Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.2003Nicht nur Rachedurst des Mobs
Neuerscheinungen über die Benes-Dekrete: Dokumente und Studien
Karel Jech (Herausgeber): Die Deutschen und Magyaren in den Dekreten des Präsidenten der Republik. Studien und Dokumente 1940-1945. Zweisprachige Ausgabe. Herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte der tschechischen Akademie der Wissenschaften. Doplnek Verlag, Brünn 2003. 688 Seiten, 378 CZK (11,60 [Euro]).
Niklas Perzi: Die Benes-Dekrete. Eine europäische Tragödie. Niederösterreichisches Pressehaus, St.Pölten/Wien/Linz 2003. 364 Seiten, 23,90 [Euro].
Wenn sich die Geschichtswissenschaft der Politik gleich doppelt andient, nämlich zur Regierungsberatung wie zur Verteidigung sogenannter "nationaler Interessen" auf dem ideologischen Schlachtfeld, dann bringt sie manchmal merkwürdig zwiespältige Produkte hervor. Ein Beispiel dafür ist die jüngste Publikation des Instituts für Zeitgeschichte der tschechischen Akademie der Wissenschaften über die Benes-Dekrete. Es wurde vom deutsch-tschechischen Zukunftsfonds finanziert und soll "zur Beseitigung früherer sowie so mancher noch andauernder Mißverständnisse" beitragen, wie Karel Jech in seinem Vorwort schreibt. Denn es käme darauf an, gegen "Entstellungen" aufzutreten, "die ganz bewußt durch politische Kampagnen oder Polemiken in den Medien verbreitet werden."
Die These, die Jech im wissenschaftlichen Gewande propagiert, ist die regierungsoffizielle. Die Benes-Dekrete, behauptet er, seien "zur Gänze vergleichbar mit den entsprechenden Gesetzgebungsakten für andere von den Nazis besetzte Länder", ihr Ziel sei lediglich die "Liquidierung des nazistischen und faschistischen Totalitarismus" gewesen, sie seien "im Kontext mit dem damaligen internationalen, vor allem dem europäischen Recht" entstanden und "brachten . . . zugleich die Ausgangsvorstellungen von einer friedlichen Nachkriegsordnung zum Ausdruck". Dies alles wird behauptet, aber nicht weiter argumentiert. Ganz im Gegenteil führen die in diesem Buch enthaltenen Dokumente sehr anschaulich vor Augen, wie radikal das revolutionäre Regime der Nationalen Front in der Tschechoslowakei schon lange vor der Machtergreifung der Kommunisten mit den europäischen Rechtsnormen gebrochen hatte.
Entnommen sind diese Dokumente der 1995 erstmals in Brünn in zwei Bänden vorgelegten und 2002 neu aufgelegten tschechischen Gesamtedition der "Dekrete des Präsidenten der Republik 1940-1945, die von Karel Jech und Karel Kaplan besorgt wurde. Aus den insgesamt 143 Dekreten wurden zwei aus dem Jahr 1940 ausgewählt, die die Basis der Dekretalgesetzgebung abgaben, sowie "dreizehn in polemischen Darstellungen oft zitierte Dekrete" (Jech), also jene, mit denen die Entrechtung und Enteignung der Deutschen und Magyaren verfügt wurde. Sie wurden alle neu übersetzt, denn angeblich würden "einige Dekrete des Präsidenten nach nicht ganz zuverlässigen und teilweise sogar gezielt entstellenden Übersetzungen zitiert" werden. Tatsächlich haben die Übersetzer, wie sie selbst schreiben, dann nur wenige "inhaltliche Ungenauigkeiten" in den bisherigen Übersetzungen festgestellt, die "meist nicht erheblich" sind. Jetzt heißt es "natürliche Person" und nicht "physische Person", und die uneinheitliche Übersetzung von "vyhlásení" als "Kundmachung" oder "Bekanntmachung" wurde ebenfalls beseitigt, womit die textkritische Debatte beendet sein dürfte und man sich wieder dem Inhalt zuwenden könnte. Positiv zu erwähnen sind auch die Anmerkungen zu den Dekreten, die unter anderem auf mit ihnen zusammenhängende Rechtsvorschriften verweisen. Zudem enthält der Band Auszüge aus den Protokollen der Regierungssitzungen, die sich mit der Behandlung der Deutschen und der Ungarn beschäftigten.
Zwei erfreulich sachliche und unpolemische Beiträge von Jan Kuklík über die Entstehungsgeschichte der Dekrete und von Vladimír Mikule über ihre heutige rechtliche Bedeutung ergänzen den Band. Mikule weist zu recht darauf hin, daß der den Dekreten diskriminatorisch zugrunde gelegte Begriff der "deutschen Nationalität" eben nicht an die Staatsbürgerschaft gebunden war, sondern aus Sprache und "Stammeszugehörigkeit" abgeleitet wurde. Ebendiese ethnopolitische Grundierung der Dekrete wurde ja bestritten, nicht zuletzt vom Brünner Verfassungsgerichtshof.
Eine Anmerkung der Herausgeber zum Straffreistellungsgesetz vom 8. Mai 1946 stellt richtig fest, daß auf seiner Grundlage auch Verfahren gegen solche Täter eingestellt wurden, "die bei der Internierung und während der sogenannten wilden Abschiebung im Frühjahr und Sommer 1945 mit verabscheuungswürdiger und brutaler Gewalt gegen Deutsche vorgegangen waren oder die als pseudorevolutionäre Usurpatoren sich den verlassenen deutschen Besitz angeeignet beziehungsweise den Diebstahl ermöglicht und dergleichen gedeckt hatten." Ebendies aber wurde im Zuge der Debatte um den EU-Beitritt der Tschechischen Republik nicht nur von tschechischen Diplomaten, sondern schließlich auch von EU-Kommissar Verheugen vehement in Abrede gestellt.
Der junge österreichische Historiker Niklas Perzi fügt die Problematik der Benes-Dekrete in den großen Zusammenhang der deutsch-tschechischen Geschichte ein und folgt ihr weiter bis in die jüngsten Debatten, die er akribisch registriert hat. Perzi ist die mit Abstand beste und intellektuell anregendste Einführung in dieses Thema gelungen, die zur Zeit auf dem deutschen Buchmarkt erhältlich ist, sachlich, fair und flüssig geschrieben. Im Gegensatz zu einem großen Teil der sudetendeutschen Publizistik argumentiert er mit Nachdruck, daß die "ethnische Flurbereinigung" bei Benes eben nicht chauvinistisch, sondern positivistisch-szientistisch motiviert war. Benes verstand sie "als Beitrag zur Stabilisierung des Staates, den er als sein ureigenstes Geschöpf betrachtete, und Beginn einer sozialen Revolution. 1945 erklärte Benes, daß man nun, nach Herstellung der nationalen Einheit des Landes, darangehen könne, den demokratischen und sozialen Neuaufbau zu bewerkstelligen. 1918 habe man diesen noch, ,aus Rücksicht auf unsere Deutschen und Magyaren', welchen man dieses ,Maß an Freiheit und Demokratie' nicht habe zugestehen können, aufschieben müssen, heute sei die Zeit auch international reif dafür."
Neben dem Rachedurst des Mobs und dem kalkulierten Einsatz von Gewalt zur Zerstörung der sozialen Ordnung durch die Kommunisten bildete der szientistische Glaube der tschechischen Elite in die Plan- und Machbarkeit des Fortschritts ein drittes und entscheidendes Element in der "endgültigen Liquidierung" der "deutschen Frage". Über den dabei einzuschlagenden Weg herrschte breiter Konsens, seit sich Benes 1943 in Moskau mit Stalin verbündet hatte, ebenso über das Ziel, nämlich die Vollendung der nationalen und sozialen Revolution, die Hitlers Zerstörung der europäischen Ordnung ermöglicht hatte. "Die Vertreibung und Enteignung der Deutschen war nur ein Teil davon, wenn auch kein unwichtiger. Rechtlosigkeit, Repressalien gegen angebliche Volksfeinde, Massenmorde, Säuberungen - das alles war keine Erfindung der KP, sondern geschah unter den Augen und mit Zustimmung der Demokraten, mit Benes an der Spitze, schon vorher." Die These von der "Spontaneität" der Befreiung weist Perzi zurück, es handele sich dabei um eine "Schutzbehauptung der wirklich verantwortlichen politischen Eliten des Landes, die keine andere Alternative" als die Vertreibung gesehen hätten.
Natürlich ist unter den tschechischen Demokraten keiner mehr, der so weit ginge, Massenmord, Massenvergewaltigung und roten Straßenterror als unvermeidliche Begleiterscheinung des Aufbaus der neuen Nachkriegsordnung zu rechtfertigen. Die Vorstellung aber, die "endgültige Lösung" der nationalen Frage sei ein Gebot der aufklärerischen Vernunft gewesen, wirkt bis heute weiter, etwa in der Bemerkung des gegenwärtigen tschechischen Ministerpräsidenten Spidla, der "Transfer" der deutschen Bevölkerung habe den Frieden in Europa gesichert.
"1918 wie 1945 waren die Tschechen doppelte Sieger, die Sudetendeutschen doppelte Verlierer - des Krieges wie des Friedens. Beide Male erwiesen sich die Tschechen als schlechte, weil wenig großzügige Sieger." Nun, bilanziert Perzi nach der erfolgreichen Verteidigung der Dekrete durch die Prager Diplomatie vor der Europäischen Union, "steht die tschechische Politik wiederum vor der Alternative, entweder die böhmischen Deutschen wenigstens symbolisch heimzuholen oder auf ihrem zwar rechtlich argumentierbaren, politisch jedoch unklugen Standpunkt zu beharren und damit jenes Gefühl zu erwecken, das schon Arnold Toynbee in den dreißiger Jahren als kleingeistige Rechthaberei brandmarkte - wurzelnd in der so typischen Mischung aus äußerem Triumphgehabe und tiefer innerer Unsicherheit ob der Leichtigkeit des errungenen Sieges".
KARL-PETER SCHWARZ
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Neuerscheinungen über die Benes-Dekrete: Dokumente und Studien
Karel Jech (Herausgeber): Die Deutschen und Magyaren in den Dekreten des Präsidenten der Republik. Studien und Dokumente 1940-1945. Zweisprachige Ausgabe. Herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte der tschechischen Akademie der Wissenschaften. Doplnek Verlag, Brünn 2003. 688 Seiten, 378 CZK (11,60 [Euro]).
Niklas Perzi: Die Benes-Dekrete. Eine europäische Tragödie. Niederösterreichisches Pressehaus, St.Pölten/Wien/Linz 2003. 364 Seiten, 23,90 [Euro].
Wenn sich die Geschichtswissenschaft der Politik gleich doppelt andient, nämlich zur Regierungsberatung wie zur Verteidigung sogenannter "nationaler Interessen" auf dem ideologischen Schlachtfeld, dann bringt sie manchmal merkwürdig zwiespältige Produkte hervor. Ein Beispiel dafür ist die jüngste Publikation des Instituts für Zeitgeschichte der tschechischen Akademie der Wissenschaften über die Benes-Dekrete. Es wurde vom deutsch-tschechischen Zukunftsfonds finanziert und soll "zur Beseitigung früherer sowie so mancher noch andauernder Mißverständnisse" beitragen, wie Karel Jech in seinem Vorwort schreibt. Denn es käme darauf an, gegen "Entstellungen" aufzutreten, "die ganz bewußt durch politische Kampagnen oder Polemiken in den Medien verbreitet werden."
Die These, die Jech im wissenschaftlichen Gewande propagiert, ist die regierungsoffizielle. Die Benes-Dekrete, behauptet er, seien "zur Gänze vergleichbar mit den entsprechenden Gesetzgebungsakten für andere von den Nazis besetzte Länder", ihr Ziel sei lediglich die "Liquidierung des nazistischen und faschistischen Totalitarismus" gewesen, sie seien "im Kontext mit dem damaligen internationalen, vor allem dem europäischen Recht" entstanden und "brachten . . . zugleich die Ausgangsvorstellungen von einer friedlichen Nachkriegsordnung zum Ausdruck". Dies alles wird behauptet, aber nicht weiter argumentiert. Ganz im Gegenteil führen die in diesem Buch enthaltenen Dokumente sehr anschaulich vor Augen, wie radikal das revolutionäre Regime der Nationalen Front in der Tschechoslowakei schon lange vor der Machtergreifung der Kommunisten mit den europäischen Rechtsnormen gebrochen hatte.
Entnommen sind diese Dokumente der 1995 erstmals in Brünn in zwei Bänden vorgelegten und 2002 neu aufgelegten tschechischen Gesamtedition der "Dekrete des Präsidenten der Republik 1940-1945, die von Karel Jech und Karel Kaplan besorgt wurde. Aus den insgesamt 143 Dekreten wurden zwei aus dem Jahr 1940 ausgewählt, die die Basis der Dekretalgesetzgebung abgaben, sowie "dreizehn in polemischen Darstellungen oft zitierte Dekrete" (Jech), also jene, mit denen die Entrechtung und Enteignung der Deutschen und Magyaren verfügt wurde. Sie wurden alle neu übersetzt, denn angeblich würden "einige Dekrete des Präsidenten nach nicht ganz zuverlässigen und teilweise sogar gezielt entstellenden Übersetzungen zitiert" werden. Tatsächlich haben die Übersetzer, wie sie selbst schreiben, dann nur wenige "inhaltliche Ungenauigkeiten" in den bisherigen Übersetzungen festgestellt, die "meist nicht erheblich" sind. Jetzt heißt es "natürliche Person" und nicht "physische Person", und die uneinheitliche Übersetzung von "vyhlásení" als "Kundmachung" oder "Bekanntmachung" wurde ebenfalls beseitigt, womit die textkritische Debatte beendet sein dürfte und man sich wieder dem Inhalt zuwenden könnte. Positiv zu erwähnen sind auch die Anmerkungen zu den Dekreten, die unter anderem auf mit ihnen zusammenhängende Rechtsvorschriften verweisen. Zudem enthält der Band Auszüge aus den Protokollen der Regierungssitzungen, die sich mit der Behandlung der Deutschen und der Ungarn beschäftigten.
Zwei erfreulich sachliche und unpolemische Beiträge von Jan Kuklík über die Entstehungsgeschichte der Dekrete und von Vladimír Mikule über ihre heutige rechtliche Bedeutung ergänzen den Band. Mikule weist zu recht darauf hin, daß der den Dekreten diskriminatorisch zugrunde gelegte Begriff der "deutschen Nationalität" eben nicht an die Staatsbürgerschaft gebunden war, sondern aus Sprache und "Stammeszugehörigkeit" abgeleitet wurde. Ebendiese ethnopolitische Grundierung der Dekrete wurde ja bestritten, nicht zuletzt vom Brünner Verfassungsgerichtshof.
Eine Anmerkung der Herausgeber zum Straffreistellungsgesetz vom 8. Mai 1946 stellt richtig fest, daß auf seiner Grundlage auch Verfahren gegen solche Täter eingestellt wurden, "die bei der Internierung und während der sogenannten wilden Abschiebung im Frühjahr und Sommer 1945 mit verabscheuungswürdiger und brutaler Gewalt gegen Deutsche vorgegangen waren oder die als pseudorevolutionäre Usurpatoren sich den verlassenen deutschen Besitz angeeignet beziehungsweise den Diebstahl ermöglicht und dergleichen gedeckt hatten." Ebendies aber wurde im Zuge der Debatte um den EU-Beitritt der Tschechischen Republik nicht nur von tschechischen Diplomaten, sondern schließlich auch von EU-Kommissar Verheugen vehement in Abrede gestellt.
Der junge österreichische Historiker Niklas Perzi fügt die Problematik der Benes-Dekrete in den großen Zusammenhang der deutsch-tschechischen Geschichte ein und folgt ihr weiter bis in die jüngsten Debatten, die er akribisch registriert hat. Perzi ist die mit Abstand beste und intellektuell anregendste Einführung in dieses Thema gelungen, die zur Zeit auf dem deutschen Buchmarkt erhältlich ist, sachlich, fair und flüssig geschrieben. Im Gegensatz zu einem großen Teil der sudetendeutschen Publizistik argumentiert er mit Nachdruck, daß die "ethnische Flurbereinigung" bei Benes eben nicht chauvinistisch, sondern positivistisch-szientistisch motiviert war. Benes verstand sie "als Beitrag zur Stabilisierung des Staates, den er als sein ureigenstes Geschöpf betrachtete, und Beginn einer sozialen Revolution. 1945 erklärte Benes, daß man nun, nach Herstellung der nationalen Einheit des Landes, darangehen könne, den demokratischen und sozialen Neuaufbau zu bewerkstelligen. 1918 habe man diesen noch, ,aus Rücksicht auf unsere Deutschen und Magyaren', welchen man dieses ,Maß an Freiheit und Demokratie' nicht habe zugestehen können, aufschieben müssen, heute sei die Zeit auch international reif dafür."
Neben dem Rachedurst des Mobs und dem kalkulierten Einsatz von Gewalt zur Zerstörung der sozialen Ordnung durch die Kommunisten bildete der szientistische Glaube der tschechischen Elite in die Plan- und Machbarkeit des Fortschritts ein drittes und entscheidendes Element in der "endgültigen Liquidierung" der "deutschen Frage". Über den dabei einzuschlagenden Weg herrschte breiter Konsens, seit sich Benes 1943 in Moskau mit Stalin verbündet hatte, ebenso über das Ziel, nämlich die Vollendung der nationalen und sozialen Revolution, die Hitlers Zerstörung der europäischen Ordnung ermöglicht hatte. "Die Vertreibung und Enteignung der Deutschen war nur ein Teil davon, wenn auch kein unwichtiger. Rechtlosigkeit, Repressalien gegen angebliche Volksfeinde, Massenmorde, Säuberungen - das alles war keine Erfindung der KP, sondern geschah unter den Augen und mit Zustimmung der Demokraten, mit Benes an der Spitze, schon vorher." Die These von der "Spontaneität" der Befreiung weist Perzi zurück, es handele sich dabei um eine "Schutzbehauptung der wirklich verantwortlichen politischen Eliten des Landes, die keine andere Alternative" als die Vertreibung gesehen hätten.
Natürlich ist unter den tschechischen Demokraten keiner mehr, der so weit ginge, Massenmord, Massenvergewaltigung und roten Straßenterror als unvermeidliche Begleiterscheinung des Aufbaus der neuen Nachkriegsordnung zu rechtfertigen. Die Vorstellung aber, die "endgültige Lösung" der nationalen Frage sei ein Gebot der aufklärerischen Vernunft gewesen, wirkt bis heute weiter, etwa in der Bemerkung des gegenwärtigen tschechischen Ministerpräsidenten Spidla, der "Transfer" der deutschen Bevölkerung habe den Frieden in Europa gesichert.
"1918 wie 1945 waren die Tschechen doppelte Sieger, die Sudetendeutschen doppelte Verlierer - des Krieges wie des Friedens. Beide Male erwiesen sich die Tschechen als schlechte, weil wenig großzügige Sieger." Nun, bilanziert Perzi nach der erfolgreichen Verteidigung der Dekrete durch die Prager Diplomatie vor der Europäischen Union, "steht die tschechische Politik wiederum vor der Alternative, entweder die böhmischen Deutschen wenigstens symbolisch heimzuholen oder auf ihrem zwar rechtlich argumentierbaren, politisch jedoch unklugen Standpunkt zu beharren und damit jenes Gefühl zu erwecken, das schon Arnold Toynbee in den dreißiger Jahren als kleingeistige Rechthaberei brandmarkte - wurzelnd in der so typischen Mischung aus äußerem Triumphgehabe und tiefer innerer Unsicherheit ob der Leichtigkeit des errungenen Sieges".
KARL-PETER SCHWARZ
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Niklas Perzis "Die Benes-Dekrete. Eine europäische Tragödie" hat Rezensent Karl-Peter Schwarz rundum überzeugt. "Sachlich, fair und flüssig geschrieben", ist Perzis Arbeit seines Erachtens die derzeit "mit Abstand beste und intellektuell anregendste Einführung in dieses Thema". Wie Schwarz berichtet, fügt Perzi die Problematik der Benes-Dekrete in den großen Zusammenhang der deutsch-tschechischen Geschichte und folgt ihr bis in die jüngsten Debatten. Anders als ein Großteil der sudetendeutschen Publizistik argumentiere er nachdrücklich, die "ethnische Flurbereinigung" bei Benes sei nicht chauvinistisch, sondern positivistisch-szientistisch motiviert gewesen. Er zeige, dass dieser szientistische Glaube der tschechischen Elite an die Plan- und Machbarkeit des Fortschritts neben dem Rachedurst des Mobs und dem kalkulierten Einsatz von Gewalt das entscheidende Element in der "endgültigen Liquidierung" der "deutschen Frage" war.
© Perlentaucher Medien GmbH
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