Impulsiv in Wort und Bild: Martin Baltscheit, ein Bruder Grimm unserer Zeit, hat einen neuen Roman geschrieben - und opulent illustriert. Ein Gesellschaftsentwurf, der tief blicken lässt. Eine moderne Fabel, die sich wie ein Krimi liest. Ein Kunstwerk!Ferdinand ist jung, sorglos und beliebt. Der Held der Herde. Die Zukunft ist rosig und steht weit offen. Doch Ferdinand ist ein Wolf im Schafspelz: Als einziger hat er die Flucht seiner Familie in die besseren Wälder überlebt und wurde von Schafen aufgezogen. Von seiner wahren Herkunft ahnt er nichts - bis eines Tages ein Mord geschieht und er unter Verdacht gerät ... Wer ist Ferdinand?Ein explosiver Roman über Wurzeln und was sie bedeuten, über die Angst vor dem Fremden - vor allem in uns selbst - und nicht zuletzt übers Erwachsenwerden. »'Es kommt doch nicht darauf an, wo du herkommst. Es kommt darauf an, wohin du gehst und mit wem.' Mit diesem Satz am Ende des Stücks gibt Baltscheit einen wichtigen Impuls für jeden Heranwachsenden. Man kann ihn aber auch als einen brandaktuellen Kommentar zur Debatte um Zuwanderung und Integration in Deutschland und Europa lesen.«Aus der Jurybegründung zur Verleihung des Deutschen Jugendtheaterpreises 2010
"Es gibt zahlreiche Lesarten und Interpretationen. Und ganz sicher lohnt es sich, sich das Werk mehrfach vorzunehmen, denn es ist ein echter Kunstgenuss aus dem Schöpfungsgeist eines begnadeten, preisgekrönten Multitalents. Außergewöhnlich!" -- AGM Magazin
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.11.2013Als Wolf unter
Schafen
Martin Baltscheits Roman „Die besseren Wälder“
erzählt das Abenteuer der Identitätsfindung
VON MICHAEL SCHMITT
Martin Baltscheit erzählt von Wölfen und Schafen, aber er illustriert viele der Szenen mit Bildern von Männern und Frauen, Kindern und Jugendlichen; er erzählt von menschlichem Verhalten und von aktuellen Themen und zeigt das mit Schafen und Wölfen oder Mischwesen. Die besseren Wälder ist ein Roman, der von scharf definierten Grenzen handelt, aber für die Auflösung solcher Grenzen plädiert. Er beschränkt sich nicht auf die traditionelle Form einer Fabel, die von Tieren spricht, wenn sie Menschen meint, und damit eine moralische Botschaft transportieren möchte. Dieses Buch öffnet Vorstellungsräume, weckt den Sinn für Möglichkeiten, nicht für Gewissheiten – vielleicht mit Ausnahme dieser einen: Nicht deine Herkunft zählt, sondern wohin du gehst – und mit wem. Es gibt kein festes Ziel, aber viele mögliche Wege. Es gibt die Kategorien „draußen“ und „drinnen“, aber ein Zuhause gibt es nicht.
Ein junger Wolf, Ferdinand oder auch Ferd genannt, wächst bei einem kinderlosen Paar unter Schafen auf. Seine Eltern sind beim Versuch, in das militärisch gesicherte und komfortable Territorium der Schafe einzudringen, erschossen worden. Das Wolfsjunge aber wird adoptiert, passt sich zügig an und wird angepasst, kann aber gewisse wölfische Eigenschaften nie ganz verleugnen. Ferd durchläuft Schulen und Initiationsrituale, findet Freunde unter den gleichaltrigen Schafen, mit denen er gemeinsam über die Stränge schlägt; er gerät dann aber in den Verdacht, seine Freundin ermordet zu haben, woraufhin er flieht und wieder unter Wölfen auf der anderen Seite der Grenze landet, um neuen Bewährungsproben und neuem Misstrauen zu begegnen. Denn unter den Schafen ist aus dem Wolf selbst ein halbes Schaf geworden, er gehört nirgends hin, nicht in die heile Welt und nicht unter die aggressiven Besitzlosen draußen vor den Zäunen.
Das lässt sich als Coming-of-age-Geschichte lesen – und so geht es hier um die Frage, die schon Hermann Hesses Demian gestellt hat: wie man nämlich das leben soll, was man im Innersten selbst sein möchte. Aber seine Wucht erhält der Roman durch die Charakterisierung der Stadt der Schafe als eine Art von „Gated Community“ oder durch die Schilderung der Wölfe, die anfangs wie illegale Zuwanderer an der schwer bewachten Grenze stranden und späterin Horden diese Grenze belagern. Die besseren Wälder ruft damit die Bilder wach, die sich für Leser mit der Abschottung Europas vor Flüchtlingen oder mit der Grenze zwischen Mexiko und den USA verbinden – die Frage, wie man leben soll, ist keine Frage, die einer alleine und nur für sich lösen könnte.
Die besseren Wälder beruht auf einem Theaterstück, mit dem der Autor den Deutschen Jugendtheaterpreis gewann. Diese Herkunft merkt man dem Roman an. Er setzt eher auf effektvolle einzelne Szenen, die locker verbunden sind, als auf eine durchgängige bruchlose Erzählung. Er setzt auf Dialoge und auf eine knappe, oft geradezu karge Sprache, sowie auf vielfältige Illustrationen – Vignetten genauso wie ganzseitige Bilder –, die mal karikierend, mal virtuos-düster die Motive des Textes ausweiten; die ein Rudel Wölfe in eine Horde von Hooligans verwandeln, eine junge Wölfin in eine undurchsichtige Schönheit und den jungen Ferdinand mal in einen kleinen Schuljungen und dann wieder in einen unheimlichen Halbwüchsigen mit der Ausstrahlung eines Vampirs. In der Ausgestaltung des Buches setzt sich fort, was in Baltscheits frühem Roman Die Zeichner aus dem Jahr 2000 schon angelegt ist. In den Wölfen in Die besseren Wälder leben die Rudel und die winterliche Not wieder auf, denen Martin Baltscheit 2005 die Erzählung Die Belagerung gewidmet hat.
Die besseren Wälder ist nicht Comic, nicht Graphic Novel und nicht einfach nur Prosa. „Ein illustrierter Roman“ steht als Gattungsbezeichnung auf dem Schutzumschlag – und das ist ein angemessen offener Begriff für diese risikofreudige literarische Form eine Geschichte zu erzählen. (für junge Erwachsene)
Martin Baltscheit: Die besseren Wälder. Ein illustrierter Roman. Beltz & Gelberg 2013. 252 Seiten, 19,95 Euro.
Das musikalische Märchen „Peter und der Wolf“
von Sergej Prokofjew hat immer wieder Bilderbuchillustratoren inspiriert. Bei Kveta Pacovská löste es einen Farbrausch aus,
der in einem phantasievollen Kontrast
zur Geschichte steht. (minedition 19,95 Euro)
BUD
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Schafen
Martin Baltscheits Roman „Die besseren Wälder“
erzählt das Abenteuer der Identitätsfindung
VON MICHAEL SCHMITT
Martin Baltscheit erzählt von Wölfen und Schafen, aber er illustriert viele der Szenen mit Bildern von Männern und Frauen, Kindern und Jugendlichen; er erzählt von menschlichem Verhalten und von aktuellen Themen und zeigt das mit Schafen und Wölfen oder Mischwesen. Die besseren Wälder ist ein Roman, der von scharf definierten Grenzen handelt, aber für die Auflösung solcher Grenzen plädiert. Er beschränkt sich nicht auf die traditionelle Form einer Fabel, die von Tieren spricht, wenn sie Menschen meint, und damit eine moralische Botschaft transportieren möchte. Dieses Buch öffnet Vorstellungsräume, weckt den Sinn für Möglichkeiten, nicht für Gewissheiten – vielleicht mit Ausnahme dieser einen: Nicht deine Herkunft zählt, sondern wohin du gehst – und mit wem. Es gibt kein festes Ziel, aber viele mögliche Wege. Es gibt die Kategorien „draußen“ und „drinnen“, aber ein Zuhause gibt es nicht.
Ein junger Wolf, Ferdinand oder auch Ferd genannt, wächst bei einem kinderlosen Paar unter Schafen auf. Seine Eltern sind beim Versuch, in das militärisch gesicherte und komfortable Territorium der Schafe einzudringen, erschossen worden. Das Wolfsjunge aber wird adoptiert, passt sich zügig an und wird angepasst, kann aber gewisse wölfische Eigenschaften nie ganz verleugnen. Ferd durchläuft Schulen und Initiationsrituale, findet Freunde unter den gleichaltrigen Schafen, mit denen er gemeinsam über die Stränge schlägt; er gerät dann aber in den Verdacht, seine Freundin ermordet zu haben, woraufhin er flieht und wieder unter Wölfen auf der anderen Seite der Grenze landet, um neuen Bewährungsproben und neuem Misstrauen zu begegnen. Denn unter den Schafen ist aus dem Wolf selbst ein halbes Schaf geworden, er gehört nirgends hin, nicht in die heile Welt und nicht unter die aggressiven Besitzlosen draußen vor den Zäunen.
Das lässt sich als Coming-of-age-Geschichte lesen – und so geht es hier um die Frage, die schon Hermann Hesses Demian gestellt hat: wie man nämlich das leben soll, was man im Innersten selbst sein möchte. Aber seine Wucht erhält der Roman durch die Charakterisierung der Stadt der Schafe als eine Art von „Gated Community“ oder durch die Schilderung der Wölfe, die anfangs wie illegale Zuwanderer an der schwer bewachten Grenze stranden und späterin Horden diese Grenze belagern. Die besseren Wälder ruft damit die Bilder wach, die sich für Leser mit der Abschottung Europas vor Flüchtlingen oder mit der Grenze zwischen Mexiko und den USA verbinden – die Frage, wie man leben soll, ist keine Frage, die einer alleine und nur für sich lösen könnte.
Die besseren Wälder beruht auf einem Theaterstück, mit dem der Autor den Deutschen Jugendtheaterpreis gewann. Diese Herkunft merkt man dem Roman an. Er setzt eher auf effektvolle einzelne Szenen, die locker verbunden sind, als auf eine durchgängige bruchlose Erzählung. Er setzt auf Dialoge und auf eine knappe, oft geradezu karge Sprache, sowie auf vielfältige Illustrationen – Vignetten genauso wie ganzseitige Bilder –, die mal karikierend, mal virtuos-düster die Motive des Textes ausweiten; die ein Rudel Wölfe in eine Horde von Hooligans verwandeln, eine junge Wölfin in eine undurchsichtige Schönheit und den jungen Ferdinand mal in einen kleinen Schuljungen und dann wieder in einen unheimlichen Halbwüchsigen mit der Ausstrahlung eines Vampirs. In der Ausgestaltung des Buches setzt sich fort, was in Baltscheits frühem Roman Die Zeichner aus dem Jahr 2000 schon angelegt ist. In den Wölfen in Die besseren Wälder leben die Rudel und die winterliche Not wieder auf, denen Martin Baltscheit 2005 die Erzählung Die Belagerung gewidmet hat.
Die besseren Wälder ist nicht Comic, nicht Graphic Novel und nicht einfach nur Prosa. „Ein illustrierter Roman“ steht als Gattungsbezeichnung auf dem Schutzumschlag – und das ist ein angemessen offener Begriff für diese risikofreudige literarische Form eine Geschichte zu erzählen. (für junge Erwachsene)
Martin Baltscheit: Die besseren Wälder. Ein illustrierter Roman. Beltz & Gelberg 2013. 252 Seiten, 19,95 Euro.
Das musikalische Märchen „Peter und der Wolf“
von Sergej Prokofjew hat immer wieder Bilderbuchillustratoren inspiriert. Bei Kveta Pacovská löste es einen Farbrausch aus,
der in einem phantasievollen Kontrast
zur Geschichte steht. (minedition 19,95 Euro)
BUD
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2013Musikalische Väter sind sehr gefragt
Einmal Wolf, immer Wolf? In seinem Roman "Die besseren Wälder" fragt der Autor und Illustrator Martin Baltscheit, was uns stärker bestimmt: Natur oder Erziehung.
Was sich die Wolfsfamilie erhofft, die nachts durch den Schnee läuft, um in das streng bewachte Gehege einzudringen, liegt auf der Hand: "Lammfleisch! Lammkeule! Lammhack", so geht das Mantra, das die Wölfe gegen Angst und Kälte murmeln, bis zu den finalen "Lammrippchen". Dann haben die Wächter nach der Wolfsmutter auch den Vater erschossen, und das Kind fällt innerhalb der Umzäunung einem kinderlosen Schafspaar vor die Füße. Eigentlich sollten sie es töten. Stattdessen ziehen sie den nun "Ferdinand" getauften Jungen groß - als Schaf. Er ist bestens in seine friedliche Wahlheimat integriert, lebt vegetarisch und singt beim Gottesdienst das "Schafe Maria". Eines Tages aber wird er bewusstlos neben dem ermordeten Schäfchen Melanie gefunden, dem man die Kehle durchgebissen hat. Unser Verdacht fällt auf Ferdinand - einmal Wolf, immer Wolf?
So steht es im ersten Teil von Martin Baltscheits Roman "Die besseren Wälder". Ganz am Anfang aber, unmittelbar vor dem dramatischen Ausflug der Wolfsfamilie wird eine andere Geschichte erzählt: Von Hunger ist auch hier die Rede, vom Anstehen nach Essen und vom Rübenkochen, von der Hoffnung darauf, dass sich eine Fabrik in dieser verarmten Gegend ansiedelt. Und davon, dass man eigentlich fortgehen müsste. Doch auch diese Gespräche, zeitlos und immer aktuell, wo Menschen kein Auskommen haben, werden von Wölfen geführt.
Und so unscharf, wie an dieser Stelle die Grenze zwischen Mensch und Tier gezogen ist, bleibt sie das gesamte Buch über. Darum ist es auch keine klassische Fabel, die der Autor Martin Baltscheit erzählt, keine Geschichte von uns, die zur Verdeutlichung bestimmter Eigenschaften oder im Dienst einer Moral ein Tierdekor trägt. Denn statt Gewissheit zu bieten, lässt sie Identitäten verschwimmen, und die Verwandlung eines hungrigen Wolfsjungen in ein lammfrommes, bestens integriertes Schäfchen durch Erziehung, Beispiel und Lockenwickler zur Fellbehandlung ist dafür nur das auffälligste Beispiel. So erleben wir Jungschafe, die mit Handys spielen, Eis essen, an Klettergerüsten herumturnen, sich also wie menschliche Teenager verhalten und bei denen umgekehrt das spezifisch Schafhafte eher wie angelernte Konvention daherkommt. Wäre es anders, stünde es um die Integrationsbemühungen des jungen Wolfs erheblich schlechter.
Martin Baltscheit ist seit vielen Jahren in der Kinderliteratur eine feste Größe - als Autor, Illustrator und nicht zuletzt auch als Schauspieler und Hörbuchsprecher. Vor drei Jahren erhielt er für sein Theaterstück "Die besseren Wälder" den Deutschen Jugendtheaterpreis, und dass es ein Schauspiel ist, dem sich nun der gleichnamige Roman verdankt, teilt sich sofort mit: rasche Szenenwechsel, pointierte Dialoge, kaum eine Schilderung aus dem Inneren einer Figur, nichts, was sich nicht auch auf einer Bühne zeigen ließe. Wo Regieanweisungen und Dialoge nicht mehr ausreichen, erzählen Baltscheits Illustrationen die Geschichte weiter. Und immer wieder fühlt man sich vom Autor zu vorschnellen Schlüssen verführt oder geradewegs getäuscht. Den Figuren geht es ähnlich: Schon die flüchtende Wolfsfamilie glaubt, im gelobten Land hinter den Zäunen von sieben Sonnen begrüßt zu werden. Tatsächlich sind es sieben Suchscheinwerfer.
Dem Thema des Buchs kommt diese Struktur zugute: Denn die Frage, was Natur an uns ist und was angelernt, stellen sich nicht nur die Leser. Auch die Figuren beobachten sich selbst und die anderen, wägen ab und schreiben zu, und so gehört es zu den irrwitzigsten Szenen, dass Ferdinand im Verlauf seiner Untersuchungshaft von einem Bären, der behauptet, eine Biene zu sein (oder umgekehrt), und einer Gans, die ein Fuchs sein will (oder umgekehrt), genötigt wird, sich endlich zu seiner Wolfsnatur zu bekennen. Was das aber sein soll, erweist sich als immer schwieriger zu bestimmen, je mehr Ferdinand nun tatsächlich mit Wölfen zu tun hat. Und spätestens wenn im Finale das vorher friedlichste aller Schafe den wildesten der Wölfe im Nahkampf niederstreckt, ahnt man, dass nichts die beiden Lebensweisen so sehr konturiert hat wie die simple Tatsache des Zauns zwischen den beiden Gruppen.
All das ist ebenso aufregend wie abgründig, und fertig wird man mit der Geschichte lange nicht. Sie steckt aber auch voller Wortspiele bis hin zum Kalauer und sucht im Absurden das Bezeichnende: "Es gibt ein neues Bauprojekt, mein lieber von der Weide, da können wir musikalische Väter gebrauchen", sagt der vom "Schafe Maria" beglückte Kardinal gönnerhaft zu Ferdinands Adoptiv-Vater, dem Architekten. Besser - und aberwitziger - hätte man die Gesellschaft hinter den Zäunen nicht charakterisieren können.
TILMAN SPRECKELSEN
Martin Baltscheit: "Die besseren Wälder".
Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim 2013. 240 S., geb., 19,95 [Euro]. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einmal Wolf, immer Wolf? In seinem Roman "Die besseren Wälder" fragt der Autor und Illustrator Martin Baltscheit, was uns stärker bestimmt: Natur oder Erziehung.
Was sich die Wolfsfamilie erhofft, die nachts durch den Schnee läuft, um in das streng bewachte Gehege einzudringen, liegt auf der Hand: "Lammfleisch! Lammkeule! Lammhack", so geht das Mantra, das die Wölfe gegen Angst und Kälte murmeln, bis zu den finalen "Lammrippchen". Dann haben die Wächter nach der Wolfsmutter auch den Vater erschossen, und das Kind fällt innerhalb der Umzäunung einem kinderlosen Schafspaar vor die Füße. Eigentlich sollten sie es töten. Stattdessen ziehen sie den nun "Ferdinand" getauften Jungen groß - als Schaf. Er ist bestens in seine friedliche Wahlheimat integriert, lebt vegetarisch und singt beim Gottesdienst das "Schafe Maria". Eines Tages aber wird er bewusstlos neben dem ermordeten Schäfchen Melanie gefunden, dem man die Kehle durchgebissen hat. Unser Verdacht fällt auf Ferdinand - einmal Wolf, immer Wolf?
So steht es im ersten Teil von Martin Baltscheits Roman "Die besseren Wälder". Ganz am Anfang aber, unmittelbar vor dem dramatischen Ausflug der Wolfsfamilie wird eine andere Geschichte erzählt: Von Hunger ist auch hier die Rede, vom Anstehen nach Essen und vom Rübenkochen, von der Hoffnung darauf, dass sich eine Fabrik in dieser verarmten Gegend ansiedelt. Und davon, dass man eigentlich fortgehen müsste. Doch auch diese Gespräche, zeitlos und immer aktuell, wo Menschen kein Auskommen haben, werden von Wölfen geführt.
Und so unscharf, wie an dieser Stelle die Grenze zwischen Mensch und Tier gezogen ist, bleibt sie das gesamte Buch über. Darum ist es auch keine klassische Fabel, die der Autor Martin Baltscheit erzählt, keine Geschichte von uns, die zur Verdeutlichung bestimmter Eigenschaften oder im Dienst einer Moral ein Tierdekor trägt. Denn statt Gewissheit zu bieten, lässt sie Identitäten verschwimmen, und die Verwandlung eines hungrigen Wolfsjungen in ein lammfrommes, bestens integriertes Schäfchen durch Erziehung, Beispiel und Lockenwickler zur Fellbehandlung ist dafür nur das auffälligste Beispiel. So erleben wir Jungschafe, die mit Handys spielen, Eis essen, an Klettergerüsten herumturnen, sich also wie menschliche Teenager verhalten und bei denen umgekehrt das spezifisch Schafhafte eher wie angelernte Konvention daherkommt. Wäre es anders, stünde es um die Integrationsbemühungen des jungen Wolfs erheblich schlechter.
Martin Baltscheit ist seit vielen Jahren in der Kinderliteratur eine feste Größe - als Autor, Illustrator und nicht zuletzt auch als Schauspieler und Hörbuchsprecher. Vor drei Jahren erhielt er für sein Theaterstück "Die besseren Wälder" den Deutschen Jugendtheaterpreis, und dass es ein Schauspiel ist, dem sich nun der gleichnamige Roman verdankt, teilt sich sofort mit: rasche Szenenwechsel, pointierte Dialoge, kaum eine Schilderung aus dem Inneren einer Figur, nichts, was sich nicht auch auf einer Bühne zeigen ließe. Wo Regieanweisungen und Dialoge nicht mehr ausreichen, erzählen Baltscheits Illustrationen die Geschichte weiter. Und immer wieder fühlt man sich vom Autor zu vorschnellen Schlüssen verführt oder geradewegs getäuscht. Den Figuren geht es ähnlich: Schon die flüchtende Wolfsfamilie glaubt, im gelobten Land hinter den Zäunen von sieben Sonnen begrüßt zu werden. Tatsächlich sind es sieben Suchscheinwerfer.
Dem Thema des Buchs kommt diese Struktur zugute: Denn die Frage, was Natur an uns ist und was angelernt, stellen sich nicht nur die Leser. Auch die Figuren beobachten sich selbst und die anderen, wägen ab und schreiben zu, und so gehört es zu den irrwitzigsten Szenen, dass Ferdinand im Verlauf seiner Untersuchungshaft von einem Bären, der behauptet, eine Biene zu sein (oder umgekehrt), und einer Gans, die ein Fuchs sein will (oder umgekehrt), genötigt wird, sich endlich zu seiner Wolfsnatur zu bekennen. Was das aber sein soll, erweist sich als immer schwieriger zu bestimmen, je mehr Ferdinand nun tatsächlich mit Wölfen zu tun hat. Und spätestens wenn im Finale das vorher friedlichste aller Schafe den wildesten der Wölfe im Nahkampf niederstreckt, ahnt man, dass nichts die beiden Lebensweisen so sehr konturiert hat wie die simple Tatsache des Zauns zwischen den beiden Gruppen.
All das ist ebenso aufregend wie abgründig, und fertig wird man mit der Geschichte lange nicht. Sie steckt aber auch voller Wortspiele bis hin zum Kalauer und sucht im Absurden das Bezeichnende: "Es gibt ein neues Bauprojekt, mein lieber von der Weide, da können wir musikalische Väter gebrauchen", sagt der vom "Schafe Maria" beglückte Kardinal gönnerhaft zu Ferdinands Adoptiv-Vater, dem Architekten. Besser - und aberwitziger - hätte man die Gesellschaft hinter den Zäunen nicht charakterisieren können.
TILMAN SPRECKELSEN
Martin Baltscheit: "Die besseren Wälder".
Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim 2013. 240 S., geb., 19,95 [Euro]. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit "Die besseren Wälder", dem neuen Jugendbuch des Autors und Illustrators Martin Baltscheit, hat Rezensent Tilman Spreckelsen ein ganz wunderbares Buch entdeckt, das die Frage nach der Prägung durch Natur oder Erziehung stellt. Er folgt hier einem kleinen Wolf, der von einem kinderlosen Schafspaar aufgenommen wird, als Schaf "Ferdinand" heranwächst und sich die Frage nach seiner Identität erst stellt, als er bewusstlos neben dem ermordeten Schaf Melanie gefunden wird. Fasziniert beobachtet der Kritiker, wie Baltscheit die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen lässt, ohne dabei jedoch je ins Fabelhafte abzugleiten. Vielmehr spiele der Autor mit den Grenzen, täusche den Leser in herrlich irrwitzigen Szenen und lasse in seiner ebenso "abgründigen" wie spannenden Geschichte die Frage nach unserer Identität lange nachhallen. Dank "pointierter" Dialoge, eindrucksvoller Illustrationen und hintergründiger Anspielungen kann der Kritiker dieses Buch nicht nur Jugendlichen unbedingt empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Martin Baltscheit mischt packende Szenen mit ausdruckstarken Bildern.« 3sat.de »Ein ungewöhnlicher Krimi.« Die besten 7 Bücher für junge Leser/Deutschlandfunk »Eine packende, höchst aktuell erzählte »Geschichte: Wolf unter Schafen. Liebe ohne Grenzen«. Ein überzeugendes, vielschichtiges Fabel-Spiel, unterstützt und erweitert mit Illustrationen in Pop-Art und mit Bezügen zu Literatur, Film und Kunst der jugendlichen Leser.« Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendlichenliteratur e.V. »Martin Baltscheit ist eine eindrückliche Kombination aus Fabel und Krimi gelungen, die Illustrationen und die grafische Darstellung bestimmter Textelemente machen die Geschichte noch lebendiger. (...) Trotz seiner gewichtigen Themen behält das Buch dank der flüssigen Erzählweise und dem fein mitschwingenden Humor eine erstaunliche Leichtigkeit.« Neue Zürcher Zeitung »Baltscheits 'illustrierter Roman' - die tollen Illustrationen stammen vom Autor selbst - ist eine packende Coming-of-Age-Geschichte mit gutem Ausgang.« Kurier »Es gibt zahlreiche Lesarten und Interpretationen. Und ganz sicher lohnt es sich, sich das Werk mehrfach vorzunehmen, denn es ist ein echter Kunstgenuss aus dem Schöpfungsgeist eines begnadeten, preisgekrönten Multitalents. Außergewöhnlich!« AGM Magazin »Der neue Roman von Martin Baltscheit ist ein Kunstwerk. Optisch auf den ersten Blick, und inhaltliche auch schon nach den ersten Seiten. (...) Baltscheits Roman ist poetisch und geht unendlich tief, ohne junge Leser dabei zu überfordern - dafür knallt die bisweilen explizite Sprache des Autors zu sehr. Ein opulentes Werk, das einen noch Tage nach dem letzten Satz beschäftigt.« "Bücher Magazin" des Kölner Stadt-Anzeigers »Baltscheit gelingt es, komplexe Themen wie Identitätssuche, Fremdheit oder Herkunft mit einer sprachlichen Überzeugungskraft zu erzählen, über die wirklich nur ausgewählte Autoren verfügen. Spektakulär.« DEUTSCH »'Die besseren Wälder' spricht von Krieg, Politik, Liebe und Identitätsfindung in anarchischen wie raffinierten Bildern, durchkreuzt Erwartungen, schafft bei aller Düsternis Raum für neue Lebbarkeiten und zeigt, dass weder Natur noch Kultur unmenschliches Verhalten legitimieren.« Buch & Maus »'Die besseren Wälder' sollte jeder gelesen haben, es ist ein tolles Werk, dass zum Nachdenken anregt.« lizzynet.de »Martin Baltscheits Roman ist sperrig, doch spannend, genial und wuchtig von ihm selbst illustriert.« Darmstädter Echo