Die Bilderspur ist vieles zugleich: eine Künstlernovelle (mit einer spannenden Variante des ostasiatischen Motivs des in seinem Bild verschwindenden Künstlers), ein politischer Text um die Begriffe Exil und Fremde, eine Reflexion über Sprache und Bild und ein spannender Schritt auf sprachlichem Neuland; vor allem aber ist Die Bilderspur ein bewegendes Dokument über Entfremdung als paradigmatische Befindlichkeit der Gegenwart.-Suchen Finden Verlieren: das sind die drei Stadien dieser Erzählung der jungen Autorin Anna Kim. Der Vater, aus einer fremden Kultur stammend, ist Maler und bringt seiner Tochter, der Erzählerin, das Lesen von Bildern und einen besonderen Zugang zu ihnen bei. Die Fremdheit des Vaters spiegelt sich auch in der familiären Entfremdung wider. Immer wieder verschwindet er, kehrt in seine Heimat zurück, konfrontiert seine Tochter mit Abschieden, lehrt sie das Abschiednehmen ein letztes Mal noch mit seinem langen Sterben. Die Suche nach dem Vater ist das Widerrufen seines Abschieds: die Zeremonien des Abschiednehmens müssen immer wieder und in verschiedenen kulturellen Kontexten durchgeführt werden. Das Fremdsein in einer Kultur, in einer Sprache, das ewige Suchen nach Heimat, durchzieht und bestimmt die Prosa von Anna Kim in vielerlei Formen, am auffälligsten in ihrer Sprache: in ganz ungewohnter Bildhaftigkeit, in einer Verkehrung der üblichen Verhältnisse im Satz, mit zahlreichen Neuprägungen entzieht sie dem Leser jedes Gefühl für die Sicherheit des Gewohnten. »Das Bilderlesen eine Fremdsprache«, heißt es einmal. Und doch: vielleicht gibt es Heimat nur in den Bildern?
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Die Rezensentin Eleonore Frey findet auf jeden Fall interessant, woran sich die Autorin Anna Kim in diesem Text, den "man je nach Perspektive einmal als ein Sprach- und einmal als ein Bilderbuch verstehen kann" versucht hat: an einer Sprachreflexion, die eine Existenz zwischen zwei Sprachen thematisiert. Doch mit dem Ergebnis ist Frey nur bedingt zufrieden. Manchmal erscheinen ihr Kims Versuche etwas programmatisch. Für die nächste Veröffentlichung wünscht sich die Rezensentin daher, dass sich "die erzählende inniger mit der reflektierenden Ebene verbinden könnte.". Trotzdem lässt sich aus der Erzählung nach Freys Meinung einiges herausziehen, weil sie sich zuweilen als veritable Sprachentheorie lesen lasse und weil sie andererseits Fremdheit in einem "wunderbar farbenprächtigen Bilderbogen" zu schildern wisse.
© Perlentaucher Medien GmbH
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