Porträt Farrell "aus blauen Glubschaugen" auf das blutige Geschehen blicken lässt, zwanzig Jahre nach der Niederschlagung des Aufstands 1877 zur Empress of India gekrönt wird. Farrell, der Entertainer, der alles aus der britischen Perspektive erzählt, möchte, dass der Leser sich gern an seine Helden erinnert: ein wunderbarer Kerl, dieser Collector, prächtige Jungs, dieser Harry und dieser Fleury, die den Sepoys noch einmal zeigen, wie man kämpft! Der Preis, den er dafür zahlt, besteht darin, dass er die von ihm erzählte mörderische Episode weitgehend aus der politischen Geschichte des Kolonialismus herausbricht.
ERNST OSTERKAMP
James Gordon Farrell: "Die Belagerung von Krishnapur". Roman.
Aus dem Englischen von Grete Osterwald. Nachwort von Pankaj Mishra. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015. 478 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Farrells buchstäblich schreiend komisches Buch über die abenteuerliche Situation der Belagerten, konsequent aus britischer Perspektive geschrieben, ist ein Zwitter aus minutiös recherchiertem historischem Roman und burlesker Parodie." - Dorothea Dieckmann, Deutschlandfunk, Juni 2016 Dorothea Dieckmann Deutschlandfunk 20160613