Stellen Sie sich vor, in Ihrer Sterbesekunde enthüllten sich Ihnen auf einen Schlag sämtliche Geheimnisse der Welt! Die Große Liste - sie ist eine Lieblingsvorstellung des alternden, aber charismatischen Schriftstellers Arthur Bittner, wie er sie seinem jüngeren Freund und designierten Biographen Karl Lorentz erzählt. In Karls Verehrung des großen Mannes, der immer noch viel Erfolg in der Damenwelt hat, haben sich schon ein paar Risse aufgetan, da erwähnt Bittner eine Tochter aus einer früheren Beziehung. Karl sucht sie - es ist die Zeit nach der Wende und vor dem Euro - in der Berliner Galerie auf, die sie mit einer Freundin teilt. Er verliebt sich, und als sie sich nach einer gemeinsam verbrachten Nacht nicht wieder meldet, beginnt ein Spiel der Scharaden und Verwechslungen. Jeder zweite führt ein verstecktes Doppelleben, Freunde und Kollegen verraten, beneiden und bewundern einander, und eigentlich geht es um das kleine Gelingen im großen Scheitern, um Liebe, Freundschaft und Tod. Und Karl hat an entscheidender Stelle nicht richtig zugehört... In seinem glänzend geschriebenen literarischen Debut erzählt der Essayist und Kritiker Michael Maar von Kunst, Eitelkeit, Sehnsucht und Tod.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Zu viel des Guten bekommt Joseph Hanimann mit diesem Romandebüt des Mann-, Proust- und Nabokov-Kenners Michael Maar. Wenn alle Zettelkästen geleert sind, stellt der Rezensent enttäuscht fest, ist vielleicht ein Meisterstück der Feinknoterei mit mannigfachen Nebensträngen und einer Vielzahl an Betrachtungen und Bildern entstanden, aber weder eine spannende Milieustudie zum Literaturbetrieb (wie es der Autor möglicherweise im Sinn hatte) noch eine Liebesgeschichte noch ein einziges scharfes Figurenporträt. Dass der Autor die Kunst des auslassenden Erzählens beherrscht, kann Hanimann indes gleich an mehreren Beispielen belegen. Und wie ein alternder Schriftsteller langsam in Schwermut versinkt, diese Schilderung im Roman bleibt Hanimann noch lang im Gedächtnis.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2012Klatschmohnpartien
In seinem Romandebüt porträtiert Michael Maar den Menschen als ein umwegiges Wesen
Wer von der Kritik oder der Literaturwissenschaft zur Literatur wechselt, muss in deutschen Landen mit Häme rechnen. Zu konstruiert, zu gebildet, womöglich eitel; er weiß, wie es geht, kann es aber nicht, lauten dann die schnell fertigen Urteile. Der Kritiker und Essayist Michael Maar, preisgekrönter Interpret Thomas Manns überdies, kennt den Literaturbetrieb besser als seine Sakkotaschen, deshalb hat er dem Leseexemplar seines Romanerstlings ein Gespräch mit seinem Lektor vorangestellt, in dem er potentiellen Rezensenten ein wenig Zucker gibt.
Stolz ist der 1960 geborene Jungromancier auf das Titelbild, in dem der Maler und Illustrator Nikolas Heidelbach ein "halb-symbolisches Motiv des Romans aufgegriffen" hat. Es zeigt die Rückansicht einer Schwarzhaarigen in einem Cocktail-Kleid im Design einer Feuerwanze, jenem karminrot und schwarz gemusterten Tierchen, das dem Volksmund als besonders paarungsfreudig gilt. Der Farbkontrast wiederholt sich im Schriftbild, so dass der Leser auf Stendhals "Le Rouge et le Noir" verwiesen sein könnte, damit auf den sozialen Zusammenhang von Heuchelei, Eitelkeit und Begehren in der Großstadt. Das Kleid zeigt in der Körpermitte eine birnenförmige Rundung, die von der ovalen Form der Feuerwanze abweicht. Arnold Stadler würde hier einen typischen Fall von "Birnenarsch" diagnostizieren, das ist aber gar nicht der Sprachgebrauch von Michael Maars Erzähler.
Die Handlung spielt noch im letzten Jahrhundert, was vor allem auffällt, weil überall geraucht wird. Die Hauptpersonen sind mehr oder minder bedeutende Akteure im literarischen Leben der Bundesrepublik nach der Wende. Es gibt einen großen Autor, der eine uneheliche Tochter hat und auch im Alter noch dem Amourösen zugetan ist, einen Konkurrenten, mit dem er sich über Fragen der Musik zerstritten hat, einen Jungstar aus dem Osten, eine löwenmähnige Literaturagentin, den Präsidenten einer einen wichtigen Preis vergebenden literarischen Gesellschaft und einen eben verstorbenen charismatischen Verleger. In einigen Details mag der Leser Martin Walser, Durs Grünbein, Siegfried Unseld und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung unter Christian Meier erkennen. Michael Maar spielt da ein wenig mit seinen Kenntnissen, aber ein Schlüsselroman ist "Die Betrogenen" zweifellos nicht.
Niemand redet in diesem Milieu ganz ehrlich mit den anderen, fast alle, auch die Nebenfiguren, führen ein Doppelleben. Karl, selbst ein Büchermensch kleineren Kalibers, angestellter Literaturagent und zwiegespaltener Bewunderer des großen Autors, kennt seine Klientel: "Er hatte es oft genug erlebt; das Sandkorn Kritik wog ihnen mehr als ganze Perlenschalen des Lobs." Er selbst scheint auch nicht Ingeborg Bachmanns Meinung zu teilen, dass die Wahrheit dem Menschen zumutbar ist, zumal er gerade eine Scheidung hinter sich hat. "Schließlich würde man selbst nicht gerne Wahrheiten hören. Schon bei der Vorstellung mußte Karl sich schütteln. Allein die Charakterschwächen, die man serviert bekäme, oder bei Ehekrächen tatsächlich manchmal serviert bekam."
Der Erzähler schildert seine Figuren mit all ihren Schwächen und Ticks, aber ganz ohne Entlarvungsgestus. Der Roman handelt nur vordergründig von den Eitelkeiten, kleinen Lügen und der gespreizten Selbstdarstellung in den Anspielungen auf Literatur, bildende Kunst und Musik. Viel mehr geht es um Irrungen und Wirrungen, um Menschen als umwegige Wesen, die sich niemals direkt mitteilen, sondern in Geschichten, Bildern und den Dingen des Alltags mit ihrer Tücke. Immer wieder schweift der Erzähler ab zu Bleistiften, die einem ein Loch in die Brusttasche bohren, um sich im Jackettfutter niederzulassen, zu Kleidungsstücken, die sich beim eiligen Ankleiden in ein Möbiusband verwandeln, zu tropfenden Wasserhähnen oder zu Teebeuteln, an denen man sich regelmäßig verbrennt.
Wie unwillkürlich auch reflektiert der Erzähler die Dinge und Wesen der Natur, die das Geschehen assoziativ zu deuten scheinen, was aber die Gefahr des Fehltritts nicht mindert. "Karl sah zu den Klatschmohnpartien, die sich in der Ferne aus einem Hügel abzeichneten. Fast trat er in einen Kotklumpen, der wie eine vertrocknete Kröte aussah." Die Aquarien in Chinarestaurants lassen sich vielleicht "lesen und entziffern wie einen Code", die erscheinende Natur aber ist wie bei Thomas Mann voll mit "zweideutigen Launen, halb verhüllten und sonderbar ins Ungewisse weisenden Allusionen". So wirft der Blick in die Natur auch in Michael Maars Roman mehr Fragen auf, als er Antworten zutage fördert. Immerhin: "Eine Schwalbe schoß hoch genug durch den Himmel, um Sorgen über eine möglich Wettereintrübung zu zerstreuen." Aber hatte "je ein Mensch von einer Prophezeiung profitiert?" Der Sinn muss in der Kultur gesucht werden, so sicher er auch verfehlt werden mag.
Derart zeigt sich in "Die Betrogenen" ein raffiniertes Widerspiel von Aufmerksamkeit und Zerstreuung. Der Erzähler ist ein in mehrfacher Hinsicht aufmerksamer Beobachter und Zuhörer, in einem Augenblick aber lässt er sich ablenken und verpasst etwas Entscheidendes. Aufmerksame Leser, die auf die Unterschiede der Figurenrede und auch auf Haarfarben achten, werden leicht bemerken, worum es sich dabei handelt. "Die haben dann das Vergnügen, nicht selbst herumzuirren, sondern einen anderen beim Herumirren zu beobachten."
Aber auch wer das kleine Rätsel des Texts nicht löst, wird diese Geschichte der Umwege und Verschiebungen des Begehrens vermutlich gern lesen, vielleicht ist sie dann sogar noch spannender. Michael Maar zeigt sich in seinem ersten Roman in jedem Fall als ein so liebevoll ironischer wie humorvoll eleganter Chronist menschlicher Leidenschaften.
FRIEDMAR APEL
Michael Maar: "Die Betrogenen". Roman.
C.H. Beck Verlag, München 2012. 143 S., geb., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In seinem Romandebüt porträtiert Michael Maar den Menschen als ein umwegiges Wesen
Wer von der Kritik oder der Literaturwissenschaft zur Literatur wechselt, muss in deutschen Landen mit Häme rechnen. Zu konstruiert, zu gebildet, womöglich eitel; er weiß, wie es geht, kann es aber nicht, lauten dann die schnell fertigen Urteile. Der Kritiker und Essayist Michael Maar, preisgekrönter Interpret Thomas Manns überdies, kennt den Literaturbetrieb besser als seine Sakkotaschen, deshalb hat er dem Leseexemplar seines Romanerstlings ein Gespräch mit seinem Lektor vorangestellt, in dem er potentiellen Rezensenten ein wenig Zucker gibt.
Stolz ist der 1960 geborene Jungromancier auf das Titelbild, in dem der Maler und Illustrator Nikolas Heidelbach ein "halb-symbolisches Motiv des Romans aufgegriffen" hat. Es zeigt die Rückansicht einer Schwarzhaarigen in einem Cocktail-Kleid im Design einer Feuerwanze, jenem karminrot und schwarz gemusterten Tierchen, das dem Volksmund als besonders paarungsfreudig gilt. Der Farbkontrast wiederholt sich im Schriftbild, so dass der Leser auf Stendhals "Le Rouge et le Noir" verwiesen sein könnte, damit auf den sozialen Zusammenhang von Heuchelei, Eitelkeit und Begehren in der Großstadt. Das Kleid zeigt in der Körpermitte eine birnenförmige Rundung, die von der ovalen Form der Feuerwanze abweicht. Arnold Stadler würde hier einen typischen Fall von "Birnenarsch" diagnostizieren, das ist aber gar nicht der Sprachgebrauch von Michael Maars Erzähler.
Die Handlung spielt noch im letzten Jahrhundert, was vor allem auffällt, weil überall geraucht wird. Die Hauptpersonen sind mehr oder minder bedeutende Akteure im literarischen Leben der Bundesrepublik nach der Wende. Es gibt einen großen Autor, der eine uneheliche Tochter hat und auch im Alter noch dem Amourösen zugetan ist, einen Konkurrenten, mit dem er sich über Fragen der Musik zerstritten hat, einen Jungstar aus dem Osten, eine löwenmähnige Literaturagentin, den Präsidenten einer einen wichtigen Preis vergebenden literarischen Gesellschaft und einen eben verstorbenen charismatischen Verleger. In einigen Details mag der Leser Martin Walser, Durs Grünbein, Siegfried Unseld und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung unter Christian Meier erkennen. Michael Maar spielt da ein wenig mit seinen Kenntnissen, aber ein Schlüsselroman ist "Die Betrogenen" zweifellos nicht.
Niemand redet in diesem Milieu ganz ehrlich mit den anderen, fast alle, auch die Nebenfiguren, führen ein Doppelleben. Karl, selbst ein Büchermensch kleineren Kalibers, angestellter Literaturagent und zwiegespaltener Bewunderer des großen Autors, kennt seine Klientel: "Er hatte es oft genug erlebt; das Sandkorn Kritik wog ihnen mehr als ganze Perlenschalen des Lobs." Er selbst scheint auch nicht Ingeborg Bachmanns Meinung zu teilen, dass die Wahrheit dem Menschen zumutbar ist, zumal er gerade eine Scheidung hinter sich hat. "Schließlich würde man selbst nicht gerne Wahrheiten hören. Schon bei der Vorstellung mußte Karl sich schütteln. Allein die Charakterschwächen, die man serviert bekäme, oder bei Ehekrächen tatsächlich manchmal serviert bekam."
Der Erzähler schildert seine Figuren mit all ihren Schwächen und Ticks, aber ganz ohne Entlarvungsgestus. Der Roman handelt nur vordergründig von den Eitelkeiten, kleinen Lügen und der gespreizten Selbstdarstellung in den Anspielungen auf Literatur, bildende Kunst und Musik. Viel mehr geht es um Irrungen und Wirrungen, um Menschen als umwegige Wesen, die sich niemals direkt mitteilen, sondern in Geschichten, Bildern und den Dingen des Alltags mit ihrer Tücke. Immer wieder schweift der Erzähler ab zu Bleistiften, die einem ein Loch in die Brusttasche bohren, um sich im Jackettfutter niederzulassen, zu Kleidungsstücken, die sich beim eiligen Ankleiden in ein Möbiusband verwandeln, zu tropfenden Wasserhähnen oder zu Teebeuteln, an denen man sich regelmäßig verbrennt.
Wie unwillkürlich auch reflektiert der Erzähler die Dinge und Wesen der Natur, die das Geschehen assoziativ zu deuten scheinen, was aber die Gefahr des Fehltritts nicht mindert. "Karl sah zu den Klatschmohnpartien, die sich in der Ferne aus einem Hügel abzeichneten. Fast trat er in einen Kotklumpen, der wie eine vertrocknete Kröte aussah." Die Aquarien in Chinarestaurants lassen sich vielleicht "lesen und entziffern wie einen Code", die erscheinende Natur aber ist wie bei Thomas Mann voll mit "zweideutigen Launen, halb verhüllten und sonderbar ins Ungewisse weisenden Allusionen". So wirft der Blick in die Natur auch in Michael Maars Roman mehr Fragen auf, als er Antworten zutage fördert. Immerhin: "Eine Schwalbe schoß hoch genug durch den Himmel, um Sorgen über eine möglich Wettereintrübung zu zerstreuen." Aber hatte "je ein Mensch von einer Prophezeiung profitiert?" Der Sinn muss in der Kultur gesucht werden, so sicher er auch verfehlt werden mag.
Derart zeigt sich in "Die Betrogenen" ein raffiniertes Widerspiel von Aufmerksamkeit und Zerstreuung. Der Erzähler ist ein in mehrfacher Hinsicht aufmerksamer Beobachter und Zuhörer, in einem Augenblick aber lässt er sich ablenken und verpasst etwas Entscheidendes. Aufmerksame Leser, die auf die Unterschiede der Figurenrede und auch auf Haarfarben achten, werden leicht bemerken, worum es sich dabei handelt. "Die haben dann das Vergnügen, nicht selbst herumzuirren, sondern einen anderen beim Herumirren zu beobachten."
Aber auch wer das kleine Rätsel des Texts nicht löst, wird diese Geschichte der Umwege und Verschiebungen des Begehrens vermutlich gern lesen, vielleicht ist sie dann sogar noch spannender. Michael Maar zeigt sich in seinem ersten Roman in jedem Fall als ein so liebevoll ironischer wie humorvoll eleganter Chronist menschlicher Leidenschaften.
FRIEDMAR APEL
Michael Maar: "Die Betrogenen". Roman.
C.H. Beck Verlag, München 2012. 143 S., geb., 16,95 [Euro].
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