Müller-Lengsfeldt, Kunsterzieher aus Berlin, möchte im Dunstkreis von Johann Joachim Winckelmann das Alte Rom entdecken. Doch unbegreifliche Ereignisse stören den reinen Kunstgenuß. Und das Vorbild selbst, Winckelmann, entpuppt sich als widerspruchsvolle Gestalt mit einem rätselhaften Doppelleben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.2001Aus der Welt gehen
Hartmut Langes römische Novelle · Von Ralf Konersmann
Der Name Hartmut Lange steht für hohe formale Ansprüche, ja, für Exklusivität. Die Wortwahl dieses Autors pflegt erlesen und treffsicher zu sein, manche Satzperiode schraubt sich, getragen vom Willen zur Form, zum Bravourstück empor. Da hat einer sein Handwerk gelernt, und er beherrscht es. Zur Wertschätzung, die eine treue Lesergemeinde diesem Autor seit langem entgegenbringt, trägt bei, daß Lange die Alternative von starrem Regelkanon und avantgardistischem Furor, die ohnehin von gestern ist, stets zu meiden gewußt hat. Was er bearbeitet, sind Übergänge.
Man beachte nur das Höchstmaß an Verdichtung, mit dem die jüngst erschienene "Bildungsreise" einsetzt, und wie mühelos die Novelle ihr Konzentrationsniveau erreicht. "Müller-Lengsfeldt saß am Rande des Palatins und sah auf das Forum Romanum zu seinen Füßen. Es war ein Platz, der abschüssig wirkte. Ein provisorischer Lattenzaun, kaum kniehoch, sollte den Touristen daran hindern, sich einer Wand aus gemauerten Ziegelsteinen allzu sehr zu nähern. Hier hätte man abstürzen können, um in einem Wirrwarr von Trümmern zu verschwinden." Dieser Anfang bündelt alles, was hernach noch kommt. Gleich sehen wir Müller-Lengsfeldt, einen Kunstpädagogen aus Berlin, seine Skizze der antiken Baulichkeit beenden und sich der Reisegruppe anschließen, die den Spuren des Archäologen Johann Joachim Winckelmann folgt. Unter der Leitung von Frau Ziegler, um deren Gunst er mit einem gewissen Herrn Schmeer aussichtslos im Streit liegt, wird er noch tagelang die Ewige Stadt durchwandern, bis das Pensum abgearbeitet ist und es gilt, die Heimfahrt anzutreten. Müller-Lengsfeldt aber bleibt. Die Wege der Gruppe auf eigene Faust fortsetzend, überläßt er sich einer Reise in eine längst verlorene Zeit und, das tritt immer deutlicher zutage, einer Fahrt in die entlegensten Gefilde des eigenen Ich.
Ambiente, Einsatz, Distanz - alles, was die Atmosphäre der "Bildungsreise" ausmacht, bieten jene Eingangssätze in konzentrierter Form. Und liegt nicht auch das übergroße Vorbild dieses Novellenstoffs in assoziativer Reichweite? Es war Reiselust, nichts weiter, so erläutert Thomas Mann den Aufbruch Aschenbachs nach Venedig; "aber wahrhaft als Anfall auftretend und ins Leidenschaftliche, ja bis zur Sinnestäuschung gesteigert". Kein Zweifel, Müller-Lengsfeldt ist ein Nachfolger Aschenbachs. Doch das Dasein in der Kopie hat seinen Preis. Wo Aschenbach sich noch der Grandiosität des Untergangs vor imposanter Kulisse hingeben mochte, stolpert Müller-Lengsfeldt über Banalitäten. Touristennepp, Reisegruppengemütlichkeit - nichts entrinnt der Macht des Klischees. "Hier müßte man Urlaub machen", entfährt es dem Helden bei Gelegenheit, und nie wird man den Eindruck los, ein Abgeordneter aus den hinteren Reihen habe ihm seinen Namen geliehen. Wenn Tragik in alldem liegt, dann die, daß eine solche Existenz zur Tragik nicht taugt.
Nun ist Lange kein Autor, dem an Bloßstellungen gelegen wäre. Seine Domäne ist die Beobachtung, und die Winckelmann-Passion seines Helden ist ein lohnendes Objekt. Man weiß von Winckelmann so wenig, daß viel zu vermuten übrigbleibt, und die Novelle macht von dieser Lizenz großzügig Gebrauch. Am Ende scheint der Sog der Identifikation unentrinnbar. Herausgefordert durch die Banausie seines Gegenspielers Schmeer, der mit kaugummikauender Herablassung die Trümmerkulissen Stück für Stück abhakt, flüchtet Müller-Lengsfeldt in seine Begeisterung für Winckelmanns Zartsinn, Erhabenheitsgespür und Todessehnsucht. Endlich, so lautet sein liebstes Winckelmann-Zitat, werde er zur Ruhe kommen an dem Ort, "wo wir uns zu sehen und zu genießen hoffen! Dahin will ich, wie ein leichter Fußgänger, so wie ich gekommen bin, aus der Welt gehen."
Welch betörende Worte, welch bittersüßer Schmerz! Und doch bringt dieser zur Hingabe Entschlossene genügend Distanz auf, um sich der Abwege der Verklärung bewußt zu sein. Wie ein Programmsatz wirkt sein spätes Bekenntnis, nicht die Sehenswürdigkeiten, die es gibt, hätten unsere Aufmerksamkeit verdient, sondern jene, die es nicht gibt. Langes Novelle beweist ihre Qualitäten in solchen Brechungen, wenn sie Scheitern und Gelingen, schnöden Kitsch und existentielle Not unvermittelt nebeneinanderstellt. Und da sie es sich leisten kann, ihre gegenstrebigen Motive ohne Glaubwürdigkeitsverlust rückhaltlos auszuspielen, muß gesagt werden: Eine größere Kunstfertigkeit konventionellen Erzählens dürfte selten erreicht worden sein.
Hartmut Lange: "Die Bildungsreise". Novelle. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 127 S., geb., 33,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hartmut Langes römische Novelle · Von Ralf Konersmann
Der Name Hartmut Lange steht für hohe formale Ansprüche, ja, für Exklusivität. Die Wortwahl dieses Autors pflegt erlesen und treffsicher zu sein, manche Satzperiode schraubt sich, getragen vom Willen zur Form, zum Bravourstück empor. Da hat einer sein Handwerk gelernt, und er beherrscht es. Zur Wertschätzung, die eine treue Lesergemeinde diesem Autor seit langem entgegenbringt, trägt bei, daß Lange die Alternative von starrem Regelkanon und avantgardistischem Furor, die ohnehin von gestern ist, stets zu meiden gewußt hat. Was er bearbeitet, sind Übergänge.
Man beachte nur das Höchstmaß an Verdichtung, mit dem die jüngst erschienene "Bildungsreise" einsetzt, und wie mühelos die Novelle ihr Konzentrationsniveau erreicht. "Müller-Lengsfeldt saß am Rande des Palatins und sah auf das Forum Romanum zu seinen Füßen. Es war ein Platz, der abschüssig wirkte. Ein provisorischer Lattenzaun, kaum kniehoch, sollte den Touristen daran hindern, sich einer Wand aus gemauerten Ziegelsteinen allzu sehr zu nähern. Hier hätte man abstürzen können, um in einem Wirrwarr von Trümmern zu verschwinden." Dieser Anfang bündelt alles, was hernach noch kommt. Gleich sehen wir Müller-Lengsfeldt, einen Kunstpädagogen aus Berlin, seine Skizze der antiken Baulichkeit beenden und sich der Reisegruppe anschließen, die den Spuren des Archäologen Johann Joachim Winckelmann folgt. Unter der Leitung von Frau Ziegler, um deren Gunst er mit einem gewissen Herrn Schmeer aussichtslos im Streit liegt, wird er noch tagelang die Ewige Stadt durchwandern, bis das Pensum abgearbeitet ist und es gilt, die Heimfahrt anzutreten. Müller-Lengsfeldt aber bleibt. Die Wege der Gruppe auf eigene Faust fortsetzend, überläßt er sich einer Reise in eine längst verlorene Zeit und, das tritt immer deutlicher zutage, einer Fahrt in die entlegensten Gefilde des eigenen Ich.
Ambiente, Einsatz, Distanz - alles, was die Atmosphäre der "Bildungsreise" ausmacht, bieten jene Eingangssätze in konzentrierter Form. Und liegt nicht auch das übergroße Vorbild dieses Novellenstoffs in assoziativer Reichweite? Es war Reiselust, nichts weiter, so erläutert Thomas Mann den Aufbruch Aschenbachs nach Venedig; "aber wahrhaft als Anfall auftretend und ins Leidenschaftliche, ja bis zur Sinnestäuschung gesteigert". Kein Zweifel, Müller-Lengsfeldt ist ein Nachfolger Aschenbachs. Doch das Dasein in der Kopie hat seinen Preis. Wo Aschenbach sich noch der Grandiosität des Untergangs vor imposanter Kulisse hingeben mochte, stolpert Müller-Lengsfeldt über Banalitäten. Touristennepp, Reisegruppengemütlichkeit - nichts entrinnt der Macht des Klischees. "Hier müßte man Urlaub machen", entfährt es dem Helden bei Gelegenheit, und nie wird man den Eindruck los, ein Abgeordneter aus den hinteren Reihen habe ihm seinen Namen geliehen. Wenn Tragik in alldem liegt, dann die, daß eine solche Existenz zur Tragik nicht taugt.
Nun ist Lange kein Autor, dem an Bloßstellungen gelegen wäre. Seine Domäne ist die Beobachtung, und die Winckelmann-Passion seines Helden ist ein lohnendes Objekt. Man weiß von Winckelmann so wenig, daß viel zu vermuten übrigbleibt, und die Novelle macht von dieser Lizenz großzügig Gebrauch. Am Ende scheint der Sog der Identifikation unentrinnbar. Herausgefordert durch die Banausie seines Gegenspielers Schmeer, der mit kaugummikauender Herablassung die Trümmerkulissen Stück für Stück abhakt, flüchtet Müller-Lengsfeldt in seine Begeisterung für Winckelmanns Zartsinn, Erhabenheitsgespür und Todessehnsucht. Endlich, so lautet sein liebstes Winckelmann-Zitat, werde er zur Ruhe kommen an dem Ort, "wo wir uns zu sehen und zu genießen hoffen! Dahin will ich, wie ein leichter Fußgänger, so wie ich gekommen bin, aus der Welt gehen."
Welch betörende Worte, welch bittersüßer Schmerz! Und doch bringt dieser zur Hingabe Entschlossene genügend Distanz auf, um sich der Abwege der Verklärung bewußt zu sein. Wie ein Programmsatz wirkt sein spätes Bekenntnis, nicht die Sehenswürdigkeiten, die es gibt, hätten unsere Aufmerksamkeit verdient, sondern jene, die es nicht gibt. Langes Novelle beweist ihre Qualitäten in solchen Brechungen, wenn sie Scheitern und Gelingen, schnöden Kitsch und existentielle Not unvermittelt nebeneinanderstellt. Und da sie es sich leisten kann, ihre gegenstrebigen Motive ohne Glaubwürdigkeitsverlust rückhaltlos auszuspielen, muß gesagt werden: Eine größere Kunstfertigkeit konventionellen Erzählens dürfte selten erreicht worden sein.
Hartmut Lange: "Die Bildungsreise". Novelle. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 127 S., geb., 33,90 DM.
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"Mit nüchterner Sprache beschreibt Lange Begebenheiten, die nie ganz zu begreifen sind, auch wenn es so scheint. Etwas Vages bleibt. Lange dreht Pirouetten im Nebel - aber höchst präzise." (Sächsische Zeitung) "Vielleicht ist das auch der Zauber von Langes Büchern: daß der Leser sanft hineingezogen wird in die Psyche anderer Menschen und sich gerade dort, im Fremden, unversehens mit sich selbst konfrontiert sieht." (Österreichischer Rundfunk, Wien)
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Alles in Allem findet Albert von Schirnding diese Novelle ganz gut. Er schätzt es, dass der Autor sich an die "strenge Form und Förmlichkeit" der Novelle hält, wie sie seit Boccaccio gepflegt wird und von dem Lange wohl den leitmotivisch eingesetzten Wanderfalken übernommen hat, wie er meint. Wie bei dieser Textsorte üblich, fange das Buch ganz alltäglich an - ein Lehrer befindet sich auf einer Bildungsreise in Triest und versucht dort, den Spuren Winckelmanns zu folgen - um dann immer unheimlicher und sonderbarer zu werden. Der Rezensent attestiert dem Text "unwiderstehliche Sogwirkung" und lobt den an der klassischen Novelle geschulten "Sprachgestus", der "eindrucksvoll durchgehalten" wird. Was ihn stört, sind grammatikalische Manieriertheiten, die häufige Verwendung des "gefährlichen Wörtchens `irgendwie`" und die vielen falschen Konjunktive. Außerdem findet er, dass von den Lektoren eine Grundkenntnis des Lateinischen erwartet werden darf - der falsche Artikel vor den "Domus Tiberina" hätte ihnen auffallen müssen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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