Unsere Schulen vermitteln totes Faktenwissen, das mit der Lebensrealität nichts zu tun hat. Warum gilt jemand als gebildet, der "Faust I" gelesen hat, aber nicht weiß, wie man ins Internet kommt?Die Schüler werden immer dümmer, weil sie immer mehr lernen sollen, aber immer weniger verstehen. Werner Fuld fordert eine radikale Änderung unseres veralteten Bildungsbegriffs samt seiner Standards. Denn sonst findet die Zukunft ohne uns statt.Wenn bei uns über Bildung gesprochen wird, heißt das nach PISA vor allem: Unsere Kinder müssen wieder mehr lernen. Aber das miserable Ergebnis bei diesem internationalen Test hat eben nicht gezeigt, dass sie zu wenig lernen, sondern das Falsche. Leider ist das kaum jemandem aufgefallen. Alles wird so gelehrt wie immer, nur von allem ein bisschen mehr. Nationale Bildungsstandards werden beschlossen, damit nicht nur der bayrische, sondern auch der niedersächsische Abiturient Goethes Faust gelesen hat. Dann sind beide immerhin gleich dumm. Unsere Schüler lernen nicht zu wenig, sondern zu viel. Und weil sie immer mehr lernen müssen, werden sie täglich dümmer. Blind für die Welt, aber abgefüllt mit abstraktem Faktenwissen - wollen wir wirklich so sein? Und vor allem: können wir uns das leisten? Werner Fuld wendet sich gegen den überholten Bildungskanon und fordert eine Neudefinition des Bildungsbegriffs, der nicht mehr der Vergangenheit, sondern vielmehr unserer Zukunft verpflichtet sein sollte.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2004Von John Wayne lernen
Werner Fuld findet Bücher doof, die nicht Werner Fuld geschrieben hat
„Bildung macht dumm!” – darauf läuft die dreihundert Seiten lange Polemik des Literaturkritikers Werner Fuld hinaus, in der er sich gegen die heutigen „Kulturheuchler”, Schulpolitiker, „Kanonbildner”, allen voran Marcel Reich-Ranicki, und gegen „hochnäsige Feuilletonisten” wendet. Sie alle, so Fuld, spielten sich als Gralshüter der Bildung auf, brächen in ein großes Geschrei aus, wenn ein Automechaniker von Shakespeare nie etwas gehört habe, und erklärten denjenigen für gebildet, der Goethes „Faust I” gelesen habe, auch wenn er nicht wisse, wie man ins Internet kommt. Kurz, Fulds Polemik ist eine bloße Wiederholung dessen, was Hans Magnus Enzensberger – sehr viel kürzer und amüsanter – in den siebziger Jahren schrieb, als er die Jugend vor dem Vorwurf der Ignoranz in Schutz nahm und die Kenntnis von Versen Goethes und Schillers mit der von Pop- und Rocksongs gleichsetzte.
Neu und durchaus erstaunlich ist an Fulds Polemik nur, dass er den deutschen Schulen vorwirft, die Jugend mit Faktenwissen, mit „Bildung” vollzustopfen. Nach Fuld schwirrt den hiesigen Schülern und Studenten nämlich nur so der Kopf vor historischen Schlachten, Jahreszahlen und vor allem vor mittelalterlichen Kaisernamen, so dass sie ihre „Lebensrealität” nicht mehr zu erkennen vermöchten, geschweige denn den Herausforderungen der Zukunft gewachsen seien. Auf die Pisa-Studie und die heutige Bildungsmisere hat Fuld denn auch eine einfache Antwort parat: erstens müsse der Geschichtsunterricht abgeschafft, nur noch Zeitgeschichte gelehrt werden; die allerdings nach wie vor wichtige Geschichte des Antisemitismus gehöre in andere Fächer. Zweitens sollten die Schüler nicht mehr mit Klassikern traktiert werden, sondern nach Gusto lesen, drittens sei es an der Zeit, gekürzte Klassiker-Ausgaben fertigzustellen. Vor allem aber sollten wir Deutschen uns endlich die Lebensweisheit berühmter Amerikaner – von George Washington über John Wayne bis George Bush – zu Herzen nehmen, nicht unsere Zeit zu vergeuden, sprich: keine Bücher zu lesen. Und damit sollte man gleich, wie ich meine, bei diesem Buch von Werner Fuld nämlich anfangen.
FRANZISKA MEIER
WERNER FULD: Die Bildungslüge. Warum wir weniger wissen und mehr verstehen müssen. Argon Verlag Berlin, 2004. 303 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Werner Fuld findet Bücher doof, die nicht Werner Fuld geschrieben hat
„Bildung macht dumm!” – darauf läuft die dreihundert Seiten lange Polemik des Literaturkritikers Werner Fuld hinaus, in der er sich gegen die heutigen „Kulturheuchler”, Schulpolitiker, „Kanonbildner”, allen voran Marcel Reich-Ranicki, und gegen „hochnäsige Feuilletonisten” wendet. Sie alle, so Fuld, spielten sich als Gralshüter der Bildung auf, brächen in ein großes Geschrei aus, wenn ein Automechaniker von Shakespeare nie etwas gehört habe, und erklärten denjenigen für gebildet, der Goethes „Faust I” gelesen habe, auch wenn er nicht wisse, wie man ins Internet kommt. Kurz, Fulds Polemik ist eine bloße Wiederholung dessen, was Hans Magnus Enzensberger – sehr viel kürzer und amüsanter – in den siebziger Jahren schrieb, als er die Jugend vor dem Vorwurf der Ignoranz in Schutz nahm und die Kenntnis von Versen Goethes und Schillers mit der von Pop- und Rocksongs gleichsetzte.
Neu und durchaus erstaunlich ist an Fulds Polemik nur, dass er den deutschen Schulen vorwirft, die Jugend mit Faktenwissen, mit „Bildung” vollzustopfen. Nach Fuld schwirrt den hiesigen Schülern und Studenten nämlich nur so der Kopf vor historischen Schlachten, Jahreszahlen und vor allem vor mittelalterlichen Kaisernamen, so dass sie ihre „Lebensrealität” nicht mehr zu erkennen vermöchten, geschweige denn den Herausforderungen der Zukunft gewachsen seien. Auf die Pisa-Studie und die heutige Bildungsmisere hat Fuld denn auch eine einfache Antwort parat: erstens müsse der Geschichtsunterricht abgeschafft, nur noch Zeitgeschichte gelehrt werden; die allerdings nach wie vor wichtige Geschichte des Antisemitismus gehöre in andere Fächer. Zweitens sollten die Schüler nicht mehr mit Klassikern traktiert werden, sondern nach Gusto lesen, drittens sei es an der Zeit, gekürzte Klassiker-Ausgaben fertigzustellen. Vor allem aber sollten wir Deutschen uns endlich die Lebensweisheit berühmter Amerikaner – von George Washington über John Wayne bis George Bush – zu Herzen nehmen, nicht unsere Zeit zu vergeuden, sprich: keine Bücher zu lesen. Und damit sollte man gleich, wie ich meine, bei diesem Buch von Werner Fuld nämlich anfangen.
FRANZISKA MEIER
WERNER FULD: Die Bildungslüge. Warum wir weniger wissen und mehr verstehen müssen. Argon Verlag Berlin, 2004. 303 Seiten, 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Der Rezensent Daniel Jütte scheint ein bisschen genervt von Werner Fulds drastischen Vorschlägen zur Lösung die Bildungsmisere, die er auf die einfache Formel "Google statt Goethe!" zusammenfasst. Die sind seiner Meinung nach schlichtweg undifferenziert. Doch weil Fuld auch die Schreiber des Feuilletons für das "weltfremde Festhalten an einem überkommenen Bildungsbegriff" verantwortlich macht, beschränkt sich Jütte weitgehend auf leicht spöttisches Schulterzucken: "An einer Schule nach Fulds Geschmack hätte wohl selbst das Ausdrucken von Kochrezepten aus dem Internet mehr Berechtigung als beispielsweise der Geschichtsunterricht."
© Perlentaucher Medien GmbH
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