Den Elefantenhain des Tempels zu Guruvayur, Kerala, betritt nächtens Susima, der "Schwarze Makhna". Bedächtig den Rüssel schwenkend, berichtet er den staunenden Artgenossen von seinem gleichnamigen Urahnen, dem Lieblingselefanten des legendären indischen Kaisers Aschoka. Er spricht von wundersamen Dingen: vom Indienzug Alexanders, gestoppt von Elefanten; von Gautama Buddha, dem Erleuchteten und ersten Menschen, der die Elefantensprache verstand; vom blutigen Krieg des "Götterlieblings" Aschoka gegen die Kalinga und von seiner Bekehrung zu einem friedliebenden Herrscher, der die erste und einzige pazifistische Staatsdoktrin in der Geschichte der Menschheit aufzeichnen ließ.
So entsteht in einer charmanten Tierparabel, wie sie seit Tolstois "Leinwandmesser" nicht ihresgleichen hatte, vor dem Auge des Lesers ein verblüffend phantastisches und akkurates Sozialgemälde der frühindischen Gesellschaft: Porträt einer Zeit, die weit aufgeklärter war, als der angeblich fortschrittliche Okzident es ihr je - und insbesondere heute - zugestanden hätte.
So entsteht in einer charmanten Tierparabel, wie sie seit Tolstois "Leinwandmesser" nicht ihresgleichen hatte, vor dem Auge des Lesers ein verblüffend phantastisches und akkurates Sozialgemälde der frühindischen Gesellschaft: Porträt einer Zeit, die weit aufgeklärter war, als der angeblich fortschrittliche Okzident es ihr je - und insbesondere heute - zugestanden hätte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.05.2003Dickhäuter der Macht
Elefantös: Thorsten Becker erzählt eine indische Geschichte
In Zukunft gibt es nicht nur die Frosch- und Vogelperspektive, sondern auch die Elefantenperspektive. Die hat Thorsten Becker, einer der flinksten und einfallsreichsten deutschen Schriftsteller, entdeckt. Als im Winter 2000 sieben deutsche Autoren auf Einladung des Goethe-Instituts Indien bereisten, kam Becker schon mit einer Romanidee an. Wie alle anderen fuhr er von Institut zu Institut, um Lesungen zu halten, und danach zog er sich ein paar Monate an die südindische Meeresküste von Kerala zurück, um Elefanten zu beobachten. Er las alles, was es über die Dickhäuter zu lesen gab, und kehrte, als die Sommerhitze über dem Land brannte, sein Romanmanuskript im Ranzen, nach Europa zurück.
Resultat ist eine erfinderisch konstruierte Tierparabel, getragen und dennoch amüsant im Stil und köstlich ins indische Idiom verfremdet. Becker skizziert anfangs das Milieu der Tempelelefanten und der rauhbeinigen Mahuts, die von einem Tempelfest zurückgekehrt sind. Während sich die Mahuts dem Suff hingeben, stehen die Elefanten in einer Reihe im Stall und lauschen dem "Schwarzen Makhna", der ihnen in Elefantensprache eine lange Geschichte erzählt. Makhna ist ein mythischer Elefant, weise und geradezu göttlich, der die Historie von zweiundsiebzig Elefantengenerationen im Gedächtnis gespeichert hat und offenbar Visitationen bei den Elefantenställen von Assam bis Kerala abhält, um in langen Nächten davon zu erzählen. Nun lehrt der Schwarze Makhna ein bißchen indische Philosophie, gibt Lebensweisheiten über Geld und Krieg zum besten und führt dann ausführlich in die elefantöse Geschichte ein. Sie begann mit ihrem Urahn, dem königlichen Leibelefanten am Hofe des Maurya-Königreiches in Pataliputra. In der Erzählung treten Alexander auf, der bedeutende Staatsgelehrte Kautilya, der Buddha, und schließlich Aschoka, Eroberer Nordindiens. Menschengeschichte erweist sich aus Elefantenperspektive plötzlich als kraftlos und bizarr. Unversehens wird Menschengeschichte zur Elefantengeschichte, wenn der Erzähler etwa offenbart, daß Alexander nur deshalb bis zum Indus vordrang, weil er nicht über Kriegselefanten kommandierte, und daß Aschoka sein Reich nur ausdehnen konnte, weil seine Elefanten die Feinde brutal niederwalzten. Aber auch die "Besänftigung" des wilden Aschoka geht auf das Konto der Elefanten, die ihm schließlich zeigen, was "Dharma", Rechtschaffenheit bedeutet, die er auf seinen berühmten Steinedikten verkündet.
Diese in zwei Rahmenhandlungen eingepackte Geschichte will sich einfühlen in die orientalische Erzähltradition, in der weise Wesen mit ihren Erzählungen das Volk nächtelang angenehm belehren. Sie profitiert von dem alten Fabeltrick, dem zufolge das Tier, vermenschlicht dargestellt, den Menschen entlarvt und ihm überlegen ist. Daraus lassen sich Situationen voll Ironie und Sarkasmus erfinden, und Becker nutzt das weidlich aus. Und doch fragt man sich am Ende, warum Thorsten Becker uns so ausgiebig von Elefantenleid und Elefantenfreud berichtet. Was kommt für uns Menschenleser dabei heraus? Genügt es, eine nett erfundene, leichtfüßig ins zeitgenössische und historische Milieu gesetzte Erzählung vorzuführen? Schon Scheherezade wollte nicht nur Kurzweil verbreiten, sondern ergreifen.
MARTIN KÄMPCHEN
Thorsten Becker: "Die Besänftigung". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. 207 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Elefantös: Thorsten Becker erzählt eine indische Geschichte
In Zukunft gibt es nicht nur die Frosch- und Vogelperspektive, sondern auch die Elefantenperspektive. Die hat Thorsten Becker, einer der flinksten und einfallsreichsten deutschen Schriftsteller, entdeckt. Als im Winter 2000 sieben deutsche Autoren auf Einladung des Goethe-Instituts Indien bereisten, kam Becker schon mit einer Romanidee an. Wie alle anderen fuhr er von Institut zu Institut, um Lesungen zu halten, und danach zog er sich ein paar Monate an die südindische Meeresküste von Kerala zurück, um Elefanten zu beobachten. Er las alles, was es über die Dickhäuter zu lesen gab, und kehrte, als die Sommerhitze über dem Land brannte, sein Romanmanuskript im Ranzen, nach Europa zurück.
Resultat ist eine erfinderisch konstruierte Tierparabel, getragen und dennoch amüsant im Stil und köstlich ins indische Idiom verfremdet. Becker skizziert anfangs das Milieu der Tempelelefanten und der rauhbeinigen Mahuts, die von einem Tempelfest zurückgekehrt sind. Während sich die Mahuts dem Suff hingeben, stehen die Elefanten in einer Reihe im Stall und lauschen dem "Schwarzen Makhna", der ihnen in Elefantensprache eine lange Geschichte erzählt. Makhna ist ein mythischer Elefant, weise und geradezu göttlich, der die Historie von zweiundsiebzig Elefantengenerationen im Gedächtnis gespeichert hat und offenbar Visitationen bei den Elefantenställen von Assam bis Kerala abhält, um in langen Nächten davon zu erzählen. Nun lehrt der Schwarze Makhna ein bißchen indische Philosophie, gibt Lebensweisheiten über Geld und Krieg zum besten und führt dann ausführlich in die elefantöse Geschichte ein. Sie begann mit ihrem Urahn, dem königlichen Leibelefanten am Hofe des Maurya-Königreiches in Pataliputra. In der Erzählung treten Alexander auf, der bedeutende Staatsgelehrte Kautilya, der Buddha, und schließlich Aschoka, Eroberer Nordindiens. Menschengeschichte erweist sich aus Elefantenperspektive plötzlich als kraftlos und bizarr. Unversehens wird Menschengeschichte zur Elefantengeschichte, wenn der Erzähler etwa offenbart, daß Alexander nur deshalb bis zum Indus vordrang, weil er nicht über Kriegselefanten kommandierte, und daß Aschoka sein Reich nur ausdehnen konnte, weil seine Elefanten die Feinde brutal niederwalzten. Aber auch die "Besänftigung" des wilden Aschoka geht auf das Konto der Elefanten, die ihm schließlich zeigen, was "Dharma", Rechtschaffenheit bedeutet, die er auf seinen berühmten Steinedikten verkündet.
Diese in zwei Rahmenhandlungen eingepackte Geschichte will sich einfühlen in die orientalische Erzähltradition, in der weise Wesen mit ihren Erzählungen das Volk nächtelang angenehm belehren. Sie profitiert von dem alten Fabeltrick, dem zufolge das Tier, vermenschlicht dargestellt, den Menschen entlarvt und ihm überlegen ist. Daraus lassen sich Situationen voll Ironie und Sarkasmus erfinden, und Becker nutzt das weidlich aus. Und doch fragt man sich am Ende, warum Thorsten Becker uns so ausgiebig von Elefantenleid und Elefantenfreud berichtet. Was kommt für uns Menschenleser dabei heraus? Genügt es, eine nett erfundene, leichtfüßig ins zeitgenössische und historische Milieu gesetzte Erzählung vorzuführen? Schon Scheherezade wollte nicht nur Kurzweil verbreiten, sondern ergreifen.
MARTIN KÄMPCHEN
Thorsten Becker: "Die Besänftigung". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. 207 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Aufregen muss man sich über dieses Buch nicht, resümiert Christoph Haas gönnerhaft, dazu sei es zu "harmlos, unverbindlich und nett". Ein Roman über das Indien der Gegenwart, versetzt mit den Weisheiten eines "charismatischen" Elefanten, sei das neue Werk des Thomas-Mann-Fans Thorsten Becker. Über die ersten mit "stilistischen Exaltationen" gespickten Kapitel kann sich der Rezensent noch freuen. Als das Buch dann aber zur Tierfabel wird und der Elefant Susima anhand seiner Lebenserinnerungen über die friedfertigen Tiere "als die besseren Menschen" doziert, ist Haas aber endgültig genervt. Vorsichtig loben kann er zwar noch das "humoristische Talent" des Autors - viel mehr aber auch nicht. Haas ärgert sich vor allem über "die Uneinheitlichkeit und Sentimentalität" und die "allzu unbekümmerte Anlehnung an große Vorbilder" des Autors. Schließlich findet er aber, dass man - mit guter Laune gewappnet - noch was gutes an der "Besänftigung" finden kann. Weniger wohl gesonnen, sollte man aber lieber was anderes lesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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