Yannick Haenel erzählt eine aufwühlende Geschichte, die jedem passieren könnte. Sein Held ist ein französischer Bürger, der seinen festen Platz in der Gesellschaft hatte. Doch er verliert erst seine Arbeit, dann seine Wohnung und gerät auf die Seite derer, die nichts haben.
Jean Deichel ist dreiundvierzig Jahre alt, als er in ein Auto zieht. Im Handschuhfach liegt «Warten auf Godot», darin blättert er gelegentlich, ansonsten beobachtet er das Treiben in der Pariser Rue de la Chine, wo der Renault 18 parkt. Das Paris, das er nun entdeckt, ist eine ganz andere Stadt als die, die er bislang kannte. Es ist die Stadt der Immigranten.
In Hinterhöfen sieht er seltsame Graffiti, halb Fisch, halb Vogel. So gerät er auf die Spur der «bleichen Füchse», einer nach einer Gottheit der Dogon benannten Vereinigung von Immigranten aus Mali. Nachdem zwei Afrikaner von der Polizei gejagt wurden und in der Seine ertrunken sind, organisieren die «bleichen Füchse» einen Protestmarsch durch Paris. Sie tragen Dogon-Masken wie Guy-Fawkes-Masken. Jean Deichel begeht einen Akt zivilen Ungehorsams und solidarisiert sich mit den «sans-papiers».
Ein engagierter Roman über die Festung Europa und uns, ihre Bewohner.
«DER FESSELNDSTE ROMAN DIESES HERBSTES.»
DES LIVRES
Jean Deichel ist dreiundvierzig Jahre alt, als er in ein Auto zieht. Im Handschuhfach liegt «Warten auf Godot», darin blättert er gelegentlich, ansonsten beobachtet er das Treiben in der Pariser Rue de la Chine, wo der Renault 18 parkt. Das Paris, das er nun entdeckt, ist eine ganz andere Stadt als die, die er bislang kannte. Es ist die Stadt der Immigranten.
In Hinterhöfen sieht er seltsame Graffiti, halb Fisch, halb Vogel. So gerät er auf die Spur der «bleichen Füchse», einer nach einer Gottheit der Dogon benannten Vereinigung von Immigranten aus Mali. Nachdem zwei Afrikaner von der Polizei gejagt wurden und in der Seine ertrunken sind, organisieren die «bleichen Füchse» einen Protestmarsch durch Paris. Sie tragen Dogon-Masken wie Guy-Fawkes-Masken. Jean Deichel begeht einen Akt zivilen Ungehorsams und solidarisiert sich mit den «sans-papiers».
Ein engagierter Roman über die Festung Europa und uns, ihre Bewohner.
«DER FESSELNDSTE ROMAN DIESES HERBSTES.»
DES LIVRES
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Literatur aus dem Geist der Utopie hat Tilman Krause gelesen, für ihn ist das einen Jauchzer wert. Auch wenn Krause dem Autor Yannick Haenel Disparatheit in der Form attestiert (das Buch zerfalle in zwei Teile, schreibt er), hat ihn die Geschichte des sanften Rousseau-Lesers Jean, der zu politischer Militanz übergeht und den Leser in ein rebellisches Paris mitnimmt, fasziniert. Wie der Autor von eher poetischem Schreiben im zweiten Teil in eine Agitprop-Prosa im Stil von "Empört Euch" verfällt, findet der Rezensent zwar ebenso gewöhnungsbedürftig wie die durchaus streitbare Ideologiekritik am Kapitalismus des Westens. Dass Haenel in seinem Buch aber die Tradition von Rousseau, Victor Hugo und den Surrealisten wieder aufleben lässt, wenn der das glitzernde Paris auf seine rebellischen Unterströmungen untersucht, findet Krause schon stark.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2014Verbrennt
die Autos!
Yannick Haenels Rebellions-
Roman „Die bleichen Füchse“
Schon in einigen bislang noch nicht übersetzten Büchern des 1967 geborenen französischen Autors Yannick Haenel kommt Jean Deichel vor. Im neuen Roman „Die bleichen Füchse“ beschließt er eines schönen Tages, fortan in seinem Auto zu wohnen. „Am Anfang war es nur aus Spaß. Es gefiel mir, da, auf der Straße, zu sein und nichts zu tun. Ich hatte überhaupt keine Lust loszufahren. Wohin auch? Ich fühlte mich wohl unter den Bäumen in der Rue de la Chine.“ Lange allerdings hält das Wohlgefühl nicht an. Während die Kirschblüten durch die Straßen wehen, werden im Autoradio die Wahlergebnisse verkündet: Der „Neugewählte“ – der Name Sarkozy fällt nicht – hält eine Rede über die Arbeit als „republikanische Verpflichtung“.
Jean fühlt sich für dumm verkauft: Es gibt ja gar nicht genug Arbeit. Menschen leben auf der Straße. Migranten ohne Pass werden von der Polizei verfolgt. Ein im wärmenden Abfall schlafender Obdachloser wird von einem Müllwagen aufgepickt und zermalmt, geradezu entsorgt. Jean entfernt sich mit jedem Tag weiter von seinem bisherigen Leben, nimmt sich und die Welt plötzlich untrüglicher wahr, und damit wachsen Empörung und Wut. Aus dem anfänglichen Spaß wird trostloser Ernst. Jean lernt Aussteiger und wild entschlossene Gegner der herrschenden Politik kennen, liest Marxens „Bürgerkrieg in Frankreich“ und Jean-Jacques Rousseau; Pier Paolo Pasolini schwirrt, wenn auch ungenannt, durch seine Gedanken und die Zeilen des Buches; und mit seinen neuen Bekanntschaften streitet er sich über Kunst, Gewalt und Michel Houellebecq.
Zunehmend gerät Haenels einsamer Held in politische Rage gegen den „Polizeistaat“. Mit Beginn des zweiten Kapitels verschwindet das Erzähler-Ich, um in einem ominösen Wir aufzugehen. Dieses revolutionäre Wir will Schluss machen mit den unhaltbaren Zuständen im pseudodemokratischen, menschenverachtenden Land. Das Wir ist die Demarkationslinie: Mit dem Ich lässt sich noch Literatur schreiben, mit dem Wir beginnt das Pamphlet. Haenels Roman kippt – durchaus intendiert – ins für den Leser schwer erträgliche Pathos: „Hört uns gut zu: Jedes verbrannte Auto lindert unser Verlassensein.“ Inspiriert von den Guy-Fawkes-Fratzen der Globalisierungsgegner tragen die Aufständischen zeremonielle „Dogon“-Masken aus Mali und zerschneiden ihre Ausweise, so sie denn überhaupt Papiere besitzen. Eine Gesellschaft, die Identitäten nur selektiv zugesteht, soll durch das „Fremde“ attackiert werden – so der Tenor der „bleichen Füchse“. Das revolutionäre Potential findet sich unter den Ausgegrenzten, den Illegalen, den Afrikanern; Frantz Fanons „Verdammte dieser Erde“ lassen grüßen. Ihnen schließt sich Jean mit terroristischem Furor an: „Wir mussten nicht viel tun, um die Glut zu entfachen. Nichts ist leichter, als eine Welt den Flammen auszuliefern, die sich schon so lange selbst in ihrem Chaos verzehrt.“
Der Zorn ist nachvollziehbar, literarisch aber wenig fruchtbar. Das Buch, das vielversprechend als Erzählung begonnen hat, die den gewohnten Blick verstört, endet in einer Aneinanderreihung von Schlagworten. Zuweilen weiß man nicht, ob der Autor sie ironisch oder doch bitterernst meint. Einmal heißt es: „Ob ihr es wollt oder nicht: Ein Gespenst geht um in Frankreich, das Gespenst Afrikas.“ In der Realität geht derzeit ein ganz anderes Gespenst um. Man demonstrierte in Frankreich zuletzt lieber gegen die Homo-Ehe und wählte Marine Le Pen.
ULRICH RÜDENAUER
Yannick Haenel: Die bleichen Füchse. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 208 Seiten. 18,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
die Autos!
Yannick Haenels Rebellions-
Roman „Die bleichen Füchse“
Schon in einigen bislang noch nicht übersetzten Büchern des 1967 geborenen französischen Autors Yannick Haenel kommt Jean Deichel vor. Im neuen Roman „Die bleichen Füchse“ beschließt er eines schönen Tages, fortan in seinem Auto zu wohnen. „Am Anfang war es nur aus Spaß. Es gefiel mir, da, auf der Straße, zu sein und nichts zu tun. Ich hatte überhaupt keine Lust loszufahren. Wohin auch? Ich fühlte mich wohl unter den Bäumen in der Rue de la Chine.“ Lange allerdings hält das Wohlgefühl nicht an. Während die Kirschblüten durch die Straßen wehen, werden im Autoradio die Wahlergebnisse verkündet: Der „Neugewählte“ – der Name Sarkozy fällt nicht – hält eine Rede über die Arbeit als „republikanische Verpflichtung“.
Jean fühlt sich für dumm verkauft: Es gibt ja gar nicht genug Arbeit. Menschen leben auf der Straße. Migranten ohne Pass werden von der Polizei verfolgt. Ein im wärmenden Abfall schlafender Obdachloser wird von einem Müllwagen aufgepickt und zermalmt, geradezu entsorgt. Jean entfernt sich mit jedem Tag weiter von seinem bisherigen Leben, nimmt sich und die Welt plötzlich untrüglicher wahr, und damit wachsen Empörung und Wut. Aus dem anfänglichen Spaß wird trostloser Ernst. Jean lernt Aussteiger und wild entschlossene Gegner der herrschenden Politik kennen, liest Marxens „Bürgerkrieg in Frankreich“ und Jean-Jacques Rousseau; Pier Paolo Pasolini schwirrt, wenn auch ungenannt, durch seine Gedanken und die Zeilen des Buches; und mit seinen neuen Bekanntschaften streitet er sich über Kunst, Gewalt und Michel Houellebecq.
Zunehmend gerät Haenels einsamer Held in politische Rage gegen den „Polizeistaat“. Mit Beginn des zweiten Kapitels verschwindet das Erzähler-Ich, um in einem ominösen Wir aufzugehen. Dieses revolutionäre Wir will Schluss machen mit den unhaltbaren Zuständen im pseudodemokratischen, menschenverachtenden Land. Das Wir ist die Demarkationslinie: Mit dem Ich lässt sich noch Literatur schreiben, mit dem Wir beginnt das Pamphlet. Haenels Roman kippt – durchaus intendiert – ins für den Leser schwer erträgliche Pathos: „Hört uns gut zu: Jedes verbrannte Auto lindert unser Verlassensein.“ Inspiriert von den Guy-Fawkes-Fratzen der Globalisierungsgegner tragen die Aufständischen zeremonielle „Dogon“-Masken aus Mali und zerschneiden ihre Ausweise, so sie denn überhaupt Papiere besitzen. Eine Gesellschaft, die Identitäten nur selektiv zugesteht, soll durch das „Fremde“ attackiert werden – so der Tenor der „bleichen Füchse“. Das revolutionäre Potential findet sich unter den Ausgegrenzten, den Illegalen, den Afrikanern; Frantz Fanons „Verdammte dieser Erde“ lassen grüßen. Ihnen schließt sich Jean mit terroristischem Furor an: „Wir mussten nicht viel tun, um die Glut zu entfachen. Nichts ist leichter, als eine Welt den Flammen auszuliefern, die sich schon so lange selbst in ihrem Chaos verzehrt.“
Der Zorn ist nachvollziehbar, literarisch aber wenig fruchtbar. Das Buch, das vielversprechend als Erzählung begonnen hat, die den gewohnten Blick verstört, endet in einer Aneinanderreihung von Schlagworten. Zuweilen weiß man nicht, ob der Autor sie ironisch oder doch bitterernst meint. Einmal heißt es: „Ob ihr es wollt oder nicht: Ein Gespenst geht um in Frankreich, das Gespenst Afrikas.“ In der Realität geht derzeit ein ganz anderes Gespenst um. Man demonstrierte in Frankreich zuletzt lieber gegen die Homo-Ehe und wählte Marine Le Pen.
ULRICH RÜDENAUER
Yannick Haenel: Die bleichen Füchse. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 208 Seiten. 18,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
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Die Probleme der gesellschaftlichen Ausgrenzung und der Demütigung von Minderheiten sind in Frankreich durch die Solidarität mit Charlie Hebdo keineswegs beseitigt. Sie zu lösen ist die größte politische Herausforderung der Gegenwart. Dies ist die eindringliche Botschaft von Haenels aufwühlendem Roman, dem treffendsten Sittengemälde Frankreichs und unserer Zeit. intellectures.de