Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.1995Blinder Maulwurf
Christopher Lasch grollt der Gegenwart / Von Stefan Breuer
Es ist kein Gesetz, wohl aber eine Erfahrungsregel: Je populärer skeptische oder kritische Einstellungen gegenüber der Gesellschaft, desto größer die Neigung der Intellektuellen, sich zu bloßen Verstärkern dieser Einstellungen zu machen und das Nachdenken für überflüssige Mühe zu halten. Je größer dagegen das allgemeine Einverständnis mit dem Status quo, desto mächtiger der Stimulus für das, was Hegel die Maulwurfsarbeit des Begriffs nannte. Die großen Zeiten der kritischen Theorie der Gesellschaft waren deshalb nicht die vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, sondern die fünfziger und sechziger; nicht die zwanziger Jahre des gegenwärtigen, sondern die vierziger und fünfziger.
Und heute? Liest man das letzte Buch des 1994 verstorbenen Christoper Lasch, der in den siebziger Jahren mit seinen Attacken gegen die culture of narcissism Furore machte, so wird man zugeben müssen: eine Zeit für Maulwürfe ist dies nicht. Nicht, daß man Lasch nicht in vielem von dem zustimmen könnte, was er in seiner neuen Philippika vorbringt. Es gibt eine tiefe Kluft zwischen den privilegierten Klassen und dem Rest der Bevölkerung; es steht schlecht um die Demokratie, wenn immer breitere Schichten ihr Wahlrecht nicht ausüben; es gibt Grund zur Besorgnis, wenn sich die Gesellschaft, wie in den Vereinigten Staaten, in geschlossene, ethnisch homogene Enklaven segmentiert und jede Gruppe sich hinter ihren Dogmen verbarrikadiert; wenn die Innenstädte verfallen und ihre Bewohner in Gesetz- und Hoffnungslosigkeit versinken; wenn die Eliten ihre Energien auf Steuerflucht und Dekonstruktivismus konzentrieren, anstatt sich für das Ganze verantwortlich zu zeigen.
Man mag Lasch nicht widersprechen in der Auflistung solcher Tatbestände. Aber man mag auch schon bald nicht mehr weiterlesen. Lasch faßt nur zusammen, was heute täglich in den Leitartikeln der großen Zeitungen zu lesen oder in Rundfunkfeatures zu hören ist. Er gibt die Ängste und Phobien wieder, die heute besonders in den Mittelschichten den allgemeinen Bewußtseinsstand prägen, versammelt sie wie in einem Kaleidoskop, verdichtet und verstärkt sie und fügt an Eigenem lediglich einen antiplutokratischen Affekt und eine Schwärmerei für die direkte Demokratie hinzu, die an Rousseau erinnert. Dabei bleibt es. Eine begriffliche Durchdringung wird nirgends versucht, ein Anschluß an die großen Traditionen der Sozialkritik oder auch nur der Soziologie findet nicht statt; wenn überhaupt irgendwelche Namen fallen, sind es solche, die über die Vereinigten Staaten hinaus nicht bekannt geworden sind.
Statt dessen überwiegt das Lamento, die Dauerentrüstung, das Recycling von Anklagen, die man bis zum Überdruß kennt, nicht zuletzt aus früheren Büchern des Autors selbst. Während jedoch in Laschs älteren Texten die Nähe zur Kritischen Theorie und zu den neueren Strömungen der Psychoanalyse immerhin noch ein gewisses Niveau garantierte, erschöpft sich das jüngste Werk in Ressentiment und Moralismus. Die Empörung über den Hedonismus der Eliten hat etwas von den Neid-und Racheimpulsen, die die Anwürfe des jakobinischen Kleinbürgertums gegen die Aristokratie des Ancien régime grundierten; die Verdikte über den Kosmopolitismus, die Schamlosigkeit und die Dekadenz der Oberklassen könnten genausogut bei Paul Bourget stehen; und wenn es um die Sezession der "symbolischen Analytiker" aus der Nation geht, so fällt es schwer, nicht an die Polemik gegen den Zivilisationsliteraten zu denken, die in Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" im Vordergrund stand. Kein Wunder, daß Laschs Version des Populismus hinsichtlich ihres politischen Standortes seit jeher den Kritikern Rätsel aufgibt.
Vollends deutlich wird der moralisierende und predigerhafte Duktus dieses Werkes, wenn Lasch, nachdem er auf Dutzenden von Seiten den völligen Verfall der Werte, der Familie, der Erziehung, ja des Ichs geschildert hat, die massa perditionis zur Metanoia aufruft, zur Rückkehr zu einer auf Tugend gegründeten Demokratie, zur Errichtung einer "Welt voller heldenhafter, zu großen Taten fähiger Menschen" - als lebten wir im Zeitalter Louis Davids und seines Schwurs der Horatier. Selten ist der regressive Charakter des urlinken Ideals der Erziehungsdiktatur offener ausgesprochen worden als in diesem Buch, das sich in die Tradition der amerikanischen progressives stellt. Daß es, wie der Waschzettel verkündet, für die neunziger Jahre eine Bedeutung gewinnen könnte, muß von hier aus gesehen eher als Drohung verstanden werden.
Christopher Lasch: "Die blinde Elite". Macht ohne Verantwortung. Aus dem Amerikanischen von Olga Rinne. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1995. 304 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christopher Lasch grollt der Gegenwart / Von Stefan Breuer
Es ist kein Gesetz, wohl aber eine Erfahrungsregel: Je populärer skeptische oder kritische Einstellungen gegenüber der Gesellschaft, desto größer die Neigung der Intellektuellen, sich zu bloßen Verstärkern dieser Einstellungen zu machen und das Nachdenken für überflüssige Mühe zu halten. Je größer dagegen das allgemeine Einverständnis mit dem Status quo, desto mächtiger der Stimulus für das, was Hegel die Maulwurfsarbeit des Begriffs nannte. Die großen Zeiten der kritischen Theorie der Gesellschaft waren deshalb nicht die vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, sondern die fünfziger und sechziger; nicht die zwanziger Jahre des gegenwärtigen, sondern die vierziger und fünfziger.
Und heute? Liest man das letzte Buch des 1994 verstorbenen Christoper Lasch, der in den siebziger Jahren mit seinen Attacken gegen die culture of narcissism Furore machte, so wird man zugeben müssen: eine Zeit für Maulwürfe ist dies nicht. Nicht, daß man Lasch nicht in vielem von dem zustimmen könnte, was er in seiner neuen Philippika vorbringt. Es gibt eine tiefe Kluft zwischen den privilegierten Klassen und dem Rest der Bevölkerung; es steht schlecht um die Demokratie, wenn immer breitere Schichten ihr Wahlrecht nicht ausüben; es gibt Grund zur Besorgnis, wenn sich die Gesellschaft, wie in den Vereinigten Staaten, in geschlossene, ethnisch homogene Enklaven segmentiert und jede Gruppe sich hinter ihren Dogmen verbarrikadiert; wenn die Innenstädte verfallen und ihre Bewohner in Gesetz- und Hoffnungslosigkeit versinken; wenn die Eliten ihre Energien auf Steuerflucht und Dekonstruktivismus konzentrieren, anstatt sich für das Ganze verantwortlich zu zeigen.
Man mag Lasch nicht widersprechen in der Auflistung solcher Tatbestände. Aber man mag auch schon bald nicht mehr weiterlesen. Lasch faßt nur zusammen, was heute täglich in den Leitartikeln der großen Zeitungen zu lesen oder in Rundfunkfeatures zu hören ist. Er gibt die Ängste und Phobien wieder, die heute besonders in den Mittelschichten den allgemeinen Bewußtseinsstand prägen, versammelt sie wie in einem Kaleidoskop, verdichtet und verstärkt sie und fügt an Eigenem lediglich einen antiplutokratischen Affekt und eine Schwärmerei für die direkte Demokratie hinzu, die an Rousseau erinnert. Dabei bleibt es. Eine begriffliche Durchdringung wird nirgends versucht, ein Anschluß an die großen Traditionen der Sozialkritik oder auch nur der Soziologie findet nicht statt; wenn überhaupt irgendwelche Namen fallen, sind es solche, die über die Vereinigten Staaten hinaus nicht bekannt geworden sind.
Statt dessen überwiegt das Lamento, die Dauerentrüstung, das Recycling von Anklagen, die man bis zum Überdruß kennt, nicht zuletzt aus früheren Büchern des Autors selbst. Während jedoch in Laschs älteren Texten die Nähe zur Kritischen Theorie und zu den neueren Strömungen der Psychoanalyse immerhin noch ein gewisses Niveau garantierte, erschöpft sich das jüngste Werk in Ressentiment und Moralismus. Die Empörung über den Hedonismus der Eliten hat etwas von den Neid-und Racheimpulsen, die die Anwürfe des jakobinischen Kleinbürgertums gegen die Aristokratie des Ancien régime grundierten; die Verdikte über den Kosmopolitismus, die Schamlosigkeit und die Dekadenz der Oberklassen könnten genausogut bei Paul Bourget stehen; und wenn es um die Sezession der "symbolischen Analytiker" aus der Nation geht, so fällt es schwer, nicht an die Polemik gegen den Zivilisationsliteraten zu denken, die in Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" im Vordergrund stand. Kein Wunder, daß Laschs Version des Populismus hinsichtlich ihres politischen Standortes seit jeher den Kritikern Rätsel aufgibt.
Vollends deutlich wird der moralisierende und predigerhafte Duktus dieses Werkes, wenn Lasch, nachdem er auf Dutzenden von Seiten den völligen Verfall der Werte, der Familie, der Erziehung, ja des Ichs geschildert hat, die massa perditionis zur Metanoia aufruft, zur Rückkehr zu einer auf Tugend gegründeten Demokratie, zur Errichtung einer "Welt voller heldenhafter, zu großen Taten fähiger Menschen" - als lebten wir im Zeitalter Louis Davids und seines Schwurs der Horatier. Selten ist der regressive Charakter des urlinken Ideals der Erziehungsdiktatur offener ausgesprochen worden als in diesem Buch, das sich in die Tradition der amerikanischen progressives stellt. Daß es, wie der Waschzettel verkündet, für die neunziger Jahre eine Bedeutung gewinnen könnte, muß von hier aus gesehen eher als Drohung verstanden werden.
Christopher Lasch: "Die blinde Elite". Macht ohne Verantwortung. Aus dem Amerikanischen von Olga Rinne. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1995. 304 S., geb., 39,80 DM.
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