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Jenseits von Ignoranz, naivem Utopismus und schwarzer Skepsis versucht Peter Glotz ein realistisches Szenario der Zukunft in der beschleunigten Gesellschaft zu zeigen. Daß die neuen Informationstechnologien unser Leben tiefgehend verändern werden, steht außer Frage. Aber: Verstehen wir es, uns diese Veränderung zunutze zu machen? Die These de Autors: Uns steht eine kulturelle Revolution, ein "Kulturkampf" um die richtige Lebensweise bevor. Die Langsamen begehren gegen die Schnellen auf und erklären sich zu Ökologen.

Produktbeschreibung
Jenseits von Ignoranz, naivem Utopismus und schwarzer Skepsis versucht Peter Glotz ein realistisches Szenario der Zukunft in der beschleunigten Gesellschaft zu zeigen. Daß die neuen Informationstechnologien unser Leben tiefgehend verändern werden, steht außer Frage. Aber: Verstehen wir es, uns diese Veränderung zunutze zu machen? Die These de Autors: Uns steht eine kulturelle Revolution, ein "Kulturkampf" um die richtige Lebensweise bevor. Die Langsamen begehren gegen die Schnellen auf und erklären sich zu Ökologen.
Autorenporträt
Peter Glotz ist Professor für Kommunikationswissenschaft in St. Gallen. Er war unter anderem Präsident der Kultusministerkonferenz, SPD-Bundesgeschäftsführer, Vorsitzender der Deutsch-Tschechoslowakischen Parlamentariergruppe und zuletzt Vertreter der Bundesregierung im Europäischen Konvent. Er ist Vorsitzender der Stiftung "Zentrum gegen Vertreibungen".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999

Keine Atempause
Geschichte machen mit Peter Glotz / Von Richard Kämmerlings

Kurz vor Jahrhundertschwellen steht die Geschichte still. Wenn wir über das Jahr 2005 reden, scheinen wir eine ferne Zukunft im Blick zu haben. Wer Stromlinien der Gegenwart ins nächste Jahrzehnt auszieht, tritt als Futurologe auf, wer Probleme von morgen anspricht, als Prophet. Die rasante Entwicklung der Computertechnologie und des Internets macht es leicht, auch gewagte Extrapolationen bereits für die allernächste Zukunft vorzunehmen: Moores Gesetz, dem zufolge sich die Rechnerleistung etwa alle achtzehn Monate verdopple, scheint die letzte Gewissheit nach dem Ende aller Geschichtsphilosophie.

Peter Glotz segelte als einstiger SPD-Vordenker immer schon hart am Wind gesellschaftlicher Entwicklungen und erkannte früher als andere, dass das immer gleiche Klingeln der Stechuhr allein kein geeigneter Zeitmesser für den Takt der Modernisierung ist. Heute sieht er den Übergang von der Industrie- zur "Wissensgesellschaft" bereits vollzogen. Allerdings vermeidet er diesen Terminus, der das Fortbestehen marktwirtschaftlicher Strukturen verschleiere, und spricht statt dessen vom "Digitalen Kapitalismus", um an den ungebrochenen Primat der Ökonomie zu erinnern. Glotz sieht die westlichen Gesellschaften an der Schwelle zu einer neuen Phase marktwirtschaftlicher Ordnung auf der Basis digitaler Kommunikationstechnologien, deren Verwerfungen nicht mehr alten sozialen Bruchlinien folgen.

Zu Recht ist Glotz skeptisch gegenüber den megalomanen Visionen der Computerindustrie. Doch den mal katastrophischen, mal euphorischen Utopien der Medienphilosophen traut er ebenso wenig über den Weg wie den Presseerklärungen von Bill Gates. Ausführlich setzt sich Glotz mit den populären Positionen der "Daten-Dichter" Virilio und Baudrillard, Flusser und Postman auseinander, um sie allesamt in der Schublade "Kulturpessimismus" abzulegen, als "Rückfall in den Katastrophendiskurs des Jahrhundertanfangs". Das ist im Einzelnen ungerecht (vor allem bei Baudrillard, dem Glotz seine Simulationsthesen über den Golfkrieg allzu polemisch um die Ohren haut), im Ganzen aber berechtigt, denn tatsächlich kann der deutschen Diskussion über neue Medien mehr Realismus nur gut tun. Glotz' nüchterne und unaufgeregte Musterung der Zeitgeister ist deshalb so angenehm zu lesen, weil er nicht glaubt, durch schrille Extrapolationen seiner Stimme mehr Volumen verleihen zu müssen.

Auch bei den Auswirkungen der neuen Technologien auf die Arbeitswelt mahnt Glotz zur Zurückhaltung. Dezentralisierung ja, aber kein Verlust jeglicher Hierarchie. Mehr Teleworking sicherlich, aber noch keine Mutation der Menschheit zu volltechnisierten Stubenhockern. Während in den Vereinigten Staaten das intelligente, prall mit vernetzten Mikroprozessoren gefüllte Haus bereits mach- und vielleicht bezahlbar ist, leben Europäer wohl noch längere Zeit komfortabel in begriffsstutzigen, dafür aber stahlharten Gehäusen, während dem Großteil der Weltbevölkerung die Alphabetisierung ihrer Kinder nach wie vor wichtiger sein dürfte als die ihrer vier Wände. Einen modernen Anstrich verpasst Glotz dem Schlagwort von der Zweidrittelgesellschaft, mit dem er in den achtziger Jahren als Nemesis der Kohlschen "Wende" auftrat. Die Mehrheit orientiere sich an der wachsenden Gruppe der "Symbolanalytiker", als Leitfiguren gewissermaßen die Arbeiter und Bauern des digitalen Zeitalters. Zu ihnen zählen "Web-Designer, Internet-Berater, Multimedia-Unternehmer, Programmierer und Finanzdienstleister", aber auch Rechtsanwälte oder Kameraleute. Um die zwei Drittel voll zu machen, muss Glotz freilich von der wackligen Vermutung ausgehen, dass es den Symbolanalytikern gelingt, die "Kernbelegschaften" der Industriegesellschaft an sich zu binden: Jedem Klempner seine Homepage.

Auf der anderen Seite steht die neue Unterschicht aus Arbeits- und Obdachlosen, Sozialhilfeempfängern und Kleinrentnern und - eine Überraschung - einer wachsenden Zahl von freiwilligen Aussteigern, "die sich der Nanosekunden-Kultur verweigern" und den "Todtnauberg-Menschen" dem homo oeconomicus in seinem Laufrad vorziehen. "Als Phänotyp der Lehrer auf einer Zweidrittelstelle, der zutiefst davon überzeugt ist, dass sein Engagement für Kinder und Haushalt hundertmal mehr wert ist als die Programmierarbeit der ,Microsoftratte' für Java-Script und Hypertexte." Vielleicht entpuppen sich prominente Medienverächter wie Botho Strauß doch noch als Avantgarde einer diätetischen Massenbewegung.

Für eine Übergangsphase sagt Glotz heftige Kulturkämpfe zwischen Anhängern der "Beschleunigung" und der "Entschleunigung" voraus. In der Militarisierung der Nachbarschaften in amerikanischen Wohnvierteln sieht er Vorgeplänkel kommender Straßenschlachten. Ganz ohne die Fronten eines Weltbürgerkriegs kann die historische Phantasie wohl nicht auskommen.

Dabei ist die neue Unterklasse erst im Entstehen begriffen: "Ihr Marx und ihr Engels sind noch nicht aufgetreten. Wir stehen noch bei den Frühsozialisten." Im Manifest der "glücklichen Arbeitslosen" vernimmt Glotz den ersten Signalruf zur Vereinigung der Müßiggänger aller Länder. Aber ist es eine tröstliche Aussicht für das kommende Jahrhundert, dass sich die Tragödie des Sozialismus möglicherweise als Farce wiederholt? Glotz rechnet sich selbst bei aller Sympathie für die Unterprivilegierten allerdings zu den Beschleunigern; der zu erwartende Widerstand gegen die technologische Entwicklung sei Donquichotterie. Die Maschinenstürmer hatten bekanntlich noch nie die Geschichte und schon gar nicht deren Interpreten auf ihrer Seite.

Um selbst als Anwalt der neuen Unterklasse aufzutreten, fehlen Glotz aber auch die persönlichen Voraussetzungen. Seine eigene berufliche und geistige Flexibilität macht ihm das Verständnis für die Bremser schwer: "Das Gejammere unserer Mittelschichten über ,Stress' und der Unwille, früh aufzustehen, gehen mir schon seit vielen Jahren auf die Nerven." Früher hätte man das "Klassenstandpunkt" genannt.

Tatsächlich sind politische Koordinaten wie rechts und links für ihn nur noch nostalgische Aufkleber, einer Reideologisierung redet er nicht das Wort. Auf der Datenautobahn gibt es eben keine Abzweigungen, sondern nur die Wahl zwischen Überholspur und Standstreifen. Jede Ausfahrt führt hier ins Abseits, sei das wahre Ziel auch unbekannt. Bliebe noch die Bildungspolitik, Glotz' altes Steckenpferd, als kleine Münze der Utopie. Ihr ist das letzte Kapitel des Buches gewidmet. In orientierungslosen Zeiten gilt allerdings auch hier nur die Devise: Mitmachen, um nicht den Anschluss zu verpassen, "Schulen ans Netz!" Noch könne der Staat eine Informationsapartheid, die Klassenspaltung im Klassenzimmer vermeiden. Was außer einer Anpassung an die veränderte Arbeitswelt für das Individuum vom Baum der Computerkenntnis abfallen soll, bleibt allerdings unklar.

Nun ist es schlechte Tradition der Linken, die Technikkritik den konservativen Kulturpessimisten zu überlassen. Das Erbe dieser Ausblendung ökologischer und psychischer Modernisierungskosten kann man heute in Osteuropa besichtigen. Daher muss sich Glotz schon fragen lassen, ob er bei seiner berechtigten Kritik an den hysterischen Untergangsvisionen den Preis der Digitalisierung nicht zu niedrig kalkuliert. Man kann leicht auf dem Teppich bleiben, wenn man zuvor alle hässlichen Abfallprodukte darunter gekehrt hat.

Peter Glotz: "Die beschleunigte Gesellschaft". Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus. Kindler Verlag, München 1999. 288 S., geb., 44,90 DM.

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