Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 15,00 €
  • Gebundenes Buch

Die »Euthanasie-Morde« und wie wir damit umgehen. 200.000 Deutsche wurden zwischen 1939 und 1945 ermordet, weil sie psychisch krank waren, als aufsässig, erblich belastet oder einfach verrückt galten. Nicht wenige Angehörige nahmen den Mord an ihren behinderten Kindern, Geschwistern, Vätern und Müttern als Befreiung von einer Last stillschweigend hin. Die meisten Familien schämen sich bis heute, die Namen der Opfer zu nennen. Beklemmend aktuell lesen sich die Rechtfertigungen der vielen Beteiligten: Erlösung, Gnadentod, Lebensunterbrechung, Sterbehilfe oder Euthanasie. Götz Aly bringt mit…mehr

Produktbeschreibung
Die »Euthanasie-Morde« und wie wir damit umgehen. 200.000 Deutsche wurden zwischen 1939 und 1945 ermordet, weil sie psychisch krank waren, als aufsässig, erblich belastet oder einfach verrückt galten. Nicht wenige Angehörige nahmen den Mord an ihren behinderten Kindern, Geschwistern, Vätern und Müttern als Befreiung von einer Last stillschweigend hin. Die meisten Familien schämen sich bis heute, die Namen der Opfer zu nennen. Beklemmend aktuell lesen sich die Rechtfertigungen der vielen Beteiligten: Erlösung, Gnadentod, Lebensunterbrechung, Sterbehilfe oder Euthanasie. Götz Aly bringt mit seinem neuen Buch Licht in ein düsteres Kapitel der deutschen Gesellschaftsgeschichte.

»(Alys) Stil ist von einer ungemütlichen, unterhaltenden Faktendichte, einer immer ins Herz des Konsenses treffenden Schärfe.« Gustav Seibt
Autorenporträt
Aly, GötzGötz Aly ist Historiker und Journalist. Er arbeitete für die »taz«, die »Berliner Zeitung« und als Gastprofessor. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt. 2002 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis, 2003 den Marion-Samuel-Preis, 2012 den Ludwig-Börne-Preis. Bei S. Fischer erschienen von ihm u.a. 2011 »Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933« sowie 2013 »Die Belasteten. 'Euthanasie' 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte«. Im Februar 2017 erschien seine große Studie über die europäische Geschichte von Antisemitismus und Holocaust »Europa gegen die Juden 1880-1945«. Für dieses Buch erhielt er 2018 den Geschwister-Scholl-Preis.Literaturpreise:Heinrich-Mann-Preis für Essayistik der Akademie der Künste Berlin 2002Marion-Samuel-Preis 2003Bundesverdienstkreuz am Bande 2007National Jewish Book Award, USA 2007Ludwig-Börne-Preis 2012Estrongo Nachama Preis für Zivilcourage und Toleranz 2018Geschwister-Scholl-Preis 2018
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Unbequem und bemerkenswert, wie gewohnt, findet Cord Aschenbrenner das neue Buch von Götz Aly. Der Rezensent bewundert die besondere Perspektivwahl, mit der Aly die Opfer von Hitlers Euthanasiemorden in den Mittelpunkt seiner Studie stellt, der Rest sei ja auch gut erforscht. Das Lesen der Briefe und Zitate aus Krankenakten berührt Aschenbrenner tief und traurig, und das vom Autor dokumentierte Verhalten der Angehörigen verstört ihn, auch wenn der Autor ausdrücklich auf Verurteilungen verzichtet. Dass Aly es auch vermeidet, die Gutachter des Euthanasieprogramms als stumpfe Schlächter darzustellen, scheint Aschenbrenner gleichfalls zu beruhigen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2013

An die Namen der Ermordeten erinnern

Vor zwanzig Jahren hätte Götz Alys neuestes Buch über "Euthanasie" im "Dritten Reich" als anregende Zusammenschau und Inspirationsquelle gewirkt.

Von Magnus Brechtken

Götz Aly gilt in Historikerkreisen als gleichermaßen originell, inspiriert und schwierig. Er hat sich diesen Ruf mit Ausdauer und Verve erschrieben. Seine Texte leben von präzisen, oft neuen Fragen und Details, seiner anschaulichen Sprache, seinem Streben nach klaren Positionen, bisweilen von gezielter Provokation und süffisanter Polemik, namentlich gegen die Historikerzunft. Kein Wunder, dass viele hinblicken, sobald ein "neuer Aly" erscheint.

Auch mit seinem jüngsten Buch über die "Euthanasie" - dem gezielten Mord an rund 200 000 hilflosen, unschuldigen Menschen im Zweiten Weltkrieg - enttäuscht er die Erwartungen nicht. Der Text ist plastisch formuliert und quillt vor Details, die Aly mit Reflexionen auf seine eigene Erfahrungsgeschichte verbindet, Seitenhiebe auf deutsche Zeitgeschichtsforscher inklusive. Die empfindet er als "publikumsscheu, gedankenarm und immer auf der Suche nach Drittmitteln und Druckkostenzuschüssen". Fast amüsant ist da der Hinweis, dass die Wurzeln des Buches auf ein gescheitertes Drittmittelprojekt am Anfang der 1980er Jahre zurückreichen. Aly schildert das Schicksal seines DFG-Antrags auf ein Habilitationsstipendium, der trotz Befürwortung durch Karl Dietrich Bracher und Eberhard Jäckel scheiterte. Davon ließ er sich nicht aufhalten und legte über die Jahre mehr als zwanzig einschlägige Publikationen vor. Daraus entstand nun "endlich, nach 32 Jahren" dieses Buch.

Die Vorgeschichte verweist auf den ambivalenten Kern des Werkes: Der Text spiegelt und resümiert Alys jahrzehntelange Beschäftigung mit Themen wie "Euthanasie", Medizin und Psychiatrie im Nationalsozialismus, Utilitarismus und Expertendenken, Rassenpolitik und Volksverhalten. Seine älteren Texte sind hier teils zusammengefasst, teils umformuliert, jedenfalls "gründlich bearbeitet und ergänzt". Das heißt aber: Den Haupt-Korpus bilden Alys schon verfügbare, wenngleich nicht durchweg prominente Veröffentlichungen.

Der Textzusammenhang ergibt sich weniger aus einer systematischen Konzeption zu einer im Titel angezeigten "Gesellschaftsgeschichte" als durch Alys im Forschungsfeld schweifende Fragen und Interessen. Diese sind ausgesprochen heterogen: Man findet Beschreibungen des medizinischen und psychiatrischen Denkens, der zeitgenössischen Diskurse und Auffassungen zur Rassenhygiene, zur Erbgesundheitspflege und dem generellen Kontext eines die "Ingenieurbarkeit" des Menschen anstrebenden Zeitgeistes, verbunden mit Schilderungen des Mordalltags, ergreifenden Texten von Opfern und deren Angehörigen, dazu Namenslisten und Lebensläufe von Mördern und Betroffenen gleichermaßen. Dabei reicht Alys Blick auch über das Deutsche Reich hinaus bis in die eroberten Ostgebiete, aus denen er Beispiele für Krankenmord im Kontext von Kriegführung und Umsiedlungsplänen präsentiert.

Man liest Beschreibungen von Personen, Analysen von Ereignissen, Beobachtungen und Thesen, die für sich genommen viele Informationen, Einsichten, nicht selten tief Bewegendes bieten, sich aber in der Summe nicht zum komponierten, verbundenen Bild fügen. Oft hätte man gern mehr erfahren, einen systematischeren Zugriff gewünscht, auch einen längeren Blick auf die Personen, Opfer wie Täter. Das gilt nicht zuletzt für den Blick über 1945 hinaus, die juristische Verarbeitung einerseits, die Kontinuität vieler Karrieren andererseits.

Bei manchen Medizinern bietet Aly Details, bisweilen mit persönlichem Bezug zum eigenen Lebensweg. In vielen Fällen vermisst man diese Weiterungen. Ein Beispiel: Monika Schneider, geborene Jörgen, war die Schwiegertochter von Carl Schneider, einem besonders engagierten "Euthanasie"-Mediziner. Mit seiner Hilfe experimentierte Monika Schneider für ihre Doktorarbeit mit dreißig geistig behinderten Kindern. Wenige Wochen bevor sich Carl Schneider 1946 das Leben nahm, wurde die Schwiegertochter in Leipzig promoviert. Über ihre weitere Karriere erführe man gern mehr. Zumindest aber läse man gern eine Begründung, warum Aly die einen Details liefert, die anderen nicht. So wirken viele Passagen.

Die Vielzahl der Täternamen verschwimmt bisweilen zu einer bloßen Aufzählung, bei der allenfalls Experten einen Kontext herstellen können. Der nicht mit den Verästelungen der "Euthanasie"-Forschung vertraute Leser wird dazu neigen, auf der Suche nach synthetisierenden Sätzen darüber hinwegzusehen. Wollte man das Buch dagegen als eine Art Handbuch benutzen, um über die vielen Täter, ihr Denken, ihr Wirken, ihre Karrieren mehr zu erfahren, dann wiederum sind die Informationen oft dürftig und über den Text verstreut. Selbst eine so entscheidende Figur wie Herbert Linden, in Alys Worten "der Generalbevollmächtigte für Euthanasieangelegenheiten", wird nicht zusammenhängend vorgestellt.

Ein anderer Aspekt ist der Bezug zu Forschung und Erinnerung, wie man ihn in einer aktuellen "Gesellschaftsgeschichte" erwarten möchte. Aly hat seine Arbeiten stets umfangreich aus den Quellen entwickelt. Dadurch hat er in den 1980er und 1990er Jahren Pionierarbeit geleistet und ein erhebliches Verdienst daran, das wissenschaftliche und öffentliche Bewusstsein für das Themenfeld "Euthanasie" geschärft zu haben. Aber inzwischen gibt es neben den an einigen Stellen hervorgehobenen Publikationen, beispielsweise von Ernst Klee und Heinz Faulstich, eine recht breite Forschungsentwicklung, deren Reflexion sinnfällig wäre. Als ein Beispiel sei der von Michael von Cranach und Hans-Ludwig Siemen 1999 herausgegebene, jüngst wieder aufgelegte Band zur "Psychiatrie im Nationalsozialismus" genannt. Dazu gehört auch die durch Michael von Cranach konzipierte Ausstellung "In Memoriam", die an mehr als einem Dutzend Orten auch über Deutschland hinaus zu sehen war und das Bewusstsein für die Euthanasiemorde weit in die Öffentlichkeit getragen hat.

Hervorzuheben ist der Grundtenor von Alys Anliegen: das Inhumane, das von christlichen Werten und den Moralvorstellungen der Aufklärung gleichermaßen entfernte Denken der Zeit und der Gesellschaft vorzuführen. Auch die Ambivalenz der Charaktere wird plastisch: Ärzte, die sich als eifrige Reformer des Psychiatriewesens engagierten und gleichzeitig als Euthanasie-Täter handelten; Massenmörder, die "freundliche Kinderkrankenhäuser" planten. Alys Hauptanliegen ist, an die Namen der Toten zu erinnern: "Es ist an der Zeit, die Ermordeten namentlich zu ehren und ihre Lebensdaten in einer allgemein zugänglichen Datenbank zu nennen." Dem kann man nur zustimmen. Wenngleich auch hier die Verbindung zur Arbeit in den Gedenkstätten und zu bereits laufenden Projekten - etwa zum "Gedenkbuch an die Münchner Opfer der NS-Euthanasie" - gezogen werden sollte.

Alys Publikationen zum Thema "Euthanasie" waren dem Hauptstrom der Forschung oft voraus. Vor zwanzig Jahren hätte dieses Buch als anregende Zusammenschau und Inspirationsquelle gewirkt. Für eine aktuelle Gesellschaftsgeschichte jedoch sehnt sich der Leser nach mehr Systematik, Stringenz und jener eigenständigen Kohärenz mit der weiteren Forschung, die aus den vielen Beobachtungen und Analysen ein eigenes, neues Bild entstehen lassen könnte. In der hier präsentierten Form werden in erster Linie Alys Beiträge zur Diskussionsentwicklung deutlich - mit reichlich Thesen und Material nicht zuletzt für ein künftiges Dissertationsprojekt: "Götz Aly als NS-Forscher".

Götz Aly: Die Belasteten. "Euthanasie" 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte.

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2013. 348 S., 22,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
Alys provokante Thesen eröffnen eine spannende und bislang wenig beachtete Perspektive auf den NS-Krankenmord Astrid Ley Zeitschrift für Geschichtswissenschaft