Veronesi schildert in seinem Roman mit der Bildkraft eines Fellini eine Jugend ohne Ziel - aber auch ohne Probleme. Bis auf die alle bedrohende Einsamkeit. Und der versuchen sie durch die Liebe zu entkommen. Sie treibt Mète jedoch immer zerstörerischer in die Nähe zu seiner sinnlich-verführerischen Halbschwester Belinda. Als die Eltern der beiden ihre Hochzeitsreise antreten, zieht Belinda bei ihm ein. Und damit ist die Katastrophe nicht mehr abzuwenden. Sandro Veronesis Roman ist nicht nur die Geschichte einer zerstörerischen Liebe, sondern gleichermaßen ein faszinierendes Gesellschafts- und Großstadtpanorama.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.2014Es gibt keine neuen Sünden, nur alte Verführer
Wie dekadent: Sandro Veronesis Roman "Die Berührten" über den Niedergang einer wohlhabenden römischen Familie
Die Dekadenz ist eine Zeit des Niedergangs, und wenn sie in Rom stattfindet, dann muss sie sich wohl als prachtvolle Orgie entfalten, deren Raffinement Ausdruck moralischen Verfalls ist; erst Barbaren oder die Flucht setzen dem Lotterleben ein Ende. Das ist die Vorlage, die Sandro Veronesi in "Die Berührten" aufgreift, ein Dekadenzroman gleich in dreifacher Hinsicht: Er erzählt von Dekadenz, reflektiert sie ironisch - und ist selbst ein Zeichen des Niedergangs. Die deutschen Leser erreicht er mit Verspätung: Der 1959 geborene Architekt Veronesi, der mit "Stilles Chaos" (2005) internationalen Erfolg hatte und zu Italiens wichtigsten Autoren gezählt wird, veröffentlichte seinen zweiten Roman bereits 1990.
"Die Berührten" berichtet über verhängnisvolle Tage im Leben von Mète (kurz für Ermète), einem jungen Mann von Mitte zwanzig. Mètes Vater, ein zu Wohlstand gekommener Hutverkäufer, heiratet eingangs eine Dame der Oberschicht, mit der er seit zwanzig Jahren liiert ist. Mète selbst wohnt dank des Reichtums in einer Riesenwohnung im Zentrum Roms; um ihn kreisen schräge Typen wie der hünenhafte Schauspieler Bruno oder der Frauenheld Damiano. Die Zeit vertreibt er sich mit graphologischen Analysen: Körper und Geist seiner Mitmenschen erschließen sich ihm in ihrer Handschrift. Vor kurzem hat er ein neues Zeichen entdeckt, das er "Verschäumtheit" nennt: Der "Verschäumte" ist eine passive, hedonistische Person, bar jeder Moral, die ganz im Augenblick aufgeht - für den Graphologen, der ein mönchisches Gelehrtenleben anstrebt, ein typisches Zeichen der Gegenwart, der Beleg einer "anthropologischen Mutation".
Fatalerweise findet sich der Prototyp von "Verschäumtheit" in Mètes Halbschwester Belinda: "eine totale Blondheit des ganzen Körpers, ein im Fleisch gefangener Goldrausch". Kurz, Mète verzehrt sich in Begehren nach der jungen Eva, die, Wink mit dem Zaunpfahl, nach Apfel riecht und ihre Katze Beelzebub getauft hat. Als Belinda für zwei Wochen zu ihm zieht (während der elterlichen Hochzeitsreise wird die Villa umgebaut), beginnt der lange Weg zum kleinen Tod: Mète mag durch die Stadt ziehen, sich in Saunen, Drogen und Sex mit Neurotikerinnen flüchten, er landet doch eines Nachts in den lasziven Armen seiner minderjährigen Halbschwester. Aus Sicht Mètes ist es eine Via dolorosa, die mit einer Verurteilung der Gegenwart, der materialistischen achtziger Jahre, einhergeht.
Veronesi teilt die Sicht seiner Hauptfigur nur bedingt: Sein detachierter Erzählton lädt zu Vorsicht ein. Die Hochzeit des Vaters zum Beispiel, ein Kostümfest, beurteilt der Sohnemann kritisch, denn die gottlosen Achtziger verkleiden sich in den Moden der sechziger und der siebziger Jahre: Es "vermischten sich in diesen Räumen jetzt die Stile und Formen, und dieses Sichvermischen der Formen und Stile ist in einer Kultur stets das erste Anzeichen für den Rückfall in die Barbarei". Mète selbst verbringt freilich den Abend damit, reizvollen Körperteilen hinterherzulaufen, missbraucht die Graphologie zu Verführungszwecken und wird am nächsten Morgen von Reue zerfressen; intellektuelle Lauterkeit sieht anders aus. Der Leser ist also gewarnt, die Kritik am Sittenverfall für bare Münze zu nehmen: Veronesi wahrt ironischen Abstand auch zu Mètes Versuchen, die Welt zu entziffern und zu bewerten - er stellt die Dekadenz und ihre Reflexion auf dieselbe Ebene und schwebt lächelnd darüber.
Das mag als postmoderne Erzählhaltung angehen, das Problem jedoch ist, dass sie aus der eigenen Ironie wenig macht. Im Grunde trauert Veronesi dem Unglaubwürdigen nach: Er schwadroniert allegorisch, baut eine religiöse Sinnerwartung auf, nur um diese zu enttäuschen - wenn er nicht dran glaubt, wozu dann das Geschwurbel? Das Zitieren von Versatzstücken will ebenfalls beherrscht sein, und der Griff in die Klischeekiste (blonde Lolita, gequälter Intellektueller, treue philippinische Diener) darf gern sparsamer ausfallen. Amüsieren kann sich der Leser zwar, am Anfang prächtig, am Ende mäßig, zwischendrin ab und an - Veronesi ist ein witziger Vogel. Aber der italienische Roman dieses Geistes, zu dem auch jüngere Autoren wie Alessandro Piperno zählen, verwickelt sich beim Versuch, über die Spätavantgarde hinauszukommen, in Widersprüche. Das zeigt sich in heiklen Szenen: Während Veronesis Vorbild Pasolini dem Katholizismus eine archaisch-moderne Seite abgewinnen konnte, ist es Pose, wenn Veronesi Inzestnacht und Rosenkranz verflicht.
Darum belegt "Die Berührten" aller Reflexion zum Trotz selbst einen Niedergang, der mehr als einen Autor betrifft. Konkret zeigt er sich in banaler Weise: Veronesi weiß nicht, was er will, berührt vieles und lässt am Ende alles liegen - heraus kommt ein Nebeneinander, dessen Kitt bröckelt. Man muss weder Vandale noch Katholik sein, um Sandro Veronesis Rom schwach zu finden: Wenn schon Dekadenz, dann bitte richtig!
NIKLAS BENDER
Sandro Veronesi: "Die Berührten". Roman.
Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn. Klett-Cotta, Stuttgart 2014. 384 S., geb., 21,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie dekadent: Sandro Veronesis Roman "Die Berührten" über den Niedergang einer wohlhabenden römischen Familie
Die Dekadenz ist eine Zeit des Niedergangs, und wenn sie in Rom stattfindet, dann muss sie sich wohl als prachtvolle Orgie entfalten, deren Raffinement Ausdruck moralischen Verfalls ist; erst Barbaren oder die Flucht setzen dem Lotterleben ein Ende. Das ist die Vorlage, die Sandro Veronesi in "Die Berührten" aufgreift, ein Dekadenzroman gleich in dreifacher Hinsicht: Er erzählt von Dekadenz, reflektiert sie ironisch - und ist selbst ein Zeichen des Niedergangs. Die deutschen Leser erreicht er mit Verspätung: Der 1959 geborene Architekt Veronesi, der mit "Stilles Chaos" (2005) internationalen Erfolg hatte und zu Italiens wichtigsten Autoren gezählt wird, veröffentlichte seinen zweiten Roman bereits 1990.
"Die Berührten" berichtet über verhängnisvolle Tage im Leben von Mète (kurz für Ermète), einem jungen Mann von Mitte zwanzig. Mètes Vater, ein zu Wohlstand gekommener Hutverkäufer, heiratet eingangs eine Dame der Oberschicht, mit der er seit zwanzig Jahren liiert ist. Mète selbst wohnt dank des Reichtums in einer Riesenwohnung im Zentrum Roms; um ihn kreisen schräge Typen wie der hünenhafte Schauspieler Bruno oder der Frauenheld Damiano. Die Zeit vertreibt er sich mit graphologischen Analysen: Körper und Geist seiner Mitmenschen erschließen sich ihm in ihrer Handschrift. Vor kurzem hat er ein neues Zeichen entdeckt, das er "Verschäumtheit" nennt: Der "Verschäumte" ist eine passive, hedonistische Person, bar jeder Moral, die ganz im Augenblick aufgeht - für den Graphologen, der ein mönchisches Gelehrtenleben anstrebt, ein typisches Zeichen der Gegenwart, der Beleg einer "anthropologischen Mutation".
Fatalerweise findet sich der Prototyp von "Verschäumtheit" in Mètes Halbschwester Belinda: "eine totale Blondheit des ganzen Körpers, ein im Fleisch gefangener Goldrausch". Kurz, Mète verzehrt sich in Begehren nach der jungen Eva, die, Wink mit dem Zaunpfahl, nach Apfel riecht und ihre Katze Beelzebub getauft hat. Als Belinda für zwei Wochen zu ihm zieht (während der elterlichen Hochzeitsreise wird die Villa umgebaut), beginnt der lange Weg zum kleinen Tod: Mète mag durch die Stadt ziehen, sich in Saunen, Drogen und Sex mit Neurotikerinnen flüchten, er landet doch eines Nachts in den lasziven Armen seiner minderjährigen Halbschwester. Aus Sicht Mètes ist es eine Via dolorosa, die mit einer Verurteilung der Gegenwart, der materialistischen achtziger Jahre, einhergeht.
Veronesi teilt die Sicht seiner Hauptfigur nur bedingt: Sein detachierter Erzählton lädt zu Vorsicht ein. Die Hochzeit des Vaters zum Beispiel, ein Kostümfest, beurteilt der Sohnemann kritisch, denn die gottlosen Achtziger verkleiden sich in den Moden der sechziger und der siebziger Jahre: Es "vermischten sich in diesen Räumen jetzt die Stile und Formen, und dieses Sichvermischen der Formen und Stile ist in einer Kultur stets das erste Anzeichen für den Rückfall in die Barbarei". Mète selbst verbringt freilich den Abend damit, reizvollen Körperteilen hinterherzulaufen, missbraucht die Graphologie zu Verführungszwecken und wird am nächsten Morgen von Reue zerfressen; intellektuelle Lauterkeit sieht anders aus. Der Leser ist also gewarnt, die Kritik am Sittenverfall für bare Münze zu nehmen: Veronesi wahrt ironischen Abstand auch zu Mètes Versuchen, die Welt zu entziffern und zu bewerten - er stellt die Dekadenz und ihre Reflexion auf dieselbe Ebene und schwebt lächelnd darüber.
Das mag als postmoderne Erzählhaltung angehen, das Problem jedoch ist, dass sie aus der eigenen Ironie wenig macht. Im Grunde trauert Veronesi dem Unglaubwürdigen nach: Er schwadroniert allegorisch, baut eine religiöse Sinnerwartung auf, nur um diese zu enttäuschen - wenn er nicht dran glaubt, wozu dann das Geschwurbel? Das Zitieren von Versatzstücken will ebenfalls beherrscht sein, und der Griff in die Klischeekiste (blonde Lolita, gequälter Intellektueller, treue philippinische Diener) darf gern sparsamer ausfallen. Amüsieren kann sich der Leser zwar, am Anfang prächtig, am Ende mäßig, zwischendrin ab und an - Veronesi ist ein witziger Vogel. Aber der italienische Roman dieses Geistes, zu dem auch jüngere Autoren wie Alessandro Piperno zählen, verwickelt sich beim Versuch, über die Spätavantgarde hinauszukommen, in Widersprüche. Das zeigt sich in heiklen Szenen: Während Veronesis Vorbild Pasolini dem Katholizismus eine archaisch-moderne Seite abgewinnen konnte, ist es Pose, wenn Veronesi Inzestnacht und Rosenkranz verflicht.
Darum belegt "Die Berührten" aller Reflexion zum Trotz selbst einen Niedergang, der mehr als einen Autor betrifft. Konkret zeigt er sich in banaler Weise: Veronesi weiß nicht, was er will, berührt vieles und lässt am Ende alles liegen - heraus kommt ein Nebeneinander, dessen Kitt bröckelt. Man muss weder Vandale noch Katholik sein, um Sandro Veronesis Rom schwach zu finden: Wenn schon Dekadenz, dann bitte richtig!
NIKLAS BENDER
Sandro Veronesi: "Die Berührten". Roman.
Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn. Klett-Cotta, Stuttgart 2014. 384 S., geb., 21,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Als heimliche Hauptfigur des im Original bereits 1990 veröffentlichten zweiten Romans von Sandro Veronesi macht Thomas Stauder die Stadt Rom aus. Dekadente Erotik ist Veronesis Thema, wie Stauder erklärt, und das Sakrale, das er mit allerlei Zitaten von Pasolini über Moravia bis Fellini in Szene setzt, wie der Rezensent mitteilt. Frisch wirkt der Roman laut Stauder nicht zuletzt durch diese ironisch gefärbten intertextuellen Verweise, mit denen der Autor naive Identifikation verhindert, und die der Rezensent im übrigen für solide ins Deutsche übersetzt hält.
© Perlentaucher Medien GmbH
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