Vom Autor des Spiegel - Bestsellers Postdemokratie
Im Herbst 2014 wurde bekannt, der englische National Health Service wolle in Zukunft jedem Arzt 55 Pfund bezahlen, der bei einem Patienten Demenz diagnostiziert. Die Empörung war groß: Steigt so nicht das Risiko von Fehldiagnosen? Wissen Ärzte nicht auch ohne solche Anreize, was zu tun ist? Das Beispiel zeigt, dass die Logik des Neoliberalismus trotz der großen Krise weiterhin auf dem Vormarsch ist.
Der damit verbundene Wandel betrifft alle Lebensbereiche: Schulen, Krankenhäuser und Polizei werden im Rahmen des großen Zahlenspiels umstrukturiert und dem Diktat der Kennziffern unterworfen; aus Studenten und Fahrgästen sollen Kunden werden, die agieren wie Rechenmaschinen. Auf dem Weg in die "Informationsgesellschaft" bleibt eine zentrale Ressource auf der Strecke: das Wissen selbst.
Colin Crouch zeichnet nach, wie der Neoliberalismus alternative Formen des Wissens und der Expertise korrumpiert. Anders als seine Apologeten behaupten, ist der Markt keine perfekte Wissensmaschine, die aus anonymen Entscheidungen Transparenz herbeizaubert, im Gegenteil: Lässt man die Logik der Finanzmärkte ungehindert operieren, kann sie das Immunsystem unserer Gesellschaften zerstören.
Im Herbst 2014 wurde bekannt, der englische National Health Service wolle in Zukunft jedem Arzt 55 Pfund bezahlen, der bei einem Patienten Demenz diagnostiziert. Die Empörung war groß: Steigt so nicht das Risiko von Fehldiagnosen? Wissen Ärzte nicht auch ohne solche Anreize, was zu tun ist? Das Beispiel zeigt, dass die Logik des Neoliberalismus trotz der großen Krise weiterhin auf dem Vormarsch ist.
Der damit verbundene Wandel betrifft alle Lebensbereiche: Schulen, Krankenhäuser und Polizei werden im Rahmen des großen Zahlenspiels umstrukturiert und dem Diktat der Kennziffern unterworfen; aus Studenten und Fahrgästen sollen Kunden werden, die agieren wie Rechenmaschinen. Auf dem Weg in die "Informationsgesellschaft" bleibt eine zentrale Ressource auf der Strecke: das Wissen selbst.
Colin Crouch zeichnet nach, wie der Neoliberalismus alternative Formen des Wissens und der Expertise korrumpiert. Anders als seine Apologeten behaupten, ist der Markt keine perfekte Wissensmaschine, die aus anonymen Entscheidungen Transparenz herbeizaubert, im Gegenteil: Lässt man die Logik der Finanzmärkte ungehindert operieren, kann sie das Immunsystem unserer Gesellschaften zerstören.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2015DIE F.A.S.-WIRTSCHAFTSREDAKTION EMPFIEHLT DIE BÜCHER DES HERBSTES 2015
Nur nicht so liberal.
Der Soziologe Colin Crouch demaskiert seit Jahren Fehlschlüsse der Liberalen. Jetzt holt er zum großen Schlag gegen den Neoliberalismus aus, und zwar genau auf dessen Kern: Märkte wissen am besten, was gut und richtig ist - sagt der Liberalismus. Crouch sagt: Nein, sie behindern das Wissen gerade. Seinen alten Fans wird er damit gute Laune bereiten, doch ist seine Argumentation auch stichhaltig? An einigen Stellen seiner Schimpftirade geht die Emotion mit ihm durch, nicht alle Fakten sind über jeden Zweifel erhaben. Im F.A.Z.-Lesesaal im Internet zeigen wir, welche Stellen fraglich sind, und freuen uns auf Ihre Kommentare: www.faz.net/lesesaal.
bern.
Colin Crouch: Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht. Suhrkamp, Berlin 21,95 Euro.
Geschichte macht Spaß.
Andreas Rödder, Professor für neueste Geschichte an der Universität Mainz, ist mutig und dreht den Spieß des Erzählens rum: Was früher war, ist nur interessant, wenn es heute Bedeutung hat. So wird Geschichte relevant und wirft zugleich ein neues Licht auf unsere Gegenwart. Beispiel Migration: Während uns Zeitgenossen die Masseneinwanderung als großes Ausnahmeereignis vorkommt, verweist der Historiker auf die vielen Wanderungsbewegungen der Weltgeschichte. Rödder behauptet, die Zeiten der "großen Erzählung" seien ein für alle Mal vorbei. Mag sein. Aber er selbst vermag spannend zu erzählen. Und vor einem klaren Urteil scheut er nie zurück.
ank.
Andreas Rödder: 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. C.H. Beck, München 24,95 Euro.
Wie man Märkte macht.
Ökonomen erforschen, wie man knappe Güter effizient verteilt. Das lernt jeder Volkswirtschaftsstudent im ersten Seminar. Spätestens im zweiten Seminar lernt er dann, dass die Verteilung über Preise funktioniert, die ein freier Markt bestimmt: Wer am meisten für ein begehrtes Produkt zu bezahlen bereit ist oder eine Dienstleistung besonders günstig anbietet, bekommt den Zuschlag. Aber ist das auch noch so, wenn nicht Aktien oder Konzertkarten, sondern Organe und Studienplätze verteilt werden? Nein, sagt Nobelpreisträger Alvin Roth. In seinem unterhaltsamen Buch erklärt er, wie man effiziente Märkte schafft, in denen nicht allein der Preis die Verteilung bestimmt.
lspr.
Alvin E. Roth: Who Gets What-and Why: The New Economics of Matchmaking and Market Design. Houghton Mifflin Harcourt, 26,82 Euro.
VWL auf der Couch.
Die Ökonomie kranke, heißt es immer wieder. In der Finanzkrise habe sie versagt, werde zudem von der Mathematik dominiert, obwohl sie eine Sozialwissenschaft sei. Der tschechische Ökonom Tomás Sedlácek und der österreichische Journalist Oliver Tanzer untersuchen diese Krankheit genauer, und zwar mit den Methoden von Freuds Psychoanalyse. Sie attestieren der Ökonomie dabei zum Beispiel eine bipolare Störung, die sich in Konjunkturschwankungen zeige. Selbst wenn man Ansichten oder Ansatz der Autoren nicht ganz nachvollziehen kann, regt das Buch doch zum lustvollen Nachdenken an über eine Disziplin, die lange nicht so trocken ist wie ihr Ruf.
jutr.
Tomás Sedlácek, Oliver Tanzer: Lilith und die Dämonen des Kapitals. Hanser Verlag, München, 26 Euro.
Der Himmelsstürmer.
Müssen große Unternehmer Großmäuler sein? Tesla-Pionier Elon Musk, 1971 in Südafrika geboren, ist jedenfalls eines, selbst für Silicon-Valley-Verhältnisse, wo er seine Elektroflitzer vom Stapel lässt: 2025 soll Tesla der wertvollste Konzern der Welt sein, die Börsianer sind jetzt schon ganz irre. Der Clou dabei: Elon Musks Bude hat noch keinen Cent Gewinn erwirtschaftet, dafür aber reichlich Subventionen abgegriffen. Ist der Mann also nur ein besserer Jahrmarktschwindler? Oder doch der Visionär, der die Regeln der Autoindustrie neu definiert? Diese Frage untersucht eine spannend zu lesende Biographie - ein Bestseller auch in deutscher Übersetzung.
mec.
Ashlee Vance: Elon Musk. Tesla, Paypal, SpaceX. Wie Elon Musk die Welt verändert. Finanzbuchverlag, München, 19,99 Euro.
Die BMW-Familie.
Im Frühjahr 2016 feiert BMW den 100.Geburtstag. Auf dieses Jubiläum zielt die Biographie über die Eigentümer der Firma: die Quandts, Deutschlands erfolgreichste Unternehmerfamilie, wie es im Untertitel heißt. ein aufschlussreiches Buch nicht nur für Männer mit Benzin im Blut. Die Quandts haben das Auto nicht erfunden, nicht mal ihr Geschäft damit begonnen. Im Stile von Finanzinvestoren hat der Clan mit Firmen jongliert, spekuliert - und meist gewonnen. Wie schändlich die Vorfahren sich unter den Nazis verhalten haben, hat die Familie untersuchen lassen. Auch dies steht bei Rüdiger Jungbluth, der die schweigsamen Quandts zum Reden gebracht hat.
mec.
Rüdiger Jungbluth: Die Quandts. Deutschlands erfolgreichste Unternehmerfamilie. Campus Verlag, Frankfurt, 29,99 Euro.
Die Zukunft des Euros.
Es gerät derzeit in Vergessenheit, dass die Euro-Krise bis in den Sommer hinein ganz Europa in Atem hielt. Nun erinnert der Ökonom Hans-Werner Sinn in einem neuen Buch (Erscheinungstermin: 19. Oktober) daran, dass die Auseinandersetzung um Europas Währung jederzeit wiederaufbrechen kann. Fundiert zeichnet Sinn die Anfangsjahre des Euros nach und erklärt, wie es zu den jüngsten Konflikten kommen konnte. Sinn, der trotz aller Kritik am Euro festhalten will, skizziert auch eine mögliche Lösung: Temporäre Austritte aus dem Euro sollen möglich sein, eine Schuldenkonferenz die Krisenstaaten entlasten. Ein kenntnisreiches, anregendes Buch.
dek.
Hans-Werner Sinn: Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel. Hanser Verlag, München, 24,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nur nicht so liberal.
Der Soziologe Colin Crouch demaskiert seit Jahren Fehlschlüsse der Liberalen. Jetzt holt er zum großen Schlag gegen den Neoliberalismus aus, und zwar genau auf dessen Kern: Märkte wissen am besten, was gut und richtig ist - sagt der Liberalismus. Crouch sagt: Nein, sie behindern das Wissen gerade. Seinen alten Fans wird er damit gute Laune bereiten, doch ist seine Argumentation auch stichhaltig? An einigen Stellen seiner Schimpftirade geht die Emotion mit ihm durch, nicht alle Fakten sind über jeden Zweifel erhaben. Im F.A.Z.-Lesesaal im Internet zeigen wir, welche Stellen fraglich sind, und freuen uns auf Ihre Kommentare: www.faz.net/lesesaal.
bern.
Colin Crouch: Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht. Suhrkamp, Berlin 21,95 Euro.
Geschichte macht Spaß.
Andreas Rödder, Professor für neueste Geschichte an der Universität Mainz, ist mutig und dreht den Spieß des Erzählens rum: Was früher war, ist nur interessant, wenn es heute Bedeutung hat. So wird Geschichte relevant und wirft zugleich ein neues Licht auf unsere Gegenwart. Beispiel Migration: Während uns Zeitgenossen die Masseneinwanderung als großes Ausnahmeereignis vorkommt, verweist der Historiker auf die vielen Wanderungsbewegungen der Weltgeschichte. Rödder behauptet, die Zeiten der "großen Erzählung" seien ein für alle Mal vorbei. Mag sein. Aber er selbst vermag spannend zu erzählen. Und vor einem klaren Urteil scheut er nie zurück.
ank.
Andreas Rödder: 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. C.H. Beck, München 24,95 Euro.
Wie man Märkte macht.
Ökonomen erforschen, wie man knappe Güter effizient verteilt. Das lernt jeder Volkswirtschaftsstudent im ersten Seminar. Spätestens im zweiten Seminar lernt er dann, dass die Verteilung über Preise funktioniert, die ein freier Markt bestimmt: Wer am meisten für ein begehrtes Produkt zu bezahlen bereit ist oder eine Dienstleistung besonders günstig anbietet, bekommt den Zuschlag. Aber ist das auch noch so, wenn nicht Aktien oder Konzertkarten, sondern Organe und Studienplätze verteilt werden? Nein, sagt Nobelpreisträger Alvin Roth. In seinem unterhaltsamen Buch erklärt er, wie man effiziente Märkte schafft, in denen nicht allein der Preis die Verteilung bestimmt.
lspr.
Alvin E. Roth: Who Gets What-and Why: The New Economics of Matchmaking and Market Design. Houghton Mifflin Harcourt, 26,82 Euro.
VWL auf der Couch.
Die Ökonomie kranke, heißt es immer wieder. In der Finanzkrise habe sie versagt, werde zudem von der Mathematik dominiert, obwohl sie eine Sozialwissenschaft sei. Der tschechische Ökonom Tomás Sedlácek und der österreichische Journalist Oliver Tanzer untersuchen diese Krankheit genauer, und zwar mit den Methoden von Freuds Psychoanalyse. Sie attestieren der Ökonomie dabei zum Beispiel eine bipolare Störung, die sich in Konjunkturschwankungen zeige. Selbst wenn man Ansichten oder Ansatz der Autoren nicht ganz nachvollziehen kann, regt das Buch doch zum lustvollen Nachdenken an über eine Disziplin, die lange nicht so trocken ist wie ihr Ruf.
jutr.
Tomás Sedlácek, Oliver Tanzer: Lilith und die Dämonen des Kapitals. Hanser Verlag, München, 26 Euro.
Der Himmelsstürmer.
Müssen große Unternehmer Großmäuler sein? Tesla-Pionier Elon Musk, 1971 in Südafrika geboren, ist jedenfalls eines, selbst für Silicon-Valley-Verhältnisse, wo er seine Elektroflitzer vom Stapel lässt: 2025 soll Tesla der wertvollste Konzern der Welt sein, die Börsianer sind jetzt schon ganz irre. Der Clou dabei: Elon Musks Bude hat noch keinen Cent Gewinn erwirtschaftet, dafür aber reichlich Subventionen abgegriffen. Ist der Mann also nur ein besserer Jahrmarktschwindler? Oder doch der Visionär, der die Regeln der Autoindustrie neu definiert? Diese Frage untersucht eine spannend zu lesende Biographie - ein Bestseller auch in deutscher Übersetzung.
mec.
Ashlee Vance: Elon Musk. Tesla, Paypal, SpaceX. Wie Elon Musk die Welt verändert. Finanzbuchverlag, München, 19,99 Euro.
Die BMW-Familie.
Im Frühjahr 2016 feiert BMW den 100.Geburtstag. Auf dieses Jubiläum zielt die Biographie über die Eigentümer der Firma: die Quandts, Deutschlands erfolgreichste Unternehmerfamilie, wie es im Untertitel heißt. ein aufschlussreiches Buch nicht nur für Männer mit Benzin im Blut. Die Quandts haben das Auto nicht erfunden, nicht mal ihr Geschäft damit begonnen. Im Stile von Finanzinvestoren hat der Clan mit Firmen jongliert, spekuliert - und meist gewonnen. Wie schändlich die Vorfahren sich unter den Nazis verhalten haben, hat die Familie untersuchen lassen. Auch dies steht bei Rüdiger Jungbluth, der die schweigsamen Quandts zum Reden gebracht hat.
mec.
Rüdiger Jungbluth: Die Quandts. Deutschlands erfolgreichste Unternehmerfamilie. Campus Verlag, Frankfurt, 29,99 Euro.
Die Zukunft des Euros.
Es gerät derzeit in Vergessenheit, dass die Euro-Krise bis in den Sommer hinein ganz Europa in Atem hielt. Nun erinnert der Ökonom Hans-Werner Sinn in einem neuen Buch (Erscheinungstermin: 19. Oktober) daran, dass die Auseinandersetzung um Europas Währung jederzeit wiederaufbrechen kann. Fundiert zeichnet Sinn die Anfangsjahre des Euros nach und erklärt, wie es zu den jüngsten Konflikten kommen konnte. Sinn, der trotz aller Kritik am Euro festhalten will, skizziert auch eine mögliche Lösung: Temporäre Austritte aus dem Euro sollen möglich sein, eine Schuldenkonferenz die Krisenstaaten entlasten. Ein kenntnisreiches, anregendes Buch.
dek.
Hans-Werner Sinn: Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel. Hanser Verlag, München, 24,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Zusammen mit Philip Mirowskis "Untote leben länger" bespricht Kai Schlieter Colin Crouchs "Die bezifferte Welt". Der britische Politikwissenschaftler zeigt dem Rezensenten dabei sehr einleuchtend, dass die neoliberale Idee vom Informationskapitalismus einer Kultur des Wissens und staatlicher Expertise geradezu feindlich gegenüber stehe. Intransparenz sei ein beliebtes Hilfsmittel der Gewinnmaximierung, erklärt der Rezensent mit Crouch und verweist auf die aktuellen Verhandlungen zu TTIP; Fachwissen werde dagegen monopolisiert und interessegeleitet an den Staat zurückverkauft. Schlieter wundert es angesichts dieses wissensfeindlichen Klimas kaum, dass große Teile der neoliberalen Ideologie - niemand ist schlauer als der Markt - mittlerweile wie unhinterfragbare Tatsachen wirken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein provokantes Werk ... Es wird manch spannende Diskussion anstoßen."
Björn Finke, Süddeutsche Zeitung 04.09.2015
Björn Finke, Süddeutsche Zeitung 04.09.2015