Die geheime Aufrüstung der Weimarer Republik basierte auf einem lagerübergreifenden Wehrkonsens. Von den Republikanern in den Krisen der ersten Jahre zunächst als Form des Republikschutzes mitgetragen, wurde die Unterstützung der "schwarzen Rüstungen" zu einem Element der Weimarer Staatsraison, die auch für die Republikaner verbindlich blieb - selbst dann, als die geheime personelle Rüstung, etwa in Gestalt der Grenzschutzmilizen im preußischen Osten, zur Hochburg eines rechtsradikalen und staatsfeindlichen Paramilitarismus wurde. Der Autor rekonstruiert erstmals die umfassende Unterstützung der Geheimrüstung durch Politik und Verwaltung und belegt die Existenz eines "deep state", eines durch die zivil-militärische Rüstungskooperation konstituierten "Tiefenstaats", der zwar in der republikanischen Ordnung verankert war, aber außerhalb ihrer Normen und Gesetze agierte. Schließlich verortet sie diesen Wehrkonsens in der ideengeschichtlichen Kontinuität bellizistischer, von einem Primat der "Wehrhaftigkeit" ausgehender Denkstile und Deutungsmuster.
Rüdiger Bergien, geboren 1977, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Seine Arbeit wurde mit dem 2. Preis des Werner-Hahlweg-Preises für Militärgeschichte 2010 ausgezeichnet.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Rüdiger Bergien, geboren 1977, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Seine Arbeit wurde mit dem 2. Preis des Werner-Hahlweg-Preises für Militärgeschichte 2010 ausgezeichnet.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.07.2012Republikanische Bellizisten?
Die deutsche Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg und die geheime Rüstungspolitik
Zu den unerhörten Begebenheiten in der an Dramatik nicht eben armen Geschichte des Weimarer Parlamentarismus zählt die Rede, die der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 16. Dezember 1926 im Reichstag hielt. In ihr verurteilte der frühere Ministerpräsident, der 1919 aus Protest gegen die Bedingungen des Versailler Vertrags zurückgetreten war, in scharfer Form Maßnahmen, die dessen Bestimmungen unterlaufen sollten. Anlass war die Lieferung von "Sowjetgranaten für Reichswehrgeschütze". Die politische Rechte bezichtigte Scheidemann des Landesverrats. Aber auch der Zentrumspolitiker Reichskanzler Wilhelm Marx ging auf Distanz. Im Hintergrund spielte nicht nur das Zusammenspiel zwischen Reichswehr und Roter Armee eine Rolle. Vielmehr war der SPD auch die Nähe der Reichswehr zum Gegenpol auf der politischen Skala, zu den verfassungsfeindlichen Rechtsverbänden wie dem Stahlhelm, ein Dorn im Auge. Dazu hatte die Parteiführung umfangreiches Material vorgelegt und gefordert, "dass zwischen den vaterländischen Verbänden und der Reichswehr ein dicker Strich" gezogen werden müsse. Es stellte sich die zentrale Frage, ob die Reichswehr, wie Marx betonte, tatsächlich ein "sicheres Instrument" im Dienst der Republik war oder ob sie, wie ein Abgeordneter der SPD schon 1925 als Möglichkeit andeutete, als "eine Art Staat im Staate" dazu tendierte, den "Boden der Verfassung" zu verlassen.
Hinlänglich bekannt ist, dass der Reichswehr weder an einer Respektierung der friedensvertraglichen Auflagen noch am Erhalt der parlamentarisch-republikanischen Ordnung gelegen war. Rüdiger Bergien wendet sich jetzt allerdings vehement gegen die Auffassung, die Weimarer Republik sei von Seiten des Militärs gewissermaßen überwältigt worden. Wolle man den Hintergründen für die geheime Aufrüstung und ganz allgemein der Weimarer Wehr- und Sicherheitspolitik auf die Spur kommen, müsse man die darüber bestehende "Übereinkunft zwischen zivilen und militärischen Eliten sowie gesellschaftlichen Akteuren" beachten. So monierte die SPD-Führung die geheime Rüstung nicht grundsätzlich, sondern nur gewisse Formen ihrer praktischen Umsetzung. Das Projekt der Landesverteidigung sollte nicht unterbleiben, sondern "republikverträglich" vorangetrieben werden. Im Unterschied zum organisierten Pazifismus und zum eigenen linken Flügel trug die SPD zusammen mit den anderen verfassungstreuen Parteien den Weimarer Wehrkonsens nicht nur mit, sondern gestaltete ihn auch ganz bewusst. Dies bewahrte die Sozialdemokraten zwar nicht vor der schon im Kaiserreich geübten Stigmatisierung, "vaterlandslose Gesellen" zu sein. Tatsächlich aber standen sie mehrheitlich in der Kontinuität eines aus dem 19. Jahrhundert stammenden Wehr-Diskurses, in dem Wehrhaftmachung und Landesverteidigung integrative Leitbegriffe darstellten.
In Weiterentwicklung früherer Forschungen von Andreas Hillgruber und Michael Geyer arbeitet Bergien mit dem Begriff der Bellizität. Bellizismus sei über alle innenpolitischen Fronten hinweg der "handlungsleitende Denkstil" gewesen. Um ungewollte Assoziationen zu vermeiden, wird betont, dass nicht Verherrlichung des Krieges oder gezielter Einsatz von Krieg als Mittel der Politik gemeint sind. Unter republikanischem Bellizismus versteht er die "Fähigkeit zur Kriegführung, die auf den Ressourcen und Institutionen der Zivilgesellschaft aufbaute".
Das Ebert-Groener-Bündnis vom November 1918 gewinnt so eine neue Dimension. Es erscheint nicht mehr als Verrat der Mehrheitssozialdemokraten an der Revolution oder als Flucht in eine für den Bestand der Republik letztlich verhängnisvolle Anlehnung an die alten Eliten, sondern als konstitutiver und gezielt herbeigeführter republikanischer Gründungskonsens. Von den kurzlebigen und schon 1920 von den Alliierten verbotenen Einwohnerwehren, die zum Schutz der Republik gegen innere Feinde von links und rechts und gegen die äußere Bedrohung im deutsch-polnischen Grenzbereich als Milizorganisation eine "neuartige zivil-militärische Kooperationsform" darstellten, bis hin zu den nach Abzug der Interalliierten Militär-Kontrollkommission 1927 zügig als "Parallelheer" ausgebauten Landesschutzorganisationen spielten zivile Repräsentanten der Republik eine zentrale Rolle.
Bergien nennt sie "republikanische Bellizisten". Auf der politischen Führungsetage werden unter anderen Joseph Wirth vom Zentrum, Reichskanzler 1921/22, und der Sozialdemokrat Carl Severing, wiederholt preußischer Innenminister, herausgedeutet. Vor allem aber wird die Rolle der staatlichen Bürokratie beleuchtet, ohne die die am Parlament vorbeigehende Finanzierung der Rüstungsmaßnahmen nicht möglich gewesen wäre. Darüber hinaus kommen die regionalen und lokalen Verwaltungen in den Blick, in deren Bereich sich die soziale Praxis der Wehrhaftmachung unter Einbeziehung rechtsradikaler Kräfte auch und gerade in Preußen, dem vermeintlichen Bollwerk gegen Verfassungsfeinde, zunehmend außerhalb der republikanischen Ordnung bewegte. Die Dynamik der geheimen Rüstung leitete schließlich seit 1929/30 über zur Transformation der Republik, als das "Ziel der Rüstung nicht mehr Verteidigungs-, sondern Angriffskrieg" lautete. Das "Startkapital" für die NS-Rüstung lag bereit.
So eindrucksvoll die Befunde sind, so ist doch Zweifel an Bergiens deterministischer Deutung der gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung angebracht. War die "Präsenz des Kriegs im Frieden", von der er spricht, tatsächlich so dominant, dass die Weimarer Nachkriegsgesellschaft "um das Jahr 1924/25 herum unmittelbar in die Vorkriegsgesellschaft" überging? War die Lage Mitte der 1920er Jahre nicht viel offener? Die Politik Gustav Stresemanns, der in diesem Buch merkwürdigerweise nur am Rande vorkommt, scheint doch die Vereinbarkeit von Rüstung und Entspannungspolitik nahezulegen.
GOTTFRIED NIEDHART
Rüdiger Bergien: Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und "Wehrhaftmachung" in Deutschland 1918-1933. R. Oldenbourg Verlag, München 2012. 464 S., 59,80 [Euro].
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Die deutsche Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg und die geheime Rüstungspolitik
Zu den unerhörten Begebenheiten in der an Dramatik nicht eben armen Geschichte des Weimarer Parlamentarismus zählt die Rede, die der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 16. Dezember 1926 im Reichstag hielt. In ihr verurteilte der frühere Ministerpräsident, der 1919 aus Protest gegen die Bedingungen des Versailler Vertrags zurückgetreten war, in scharfer Form Maßnahmen, die dessen Bestimmungen unterlaufen sollten. Anlass war die Lieferung von "Sowjetgranaten für Reichswehrgeschütze". Die politische Rechte bezichtigte Scheidemann des Landesverrats. Aber auch der Zentrumspolitiker Reichskanzler Wilhelm Marx ging auf Distanz. Im Hintergrund spielte nicht nur das Zusammenspiel zwischen Reichswehr und Roter Armee eine Rolle. Vielmehr war der SPD auch die Nähe der Reichswehr zum Gegenpol auf der politischen Skala, zu den verfassungsfeindlichen Rechtsverbänden wie dem Stahlhelm, ein Dorn im Auge. Dazu hatte die Parteiführung umfangreiches Material vorgelegt und gefordert, "dass zwischen den vaterländischen Verbänden und der Reichswehr ein dicker Strich" gezogen werden müsse. Es stellte sich die zentrale Frage, ob die Reichswehr, wie Marx betonte, tatsächlich ein "sicheres Instrument" im Dienst der Republik war oder ob sie, wie ein Abgeordneter der SPD schon 1925 als Möglichkeit andeutete, als "eine Art Staat im Staate" dazu tendierte, den "Boden der Verfassung" zu verlassen.
Hinlänglich bekannt ist, dass der Reichswehr weder an einer Respektierung der friedensvertraglichen Auflagen noch am Erhalt der parlamentarisch-republikanischen Ordnung gelegen war. Rüdiger Bergien wendet sich jetzt allerdings vehement gegen die Auffassung, die Weimarer Republik sei von Seiten des Militärs gewissermaßen überwältigt worden. Wolle man den Hintergründen für die geheime Aufrüstung und ganz allgemein der Weimarer Wehr- und Sicherheitspolitik auf die Spur kommen, müsse man die darüber bestehende "Übereinkunft zwischen zivilen und militärischen Eliten sowie gesellschaftlichen Akteuren" beachten. So monierte die SPD-Führung die geheime Rüstung nicht grundsätzlich, sondern nur gewisse Formen ihrer praktischen Umsetzung. Das Projekt der Landesverteidigung sollte nicht unterbleiben, sondern "republikverträglich" vorangetrieben werden. Im Unterschied zum organisierten Pazifismus und zum eigenen linken Flügel trug die SPD zusammen mit den anderen verfassungstreuen Parteien den Weimarer Wehrkonsens nicht nur mit, sondern gestaltete ihn auch ganz bewusst. Dies bewahrte die Sozialdemokraten zwar nicht vor der schon im Kaiserreich geübten Stigmatisierung, "vaterlandslose Gesellen" zu sein. Tatsächlich aber standen sie mehrheitlich in der Kontinuität eines aus dem 19. Jahrhundert stammenden Wehr-Diskurses, in dem Wehrhaftmachung und Landesverteidigung integrative Leitbegriffe darstellten.
In Weiterentwicklung früherer Forschungen von Andreas Hillgruber und Michael Geyer arbeitet Bergien mit dem Begriff der Bellizität. Bellizismus sei über alle innenpolitischen Fronten hinweg der "handlungsleitende Denkstil" gewesen. Um ungewollte Assoziationen zu vermeiden, wird betont, dass nicht Verherrlichung des Krieges oder gezielter Einsatz von Krieg als Mittel der Politik gemeint sind. Unter republikanischem Bellizismus versteht er die "Fähigkeit zur Kriegführung, die auf den Ressourcen und Institutionen der Zivilgesellschaft aufbaute".
Das Ebert-Groener-Bündnis vom November 1918 gewinnt so eine neue Dimension. Es erscheint nicht mehr als Verrat der Mehrheitssozialdemokraten an der Revolution oder als Flucht in eine für den Bestand der Republik letztlich verhängnisvolle Anlehnung an die alten Eliten, sondern als konstitutiver und gezielt herbeigeführter republikanischer Gründungskonsens. Von den kurzlebigen und schon 1920 von den Alliierten verbotenen Einwohnerwehren, die zum Schutz der Republik gegen innere Feinde von links und rechts und gegen die äußere Bedrohung im deutsch-polnischen Grenzbereich als Milizorganisation eine "neuartige zivil-militärische Kooperationsform" darstellten, bis hin zu den nach Abzug der Interalliierten Militär-Kontrollkommission 1927 zügig als "Parallelheer" ausgebauten Landesschutzorganisationen spielten zivile Repräsentanten der Republik eine zentrale Rolle.
Bergien nennt sie "republikanische Bellizisten". Auf der politischen Führungsetage werden unter anderen Joseph Wirth vom Zentrum, Reichskanzler 1921/22, und der Sozialdemokrat Carl Severing, wiederholt preußischer Innenminister, herausgedeutet. Vor allem aber wird die Rolle der staatlichen Bürokratie beleuchtet, ohne die die am Parlament vorbeigehende Finanzierung der Rüstungsmaßnahmen nicht möglich gewesen wäre. Darüber hinaus kommen die regionalen und lokalen Verwaltungen in den Blick, in deren Bereich sich die soziale Praxis der Wehrhaftmachung unter Einbeziehung rechtsradikaler Kräfte auch und gerade in Preußen, dem vermeintlichen Bollwerk gegen Verfassungsfeinde, zunehmend außerhalb der republikanischen Ordnung bewegte. Die Dynamik der geheimen Rüstung leitete schließlich seit 1929/30 über zur Transformation der Republik, als das "Ziel der Rüstung nicht mehr Verteidigungs-, sondern Angriffskrieg" lautete. Das "Startkapital" für die NS-Rüstung lag bereit.
So eindrucksvoll die Befunde sind, so ist doch Zweifel an Bergiens deterministischer Deutung der gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung angebracht. War die "Präsenz des Kriegs im Frieden", von der er spricht, tatsächlich so dominant, dass die Weimarer Nachkriegsgesellschaft "um das Jahr 1924/25 herum unmittelbar in die Vorkriegsgesellschaft" überging? War die Lage Mitte der 1920er Jahre nicht viel offener? Die Politik Gustav Stresemanns, der in diesem Buch merkwürdigerweise nur am Rande vorkommt, scheint doch die Vereinbarkeit von Rüstung und Entspannungspolitik nahezulegen.
GOTTFRIED NIEDHART
Rüdiger Bergien: Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und "Wehrhaftmachung" in Deutschland 1918-1933. R. Oldenbourg Verlag, München 2012. 464 S., 59,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ganz so bellizistisch, wie der Autor weismachen will, war die Weimarer Republik Mitte der 1920er Jahre dann doch nicht, findet Rezensent Gottfried Niedhart. Ein Indiz ist für ihn die Tatsache, dass bei Rüdiger Bergien Gustav Stresemann nur am Rande vorkommt. Stresemanns Politik attestiert Niedhart jedoch gerade die Chance auf eine Vereinbarkeit von Rüstung und Entspannungspolitik. Eindrucksvolle Befunde möchte er dem Autor gar nicht absprechen, nur dessen Determinismus der Deutung ein wenig abfedern und zwischen gesellschaftlichen, zivilen und militärischen Kräften differenzieren, die Bergien zum Beispiel mit regionalen und lokalen Verwaltungen in den Blick nimmt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Mit diesem Buch legt Rüdiger Bergien eine empirisch dichte Analyse der personellen Geheimrüstung in Weimar vor, die mit dem Aufweis der zivil-militärischen Kooperation im Landesschutz einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis der deutschen Militärgeschichte von 1918 bis 1933 leistet." Benjamin Ziemann in H-Soz-u-Kult ''Bergiens These des lagerübergreifenden Wehrkonsenses überzeugt. Dieses Buch zeigt das Potential einer erweiterten Militärgeschichte.'' Die Welt online, 21.07.2012 ''Selten hält man ein Buch in der Hand, welches das, was es einleitend zu leisten verspricht, auf Punkt und Beistrich einlöst. Die Arbeit verfügt über eine wohlüberlegte Fragestellung, ein geeignetes theoretisches Instrumentarium sowie eine ungemein breite Quellenbasis (...).'' Militärgeschichtliche Zeitschrift, Heft 1/2012