Einfühlsam und voller Respekt beschreibt der international führende Neurowissenschaftler Professor Ramachandran die bizarren neurologischen Ausfälle und Störungen seiner Patienten. Mit seinen ebenso ungewöhnlichen wie einfachen Methoden gelingt es ihm, ein ganz neues Licht auf die Tiefenstrukturen des Gehirns zu werfen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.02.2001Besuchsrecht für den Allmächtigen
Vilaynur Ramachandran erzählt von Phantomarmen und anderen neurologischen Nebenwirkungen
Empirische Erkenntnistheorie nennt der Neurologe Vilaynur Ramachandran seine Strategie, traditionellen philosophischen Fragen empirisch zu Leibe zu rücken. Wie kommt die Einheit subjektiver Erfahrung zustande? Wie trifft man eine Entscheidung? Wie führt die Aktivität von Nervenzellen zu bewusster Erfahrung? Und mehr noch: Warum lachen Menschen? Warum glauben sie an Gott, warum haben sie erotische Empfindungen, wenn ihnen jemand an den Zehen saugt?
Ramachandran kann zwar nicht alle diese Frage beantworten, doch was er in diesem zusammenhang in seinem neuen Buch darlegt, ist allemal erstaunlich genug. Menschen, die ihre Angehörigen nicht mehr erkennen, ihre Gliedmaßen anderen zuschreiben oder eine Lähmung standhaft leugnen, die sie befallen hat, sind keineswegs einfach verrückt geworden, betont Ramachandran. Diese Syndrome sind vielmehr Belege für grundlegende Arbeitsweisen des gesunden menschlichen Geistes und Gehirns. Sie nicht nur als Arzt zu lindern, sondern sie auch als Forscher zu erklären, befördert das große Projekt, „uns selbst zu verstehen”.
Das Glanzstück des Buches ist sicherlich die Beschreibung der von Ramachandran durchgeführten weltweit ersten „Amputation” eines Phantomglieds – „Phantoms in the Brain” ist der Originaltitel des Buches. Manchmal spüren Menschen, denen eine Gliedmaße amputiert werden musste, dieses Körperteil noch Jahrzehnte nach der Amputation. Sie können mit dem nicht vorhandenen Arm gestikulieren, wenn sie sprechen, oder sie gehen seitwärts durch eine Tür, um den in einem ungünstigen Winkel abstehenden Phantomarm nicht zu stoßen. Auch Menschen, denen Gliedmaßen von Geburt an fehlen, empfinden manchmal solche Phantome. Ramachandran berichtet etwa von einer jungen Frau, die ohne Arme geboren wurde. Weil ihre Phantomarme nicht in ihre Armprothesen passten, verlangte sie von ihrem Prothetiker kürzere Prothesen. Der aber befand, das sähe zu merkwürdig aus, und sie einigten sich auf eine mittlere Länge.
Ein Problem ist sicher, die Existenz dieser Phantomglieder zu erklären. Doch damit ist es nicht getan, denn manche Menschen empfinden nicht nur Phantomglieder, sie haben in ihnen auch Phantomschmerzen. Diese können so intensiv sein, dass sie die Betroffenen in den Selbstmord treiben. Schmerzen in „echten” Körperteilen sind schon schwer genug zu behandeln, aber wie lindert man Phantomschmerzen? Schmerz, so Ramachandran, ist kein Reflex, es ist eine Meinung des Gehirns über den Zustand des Organismus. Ebenso wie die scheinbar objektiv gegebene Welt, vor den Sinnesorganen, eine Meinung ist, und letztlich auch das uns so beständig erscheinende Selbst.
Diese konstruierte Natur aller unserer Wahrnehmungen und Überzeugungen ist es, die im Falle der Phantomschmerzen einen genialen Trick wirken lässt: Ein Mann mit amputiertem Arm litt an der schmerzhaften Verkrampfung seiner nicht mehr vorhandenen Hand. Ramachandran ersann eine Art Kasten mit Spiegel darin in den man beide Hände – die echte und die Phantomhand – hineinstecken kann und dessen Spiegel bewirkt, dass man auf der einen Seite die echte Hand und auf der anderen ihr Spiegelbild sieht. Eine optische Täuschung die ausreicht, den visuellen Eindruck der amputierten Hand hervorzurufen. Ballte nun der Patient die verbliebene Hand zur Faust und öffnete sie dann wieder, sah er scheinbar, wie seine verkrampfte Phantomhand sich ebenfalls entspannte und öffnete. Dieses visuelle Feedback reichte aus, um den Schmerz – kurzzeitig – verschwinden zu lassen.
Der Patient nahm den Kasten mit nach Hause und verwendete ihn regelmäßig zur Schmerzlinderung, bis sein Phantomarm eines Tages überraschend verschwand. Nur die Finger blieben oben an der Schulter zurück, und der Patient fragte nach, ob man den Spiegelkasten nicht so umbauen könnte, dass er auch noch seine Finger loswerde.
Die Karten des Körpers
Im Gehirn gibt es sogenannte Karten des Körpers, Regionen, in denen die Signale aus den entsprechenden Körperteilen eintreffen. Nach dem Verlust eines Körperteils, so Ramachandrans Erklärung dieser „Amputation”, wird dessen Karte von einem anderen Körperteil übernommen. Hat sich etwa die Karte des Gesichts auf die benachbarte Karte einer amputierten Hand ausgedehnt, wird jedes Mal, wenn ein Reiz das Gesicht trifft, auch die Karte der nicht mehr vorhandenen Hand aktiviert. Dies ruft die lebhafte Illusion hervor, die Hand sei wieder da. Schmerzen in den Phantomgliedern könnten durch Fehler bei dieser Umkartierung oder durch Schmerzerinnerung entstehen. Dass das Phantomglied verschwand, bedeutet, dass man diese Karten auch bewusst verändern kann.
Und was den Fußfetischismus angeht: Freud meinte, der Fuß habe eine ähnliche Form wie der Penis. Warum gibt es dann aber keinen Nasen- oder Handfetischismus? Vermutlich, so Ramachandran, weil nur die Fußkarte im Gehirn neben der Genitalienkarte liegt. Die Neuronen werden hier wohl ein paar Querverbindungen geschaffen haben.
Quälende Phantomschmerzen zu bekämpfen, ist zweifellos eine Wohltat. Doch die Neurologie ist nicht nur dem körperlichen Aspekt unseres altmodischen Menschenbildes auf der Spur, sondern auch dem, was man als Ich bezeichnen kann, oder zumindest einigen seiner Merkmale. So scheinen epileptische Anfälle in bestimmten Teilen des Schläfenlappens spirituelle Erfahrungen hervorzurufen. Patienten berichten von direkter Kommunikation mit Gott oder von Einsicht in das wahre Wesen des Kosmos. Manche Menschen werden von solchen Erlebnissen so verändert, dass Neurologen von „Schläfenlappenpersönlichkeiten” sprechen: Sie füllen ganze Bücher mit mystischen Symbolen und sehen in jeder Trivialität kosmische Bedeutung. Für den Arzt ein echtes Problem: „Würden Sie einen solchen Patienten wirklich behandeln und dem Allmächtigen sein Besuchsrecht verwehren wollen?” fragt Ramachandran.
Neben solchen denkwürdigen Highlights findet man bei Ramachandran auch viele bekannte Fakten und Geschichten – Basics über Bau und Funktion des Gehirns und des Wahrnehmungsapparats etwa, oder ein Kapitel über die schon häufiger beschriebene Blindsicht. Das ganze Buch über sprüht Ramachandran vor Ideen, entwirft am laufenden Band Experimente, die noch ausgeführt werden müssten, klassifiziert und spekuliert und pfuscht den Philosophen ins Handwerk. Ein Buch, das staunen macht. Mit Sandra Blakeslee, einer bekannten amerikanischen Wissenschaftsjournalistin, hat er eine souveräne Koautorin – gewidmet ist das Buch, unter anderen, Saraswathy, der Göttin des Lernens, der Musik und der Weisheit.
MANUELA LENZEN
VILAYNUR S. RANACHANDRAN, SANDRA BLAKESLEE: Die blinde Frau, die sehen kann. Rätselhafte Phänomene unseres Bewusstseins. Mit einem Vorwort von Oliver Sacks. Deutsch von Hainer Kober. Rowohlt Verlag, Reinbek 2001. 512 Seiten, 48 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Vilaynur Ramachandran erzählt von Phantomarmen und anderen neurologischen Nebenwirkungen
Empirische Erkenntnistheorie nennt der Neurologe Vilaynur Ramachandran seine Strategie, traditionellen philosophischen Fragen empirisch zu Leibe zu rücken. Wie kommt die Einheit subjektiver Erfahrung zustande? Wie trifft man eine Entscheidung? Wie führt die Aktivität von Nervenzellen zu bewusster Erfahrung? Und mehr noch: Warum lachen Menschen? Warum glauben sie an Gott, warum haben sie erotische Empfindungen, wenn ihnen jemand an den Zehen saugt?
Ramachandran kann zwar nicht alle diese Frage beantworten, doch was er in diesem zusammenhang in seinem neuen Buch darlegt, ist allemal erstaunlich genug. Menschen, die ihre Angehörigen nicht mehr erkennen, ihre Gliedmaßen anderen zuschreiben oder eine Lähmung standhaft leugnen, die sie befallen hat, sind keineswegs einfach verrückt geworden, betont Ramachandran. Diese Syndrome sind vielmehr Belege für grundlegende Arbeitsweisen des gesunden menschlichen Geistes und Gehirns. Sie nicht nur als Arzt zu lindern, sondern sie auch als Forscher zu erklären, befördert das große Projekt, „uns selbst zu verstehen”.
Das Glanzstück des Buches ist sicherlich die Beschreibung der von Ramachandran durchgeführten weltweit ersten „Amputation” eines Phantomglieds – „Phantoms in the Brain” ist der Originaltitel des Buches. Manchmal spüren Menschen, denen eine Gliedmaße amputiert werden musste, dieses Körperteil noch Jahrzehnte nach der Amputation. Sie können mit dem nicht vorhandenen Arm gestikulieren, wenn sie sprechen, oder sie gehen seitwärts durch eine Tür, um den in einem ungünstigen Winkel abstehenden Phantomarm nicht zu stoßen. Auch Menschen, denen Gliedmaßen von Geburt an fehlen, empfinden manchmal solche Phantome. Ramachandran berichtet etwa von einer jungen Frau, die ohne Arme geboren wurde. Weil ihre Phantomarme nicht in ihre Armprothesen passten, verlangte sie von ihrem Prothetiker kürzere Prothesen. Der aber befand, das sähe zu merkwürdig aus, und sie einigten sich auf eine mittlere Länge.
Ein Problem ist sicher, die Existenz dieser Phantomglieder zu erklären. Doch damit ist es nicht getan, denn manche Menschen empfinden nicht nur Phantomglieder, sie haben in ihnen auch Phantomschmerzen. Diese können so intensiv sein, dass sie die Betroffenen in den Selbstmord treiben. Schmerzen in „echten” Körperteilen sind schon schwer genug zu behandeln, aber wie lindert man Phantomschmerzen? Schmerz, so Ramachandran, ist kein Reflex, es ist eine Meinung des Gehirns über den Zustand des Organismus. Ebenso wie die scheinbar objektiv gegebene Welt, vor den Sinnesorganen, eine Meinung ist, und letztlich auch das uns so beständig erscheinende Selbst.
Diese konstruierte Natur aller unserer Wahrnehmungen und Überzeugungen ist es, die im Falle der Phantomschmerzen einen genialen Trick wirken lässt: Ein Mann mit amputiertem Arm litt an der schmerzhaften Verkrampfung seiner nicht mehr vorhandenen Hand. Ramachandran ersann eine Art Kasten mit Spiegel darin in den man beide Hände – die echte und die Phantomhand – hineinstecken kann und dessen Spiegel bewirkt, dass man auf der einen Seite die echte Hand und auf der anderen ihr Spiegelbild sieht. Eine optische Täuschung die ausreicht, den visuellen Eindruck der amputierten Hand hervorzurufen. Ballte nun der Patient die verbliebene Hand zur Faust und öffnete sie dann wieder, sah er scheinbar, wie seine verkrampfte Phantomhand sich ebenfalls entspannte und öffnete. Dieses visuelle Feedback reichte aus, um den Schmerz – kurzzeitig – verschwinden zu lassen.
Der Patient nahm den Kasten mit nach Hause und verwendete ihn regelmäßig zur Schmerzlinderung, bis sein Phantomarm eines Tages überraschend verschwand. Nur die Finger blieben oben an der Schulter zurück, und der Patient fragte nach, ob man den Spiegelkasten nicht so umbauen könnte, dass er auch noch seine Finger loswerde.
Die Karten des Körpers
Im Gehirn gibt es sogenannte Karten des Körpers, Regionen, in denen die Signale aus den entsprechenden Körperteilen eintreffen. Nach dem Verlust eines Körperteils, so Ramachandrans Erklärung dieser „Amputation”, wird dessen Karte von einem anderen Körperteil übernommen. Hat sich etwa die Karte des Gesichts auf die benachbarte Karte einer amputierten Hand ausgedehnt, wird jedes Mal, wenn ein Reiz das Gesicht trifft, auch die Karte der nicht mehr vorhandenen Hand aktiviert. Dies ruft die lebhafte Illusion hervor, die Hand sei wieder da. Schmerzen in den Phantomgliedern könnten durch Fehler bei dieser Umkartierung oder durch Schmerzerinnerung entstehen. Dass das Phantomglied verschwand, bedeutet, dass man diese Karten auch bewusst verändern kann.
Und was den Fußfetischismus angeht: Freud meinte, der Fuß habe eine ähnliche Form wie der Penis. Warum gibt es dann aber keinen Nasen- oder Handfetischismus? Vermutlich, so Ramachandran, weil nur die Fußkarte im Gehirn neben der Genitalienkarte liegt. Die Neuronen werden hier wohl ein paar Querverbindungen geschaffen haben.
Quälende Phantomschmerzen zu bekämpfen, ist zweifellos eine Wohltat. Doch die Neurologie ist nicht nur dem körperlichen Aspekt unseres altmodischen Menschenbildes auf der Spur, sondern auch dem, was man als Ich bezeichnen kann, oder zumindest einigen seiner Merkmale. So scheinen epileptische Anfälle in bestimmten Teilen des Schläfenlappens spirituelle Erfahrungen hervorzurufen. Patienten berichten von direkter Kommunikation mit Gott oder von Einsicht in das wahre Wesen des Kosmos. Manche Menschen werden von solchen Erlebnissen so verändert, dass Neurologen von „Schläfenlappenpersönlichkeiten” sprechen: Sie füllen ganze Bücher mit mystischen Symbolen und sehen in jeder Trivialität kosmische Bedeutung. Für den Arzt ein echtes Problem: „Würden Sie einen solchen Patienten wirklich behandeln und dem Allmächtigen sein Besuchsrecht verwehren wollen?” fragt Ramachandran.
Neben solchen denkwürdigen Highlights findet man bei Ramachandran auch viele bekannte Fakten und Geschichten – Basics über Bau und Funktion des Gehirns und des Wahrnehmungsapparats etwa, oder ein Kapitel über die schon häufiger beschriebene Blindsicht. Das ganze Buch über sprüht Ramachandran vor Ideen, entwirft am laufenden Band Experimente, die noch ausgeführt werden müssten, klassifiziert und spekuliert und pfuscht den Philosophen ins Handwerk. Ein Buch, das staunen macht. Mit Sandra Blakeslee, einer bekannten amerikanischen Wissenschaftsjournalistin, hat er eine souveräne Koautorin – gewidmet ist das Buch, unter anderen, Saraswathy, der Göttin des Lernens, der Musik und der Weisheit.
MANUELA LENZEN
VILAYNUR S. RANACHANDRAN, SANDRA BLAKESLEE: Die blinde Frau, die sehen kann. Rätselhafte Phänomene unseres Bewusstseins. Mit einem Vorwort von Oliver Sacks. Deutsch von Hainer Kober. Rowohlt Verlag, Reinbek 2001. 512 Seiten, 48 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.05.2001Spieglein, Spieglein statt der Hand
Dies sind die Phantome im Neuroland: Vilayanur Ramachandran tanzt mit Shiva und löst Lord Nelsons Seele in Eiswasser auf
Seit Lord Nelson in der Schlacht auf Santa Cruz de Tenerife seinen rechten Arm verloren hatte, quälte ihn der Phantomschmerz. Tief schienen sich die Finger in die amputierte Hand zu bohren. Damit war nach Ansicht des Lords der "unmittelbare Beweis für die Existenz der Seele" erbracht: Kann ein Glied über sein Absterben hinaus existieren, so muß auch der menschliche Geist die physische Vernichtung überdauern.
Der indische Neurologe Vilayanur Ramachandran kann der Vorstellung einer einzigartigen Seele zwar nicht viel abgewinnen, aber womöglich hätte er Lord Nelson kuriert. Zu den größten Coups dieses Ausnahme-Wissenschaftlers gehört die Heilung von Phantomschmerzen, ja sogar die "Amputation von Phantomgliedern" durch einen genial einfachen Spiegeltrick. Lange machten Mediziner Stümpfe kürzer und kürzer und durchtrennten sogar die Schmerzbahn im Rückenmark, um die Qual zu lindern. Ramachandran überlistete das Gehirn visuell: Da aus der amputierten Hand keine Signale mehr dringen, so folgerte er, reagierte das Gehirn mit Verwirrung und Schmerz. Als er den Patienten in einem Kasten eine Spiegelung der gesunden Hand an der Stelle des Phantomgliedes zeigte, konnten einige das fehlende Glied nach Jahren der Lähmung "bewegen", manchmal verschwand es sogar.
Schmerz, so lernt der Leser von Ramachandrans zauberhaftem Buch "Die blinde Frau, die sehen kann", entsteht im Kopf. Er ist eine Illusion, wie das Bild des Körpers und das "Selbst" schlechthin. Lotsen auf dieser Reise ins Innere des Gehirns sind Menschen mit grotesken Symptomen. Ein Mann kann seine Phantomhand teleskopartig ausstrecken, ein anderer erlebt in seinem Phantomfuß gewaltige Orgasmen. Nancy sieht sich ständig von Comicfiguren umgeben; Arthur glaubt, sein Vater sei ein Hochstapler; Mrs. Dodds kann ihren Arm nicht bewegen, würde dies aber nie zugeben; Ruth lacht unaufhörlich, bis sie buchstäblich lachend stirbt.
Menschen wie sie, so Ramachandran, landen zu oft in der Psychiatrie und zu selten im Labor. Sie sind nicht verrückt. Ein Defekt hat sie aus der Bahn geworden, nun geben sie uns Hinweise über den Aufbau der Schaltkreise in unserem Gehirn. Wie Oliver Sacks, der das Vorwort geschrieben hat, versucht auch Ramachandran das Geheimnis des Lebens aus seinen Launen zu begreifen. Stets beginnt seine Reise ins Innere des Menschen mit einem rätselhaften Fall, mündet dann in eine detektivische Suche im Gespinst von Axonen und Synapsen und verrinnt in einem opulenten Anmerkungsapparat.
Koautorin Sandra Blakeslee bleibt so gut wie unsichtbar hinter Ramachandran, einem schillernden Protagonisten der Dritten Kultur, der schon als Teenager in Indien einen Aufsatz in "Nature" veröffentlichte und als Arzt in Madras lernte, Krankheiten am Geruch zu erkennen ("der Duft von frischem Brot bei Typhus"). Über Oxford gelangte er nach San Diego ins Center for Brain and Cognition an der University of California. "Newsweek" zählt ihn zu den "hundert wichtigsten Menschen des 21. Jahrhunderts", und manchem gilt er als Kandidat für den Nobelpreis.
Doch Ramachandran ist auch umstritten. Sein Hang zu raschen Thesen, seine Forderung, die Wissenschaft habe sich zwischen der genauen Kenntnis unwichtiger Dinge (Farbensehen) und der ungenauen Kenntnis wichtiger Dinge (das Selbst) zu entscheiden, ist orthodoxen Empirikern ein Greuel. Er selbst stilisiert sich in seinem Buch zum undogmatischen Exzentriker und brillanten Schelm, der sich in Sitzungen die Zeit vertreibt, indem er Redner mit Hilfe seines blinden Flecks im Auge "köpft". Demonstrativ verzichtet er auf Technologie und arbeitet mit Wattestäbchen und Gummihänden, greift aber gern auf die Erkenntnisse aus Hochtechnologieforschung und Tierversuchen zurück. Ramachandran treibt die Grenzen seiner Forschung tief in andere Disziplinen hinein. Vor allem seine Entdeckung eines "Gottesmoduls" im Gehirn sorgte für Aufsehen. Nun merkt der Leser bald, daß er nicht den Sitz Gottes im Hirn, sondern nur das Zentrum religiöser Empfindungen im Blick hat, doch die Provokation ist perfekt.
Die unbändige Neugier und das unverhohlene Vergnügen dieses Forschers sind ansteckend und erfrischend wie das Eiswasser, das er einer Anosognosie-Patientin ins Ohr gießt. Wenn die Frau daraufhin zum ersten Mal zugibt, daß ihr Arm gelähmt ist, blitzt für den Leser die immense Dimension des "Rätsels Gehirn" auf. Wenn das erotische Inferno im Phantomfuß entsteht, weil Füße und Geschlechtsteile in benachbarten Arealen auf der Hirnrinde kartiert sind und das Gehirn nach dem Verlust eines Gliedes eine Umkartierung des Körperbildes vornimmt, bedeutet dies offenbar, daß unser Körperbild nicht festgelegt ist. Aber was heißt das für Magersüchtige? Arthur, der seinen Vater mit einem Hochstapler verwechselt, hat eine Störung im Zugang zum limbischen System, dem Sitz der Gefühle. Er erkennt seine Eltern, aber sie lösen keine Wärme aus. Deshalb macht das Gehirn sie zu "Schwindlern". Gerade solche Notlösungen zeigen, wie eitel die Vorstellung von einem fest umrissenen Selbst ist. "Ich" ist ein Vehikel, um schneller zu entscheiden, zu kämpfen und sich zu paaren.
Je mehr sich unsere kühnsten Gedanken und tiefsten Empfindungen als Neuronenflackern erweisen, desto unaufhaltsamer löst sich Nelsons Gewißheit einer ewigen Seele in Nichts auf. Ramachandran kennt die westliche Anbetung des Individuums gut genug, um zu ermessen, welches Unbehagen dieser Gedanke auslöst. Zum Trost verweist er auf östliche Demut: "Wenn ich mich als Teil von Shivas großem kosmischen Tanz begreife", schreibt er, "dann muß ich meinen unausweichlichen Tod nicht mehr als Tragödie ansehen, sondern kann ihn als glückliche Vereinigung mit der Natur verstehen." Diesem Teil seines eindrucksvollen Werkes zu folgen dürfte deutschen Lesern allerdings schwerfallen.
SONJA ZEKRI
Vilayanur Ramachandran, Sandra Blakeslee: "Die blinde Frau, die sehen kann". Rätselhafte Phänomene unseres Bewußtseins. Mit einem Vorwort von Oliver Sacks. Aus dem Engl. von Hainer Kober. Rowohlt Verlag, Hamburg 2001. 511 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dies sind die Phantome im Neuroland: Vilayanur Ramachandran tanzt mit Shiva und löst Lord Nelsons Seele in Eiswasser auf
Seit Lord Nelson in der Schlacht auf Santa Cruz de Tenerife seinen rechten Arm verloren hatte, quälte ihn der Phantomschmerz. Tief schienen sich die Finger in die amputierte Hand zu bohren. Damit war nach Ansicht des Lords der "unmittelbare Beweis für die Existenz der Seele" erbracht: Kann ein Glied über sein Absterben hinaus existieren, so muß auch der menschliche Geist die physische Vernichtung überdauern.
Der indische Neurologe Vilayanur Ramachandran kann der Vorstellung einer einzigartigen Seele zwar nicht viel abgewinnen, aber womöglich hätte er Lord Nelson kuriert. Zu den größten Coups dieses Ausnahme-Wissenschaftlers gehört die Heilung von Phantomschmerzen, ja sogar die "Amputation von Phantomgliedern" durch einen genial einfachen Spiegeltrick. Lange machten Mediziner Stümpfe kürzer und kürzer und durchtrennten sogar die Schmerzbahn im Rückenmark, um die Qual zu lindern. Ramachandran überlistete das Gehirn visuell: Da aus der amputierten Hand keine Signale mehr dringen, so folgerte er, reagierte das Gehirn mit Verwirrung und Schmerz. Als er den Patienten in einem Kasten eine Spiegelung der gesunden Hand an der Stelle des Phantomgliedes zeigte, konnten einige das fehlende Glied nach Jahren der Lähmung "bewegen", manchmal verschwand es sogar.
Schmerz, so lernt der Leser von Ramachandrans zauberhaftem Buch "Die blinde Frau, die sehen kann", entsteht im Kopf. Er ist eine Illusion, wie das Bild des Körpers und das "Selbst" schlechthin. Lotsen auf dieser Reise ins Innere des Gehirns sind Menschen mit grotesken Symptomen. Ein Mann kann seine Phantomhand teleskopartig ausstrecken, ein anderer erlebt in seinem Phantomfuß gewaltige Orgasmen. Nancy sieht sich ständig von Comicfiguren umgeben; Arthur glaubt, sein Vater sei ein Hochstapler; Mrs. Dodds kann ihren Arm nicht bewegen, würde dies aber nie zugeben; Ruth lacht unaufhörlich, bis sie buchstäblich lachend stirbt.
Menschen wie sie, so Ramachandran, landen zu oft in der Psychiatrie und zu selten im Labor. Sie sind nicht verrückt. Ein Defekt hat sie aus der Bahn geworden, nun geben sie uns Hinweise über den Aufbau der Schaltkreise in unserem Gehirn. Wie Oliver Sacks, der das Vorwort geschrieben hat, versucht auch Ramachandran das Geheimnis des Lebens aus seinen Launen zu begreifen. Stets beginnt seine Reise ins Innere des Menschen mit einem rätselhaften Fall, mündet dann in eine detektivische Suche im Gespinst von Axonen und Synapsen und verrinnt in einem opulenten Anmerkungsapparat.
Koautorin Sandra Blakeslee bleibt so gut wie unsichtbar hinter Ramachandran, einem schillernden Protagonisten der Dritten Kultur, der schon als Teenager in Indien einen Aufsatz in "Nature" veröffentlichte und als Arzt in Madras lernte, Krankheiten am Geruch zu erkennen ("der Duft von frischem Brot bei Typhus"). Über Oxford gelangte er nach San Diego ins Center for Brain and Cognition an der University of California. "Newsweek" zählt ihn zu den "hundert wichtigsten Menschen des 21. Jahrhunderts", und manchem gilt er als Kandidat für den Nobelpreis.
Doch Ramachandran ist auch umstritten. Sein Hang zu raschen Thesen, seine Forderung, die Wissenschaft habe sich zwischen der genauen Kenntnis unwichtiger Dinge (Farbensehen) und der ungenauen Kenntnis wichtiger Dinge (das Selbst) zu entscheiden, ist orthodoxen Empirikern ein Greuel. Er selbst stilisiert sich in seinem Buch zum undogmatischen Exzentriker und brillanten Schelm, der sich in Sitzungen die Zeit vertreibt, indem er Redner mit Hilfe seines blinden Flecks im Auge "köpft". Demonstrativ verzichtet er auf Technologie und arbeitet mit Wattestäbchen und Gummihänden, greift aber gern auf die Erkenntnisse aus Hochtechnologieforschung und Tierversuchen zurück. Ramachandran treibt die Grenzen seiner Forschung tief in andere Disziplinen hinein. Vor allem seine Entdeckung eines "Gottesmoduls" im Gehirn sorgte für Aufsehen. Nun merkt der Leser bald, daß er nicht den Sitz Gottes im Hirn, sondern nur das Zentrum religiöser Empfindungen im Blick hat, doch die Provokation ist perfekt.
Die unbändige Neugier und das unverhohlene Vergnügen dieses Forschers sind ansteckend und erfrischend wie das Eiswasser, das er einer Anosognosie-Patientin ins Ohr gießt. Wenn die Frau daraufhin zum ersten Mal zugibt, daß ihr Arm gelähmt ist, blitzt für den Leser die immense Dimension des "Rätsels Gehirn" auf. Wenn das erotische Inferno im Phantomfuß entsteht, weil Füße und Geschlechtsteile in benachbarten Arealen auf der Hirnrinde kartiert sind und das Gehirn nach dem Verlust eines Gliedes eine Umkartierung des Körperbildes vornimmt, bedeutet dies offenbar, daß unser Körperbild nicht festgelegt ist. Aber was heißt das für Magersüchtige? Arthur, der seinen Vater mit einem Hochstapler verwechselt, hat eine Störung im Zugang zum limbischen System, dem Sitz der Gefühle. Er erkennt seine Eltern, aber sie lösen keine Wärme aus. Deshalb macht das Gehirn sie zu "Schwindlern". Gerade solche Notlösungen zeigen, wie eitel die Vorstellung von einem fest umrissenen Selbst ist. "Ich" ist ein Vehikel, um schneller zu entscheiden, zu kämpfen und sich zu paaren.
Je mehr sich unsere kühnsten Gedanken und tiefsten Empfindungen als Neuronenflackern erweisen, desto unaufhaltsamer löst sich Nelsons Gewißheit einer ewigen Seele in Nichts auf. Ramachandran kennt die westliche Anbetung des Individuums gut genug, um zu ermessen, welches Unbehagen dieser Gedanke auslöst. Zum Trost verweist er auf östliche Demut: "Wenn ich mich als Teil von Shivas großem kosmischen Tanz begreife", schreibt er, "dann muß ich meinen unausweichlichen Tod nicht mehr als Tragödie ansehen, sondern kann ihn als glückliche Vereinigung mit der Natur verstehen." Diesem Teil seines eindrucksvollen Werkes zu folgen dürfte deutschen Lesern allerdings schwerfallen.
SONJA ZEKRI
Vilayanur Ramachandran, Sandra Blakeslee: "Die blinde Frau, die sehen kann". Rätselhafte Phänomene unseres Bewußtseins. Mit einem Vorwort von Oliver Sacks. Aus dem Engl. von Hainer Kober. Rowohlt Verlag, Hamburg 2001. 511 S., geb., 48,- DM.
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