Ein nüchternes, sarkastisches Buch über den Holocaust, geschrieben aus der Sicht der Kinder der Opfer. Die Autorin, 1963 in Frankfurt geboren, studierte und arbeitete in Israel. In beklemmenden Szenen schildert sie die Zeit zwischen der Weimarer Republik und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erzählt von Personen, die in die Vernichtungsmaschinerie der Nazis geraten, von Opfern, die als Denunzianten gleichzeitig auch zu Tätern werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.1995Fünf Gramm Uhrenteile
Gila Lustigers schaurige Bilderrätsel · Von Jakob Hessing
Es ist nicht leicht, einen deutschsprachigen Roman über den Holocaust im Buchhandel unterzubringen. Das Thema sei zur Genüge behandelt worden, heißt es dazu nur allzuoft in den Ablehnungen der Lektorate. Diese Erfahrung hat auch Gila Lustiger gemacht, eine junge deutsch-jüdische Schriftstellerin in Paris, deren erster Roman lange keinen Verlag fand. Jetzt liegt "Die Bestandsaufnahme" vor, und es zeigt sich, daß der Roman hält, was sein Titel verspricht. In 34 Kapiteln und einem Epilog entdeckt der überraschte Leser einen bedeutenden Gesellschaftsroman der Zwischenkriegsjahre und der Hitlerzeit. Unter Titeln, die ihren Inhalt eher verhüllen als preisgeben, werden Bruchteile einer Welt sichtbar, die sich zu einem erschreckenden Mosaik zusammensetzen.
Ein Beispiel ist das frühe Kapitel "Trockene Erde (Fünf Gramm Uhrenteile)". In einer Scheune treten dort fünf Personen auf: die Kellnerin Berti und der Wirtssohn Franzi Zink, der ihr im Heu nachstellt; ferner die beiden jüdischen Kinder Vera Lipmann und ihr Bruder Hermann sowie der deutsche Junge Oswald Blatt; sie beobachten das Paar dabei, wie der Mann seinen Kopf zwischen die Beine der über ihm stehenden Kellnerin steckt.
Schließlich werden die Kinder entdeckt, der aufgebrachte Wirtssohn vertreibt sie aus der Scheune, und auf der Flucht verstaucht sich Hermann den Fuß. Dann läßt Gila Lustiger das Kapitel folgendermaßen enden: "Als nicht einmal mehr ein blauer Fleck oder die letzten Reste einer Schramme auf das Erlebnis verweisen konnten, wurde es Erinnerung, die auch brüchig wurde wie trockene Erde im Hochsommer, so daß bald nichts mehr blieb als die Eintragungen im Tagebuch Veras und eine schon am nächsten Tag angefertigte geometrische Zeichnung, die einen von zwei länglichen, fleischfarbenen Ellipsen umsäumten dunklen Kreis darstellte, (...) auf dem Vera, um ihn plastisch hervorzuheben, ein Spannrad und einige Rädchen geklebt hatte, die sie aus einer alten und nicht mehr funktionierenden Uhr der Mutter herausgebrochen hatte. Denn für solch eine Art Erlebnis fehlten unserer Heldin ganz einfach die Worte."
Trockene Erde und Uhrenteile stehen in einer scheinbar beiläufigen und doch entscheidenden Beziehung zueinander. Am Beispiel eines Kindes, das eine ihm noch unverständliche Szene sieht, führt Gila Lustiger uns ihre Erzähltechnik vor: Sie schafft ein Bilderrätsel, dessen Erinnerung zu zerbröckeln droht wie trockene Erde, das im Laufe der in den Uhrenteilen schon vorausgedeuteten Zeit aber manche Auflösung finden wird.
Es war eine Liebesszene, der die Kinder beigewohnt haben, aber man sollte sie eher einen Sexualakt nennen. Denn Gila Lustiger hat ihrem Roman ein Motto von Johannes Bobrowski gegeben: "Wo Liebe nicht ist, sprich das Wort nicht aus." Im letzten Kapitel des Romans, unter dem Titel "Schlußrechnung", werden die Toten des Buches genannt, unter ihnen Hermann Lipmann, "zuletzt in Buchenwald ansässig"; und zugleich wird berichtet, wie es der Kellnerin Berti geht: Sie hat gerade "die Milch überlaufen lassen und wird ins Gesicht geschlagen, weil man in diesen Zeiten nichts anbrennen lassen darf. Sie nimmt es, ohne aufzumucken, hin. Sie will den Wirtssohn, den Zinkerl, heiraten und läßt sich so leicht nicht abschütteln. Beim nächsten Heimaturlaub wird sie versuchen, sich von ihm schwängern zu lassen."
Der berechneten Fortpflanzung steht der Tod gegenüber. Franzi Zink, derweil zum Unteroffizier in Hitlers Armee avanciert, schaut in einem Wald in der Nähe von Wilna der SS bei der Arbeit zu. "Die erste Judengruppe wurde abgeschossen", lesen wir, "die Schüsse wurden salvenartig von zehn SS-Männern abgegeben, die zirka zwanzig Meter hinter der Reihe standen. Die Juden fielen in die Grube."
Gila Lustiger verteilt ihre Figuren in einer weiten, fürchterlichen Landschaft. Oswald Blatt, dem deutschen Jungen aus der Scheune, begegnen wir im Untergrund wieder. Und auch im Schicksal Vera Lipmanns, die einst die Uhrenteile auf ihr Bild geklebt hatte, begegnen sich noch einmal die Sexualität und der Tod: Sie kommt nach Auschwitz, muß im Lagerbordell arbeiten, erkrankt an Typhus und wird von einem Arzt umgebracht.
Die beiden Kapitel über Oswald Blatt und Vera Lipmann heißen "Der Photoapparat" und "Die Korallenkette". Vielen Abschnitten ihres Romans gibt Gila Lustiger solch harte, unpersönliche Titel. Die Kapitelüberschriften ihrer Bestandsaufnahme lesen sich wie eine Antwort auf "Inventur", Günter Eichs berühmtes Nachkriegsgedicht, in dem ein Deutscher an den Worten des Alltags wieder das Sprechen zu lernen versuchte.
Gila Lustiger, 1963 in Frankfurt am Main geboren, könnte Günter Eichs Enkelin sein. Ihr Vater ist Arno Lustiger, ein Überlebender der Lager, der den jüdischen Widerstand gegen Hitler in eigenen Büchern beschrieben hat. Es ist eine schwierige Herkunft, sie macht es der Tochter nicht leichter, sich der Vergangenheit zu nähern. Die Figuren ihres Romans, in dem sich die Generationen begegnen, stehen auf doppelbödigem Grund.
Das weiß auch eine Jüdin, die Gila Lustigers Bestandsaufnahme überlebt. Im Kapitel "Lea oder wie man das Zweifeln lernt" lesen wir von ihr als kleinem Mädchen, das sich durch die Geburt eines Bruders aus der Gunst der Mutter verdrängt glaubt. Auf einem Spaziergang mit ihrer deutschen Kinderfrau Erika muß sie am Ende des Kapitels erleben, wie ihr die ganze Familie in einem Wagen davonfährt.
Erika rettet das Mädchen. Sie adoptiert es, beginnt ein neues Leben mit ihm, zuerst in der Schweiz, dann in Amerika, und lange wird Lea nicht wissen, daß es die Gestapo war, die ihre Familie in den Tod geholt hat. Dieses späte Ende ihrer Geschichte bildet den Epilog des Romans: Erst als ältere Frau, überwindet Lea den Schmerz der im Stich Gelassenen. Aber die Rollen haben sich nur verkehrt. Lea tauscht nur das eine Leid gegen das andere aus - gegen das Schuldgefühl, als einzige ihrer Familie am Leben geblieben zu sein.
Gila Lustiger: "Die Bestandsaufnahme". Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 1995. 336 S., geb., 36,- DM.
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Gila Lustigers schaurige Bilderrätsel · Von Jakob Hessing
Es ist nicht leicht, einen deutschsprachigen Roman über den Holocaust im Buchhandel unterzubringen. Das Thema sei zur Genüge behandelt worden, heißt es dazu nur allzuoft in den Ablehnungen der Lektorate. Diese Erfahrung hat auch Gila Lustiger gemacht, eine junge deutsch-jüdische Schriftstellerin in Paris, deren erster Roman lange keinen Verlag fand. Jetzt liegt "Die Bestandsaufnahme" vor, und es zeigt sich, daß der Roman hält, was sein Titel verspricht. In 34 Kapiteln und einem Epilog entdeckt der überraschte Leser einen bedeutenden Gesellschaftsroman der Zwischenkriegsjahre und der Hitlerzeit. Unter Titeln, die ihren Inhalt eher verhüllen als preisgeben, werden Bruchteile einer Welt sichtbar, die sich zu einem erschreckenden Mosaik zusammensetzen.
Ein Beispiel ist das frühe Kapitel "Trockene Erde (Fünf Gramm Uhrenteile)". In einer Scheune treten dort fünf Personen auf: die Kellnerin Berti und der Wirtssohn Franzi Zink, der ihr im Heu nachstellt; ferner die beiden jüdischen Kinder Vera Lipmann und ihr Bruder Hermann sowie der deutsche Junge Oswald Blatt; sie beobachten das Paar dabei, wie der Mann seinen Kopf zwischen die Beine der über ihm stehenden Kellnerin steckt.
Schließlich werden die Kinder entdeckt, der aufgebrachte Wirtssohn vertreibt sie aus der Scheune, und auf der Flucht verstaucht sich Hermann den Fuß. Dann läßt Gila Lustiger das Kapitel folgendermaßen enden: "Als nicht einmal mehr ein blauer Fleck oder die letzten Reste einer Schramme auf das Erlebnis verweisen konnten, wurde es Erinnerung, die auch brüchig wurde wie trockene Erde im Hochsommer, so daß bald nichts mehr blieb als die Eintragungen im Tagebuch Veras und eine schon am nächsten Tag angefertigte geometrische Zeichnung, die einen von zwei länglichen, fleischfarbenen Ellipsen umsäumten dunklen Kreis darstellte, (...) auf dem Vera, um ihn plastisch hervorzuheben, ein Spannrad und einige Rädchen geklebt hatte, die sie aus einer alten und nicht mehr funktionierenden Uhr der Mutter herausgebrochen hatte. Denn für solch eine Art Erlebnis fehlten unserer Heldin ganz einfach die Worte."
Trockene Erde und Uhrenteile stehen in einer scheinbar beiläufigen und doch entscheidenden Beziehung zueinander. Am Beispiel eines Kindes, das eine ihm noch unverständliche Szene sieht, führt Gila Lustiger uns ihre Erzähltechnik vor: Sie schafft ein Bilderrätsel, dessen Erinnerung zu zerbröckeln droht wie trockene Erde, das im Laufe der in den Uhrenteilen schon vorausgedeuteten Zeit aber manche Auflösung finden wird.
Es war eine Liebesszene, der die Kinder beigewohnt haben, aber man sollte sie eher einen Sexualakt nennen. Denn Gila Lustiger hat ihrem Roman ein Motto von Johannes Bobrowski gegeben: "Wo Liebe nicht ist, sprich das Wort nicht aus." Im letzten Kapitel des Romans, unter dem Titel "Schlußrechnung", werden die Toten des Buches genannt, unter ihnen Hermann Lipmann, "zuletzt in Buchenwald ansässig"; und zugleich wird berichtet, wie es der Kellnerin Berti geht: Sie hat gerade "die Milch überlaufen lassen und wird ins Gesicht geschlagen, weil man in diesen Zeiten nichts anbrennen lassen darf. Sie nimmt es, ohne aufzumucken, hin. Sie will den Wirtssohn, den Zinkerl, heiraten und läßt sich so leicht nicht abschütteln. Beim nächsten Heimaturlaub wird sie versuchen, sich von ihm schwängern zu lassen."
Der berechneten Fortpflanzung steht der Tod gegenüber. Franzi Zink, derweil zum Unteroffizier in Hitlers Armee avanciert, schaut in einem Wald in der Nähe von Wilna der SS bei der Arbeit zu. "Die erste Judengruppe wurde abgeschossen", lesen wir, "die Schüsse wurden salvenartig von zehn SS-Männern abgegeben, die zirka zwanzig Meter hinter der Reihe standen. Die Juden fielen in die Grube."
Gila Lustiger verteilt ihre Figuren in einer weiten, fürchterlichen Landschaft. Oswald Blatt, dem deutschen Jungen aus der Scheune, begegnen wir im Untergrund wieder. Und auch im Schicksal Vera Lipmanns, die einst die Uhrenteile auf ihr Bild geklebt hatte, begegnen sich noch einmal die Sexualität und der Tod: Sie kommt nach Auschwitz, muß im Lagerbordell arbeiten, erkrankt an Typhus und wird von einem Arzt umgebracht.
Die beiden Kapitel über Oswald Blatt und Vera Lipmann heißen "Der Photoapparat" und "Die Korallenkette". Vielen Abschnitten ihres Romans gibt Gila Lustiger solch harte, unpersönliche Titel. Die Kapitelüberschriften ihrer Bestandsaufnahme lesen sich wie eine Antwort auf "Inventur", Günter Eichs berühmtes Nachkriegsgedicht, in dem ein Deutscher an den Worten des Alltags wieder das Sprechen zu lernen versuchte.
Gila Lustiger, 1963 in Frankfurt am Main geboren, könnte Günter Eichs Enkelin sein. Ihr Vater ist Arno Lustiger, ein Überlebender der Lager, der den jüdischen Widerstand gegen Hitler in eigenen Büchern beschrieben hat. Es ist eine schwierige Herkunft, sie macht es der Tochter nicht leichter, sich der Vergangenheit zu nähern. Die Figuren ihres Romans, in dem sich die Generationen begegnen, stehen auf doppelbödigem Grund.
Das weiß auch eine Jüdin, die Gila Lustigers Bestandsaufnahme überlebt. Im Kapitel "Lea oder wie man das Zweifeln lernt" lesen wir von ihr als kleinem Mädchen, das sich durch die Geburt eines Bruders aus der Gunst der Mutter verdrängt glaubt. Auf einem Spaziergang mit ihrer deutschen Kinderfrau Erika muß sie am Ende des Kapitels erleben, wie ihr die ganze Familie in einem Wagen davonfährt.
Erika rettet das Mädchen. Sie adoptiert es, beginnt ein neues Leben mit ihm, zuerst in der Schweiz, dann in Amerika, und lange wird Lea nicht wissen, daß es die Gestapo war, die ihre Familie in den Tod geholt hat. Dieses späte Ende ihrer Geschichte bildet den Epilog des Romans: Erst als ältere Frau, überwindet Lea den Schmerz der im Stich Gelassenen. Aber die Rollen haben sich nur verkehrt. Lea tauscht nur das eine Leid gegen das andere aus - gegen das Schuldgefühl, als einzige ihrer Familie am Leben geblieben zu sein.
Gila Lustiger: "Die Bestandsaufnahme". Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 1995. 336 S., geb., 36,- DM.
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