Einfühlsam und voller Respekt beschreibt der international führende Neurowissenschaftler Professor Ramachandran die bizarren neurologischen Ausfälle und Störungen seiner Patienten. Mit seinen ebenso ungewöhnlichen wie einfachen Methoden gelingt es ihm, ein ganz neues Licht auf die Tiefenstrukturen des Gehirns zu werfen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.05.2001Spieglein, Spieglein statt der Hand
Dies sind die Phantome im Neuroland: Vilayanur Ramachandran tanzt mit Shiva und löst Lord Nelsons Seele in Eiswasser auf
Seit Lord Nelson in der Schlacht auf Santa Cruz de Tenerife seinen rechten Arm verloren hatte, quälte ihn der Phantomschmerz. Tief schienen sich die Finger in die amputierte Hand zu bohren. Damit war nach Ansicht des Lords der "unmittelbare Beweis für die Existenz der Seele" erbracht: Kann ein Glied über sein Absterben hinaus existieren, so muß auch der menschliche Geist die physische Vernichtung überdauern.
Der indische Neurologe Vilayanur Ramachandran kann der Vorstellung einer einzigartigen Seele zwar nicht viel abgewinnen, aber womöglich hätte er Lord Nelson kuriert. Zu den größten Coups dieses Ausnahme-Wissenschaftlers gehört die Heilung von Phantomschmerzen, ja sogar die "Amputation von Phantomgliedern" durch einen genial einfachen Spiegeltrick. Lange machten Mediziner Stümpfe kürzer und kürzer und durchtrennten sogar die Schmerzbahn im Rückenmark, um die Qual zu lindern. Ramachandran überlistete das Gehirn visuell: Da aus der amputierten Hand keine Signale mehr dringen, so folgerte er, reagierte das Gehirn mit Verwirrung und Schmerz. Als er den Patienten in einem Kasten eine Spiegelung der gesunden Hand an der Stelle des Phantomgliedes zeigte, konnten einige das fehlende Glied nach Jahren der Lähmung "bewegen", manchmal verschwand es sogar.
Schmerz, so lernt der Leser von Ramachandrans zauberhaftem Buch "Die blinde Frau, die sehen kann", entsteht im Kopf. Er ist eine Illusion, wie das Bild des Körpers und das "Selbst" schlechthin. Lotsen auf dieser Reise ins Innere des Gehirns sind Menschen mit grotesken Symptomen. Ein Mann kann seine Phantomhand teleskopartig ausstrecken, ein anderer erlebt in seinem Phantomfuß gewaltige Orgasmen. Nancy sieht sich ständig von Comicfiguren umgeben; Arthur glaubt, sein Vater sei ein Hochstapler; Mrs. Dodds kann ihren Arm nicht bewegen, würde dies aber nie zugeben; Ruth lacht unaufhörlich, bis sie buchstäblich lachend stirbt.
Menschen wie sie, so Ramachandran, landen zu oft in der Psychiatrie und zu selten im Labor. Sie sind nicht verrückt. Ein Defekt hat sie aus der Bahn geworden, nun geben sie uns Hinweise über den Aufbau der Schaltkreise in unserem Gehirn. Wie Oliver Sacks, der das Vorwort geschrieben hat, versucht auch Ramachandran das Geheimnis des Lebens aus seinen Launen zu begreifen. Stets beginnt seine Reise ins Innere des Menschen mit einem rätselhaften Fall, mündet dann in eine detektivische Suche im Gespinst von Axonen und Synapsen und verrinnt in einem opulenten Anmerkungsapparat.
Koautorin Sandra Blakeslee bleibt so gut wie unsichtbar hinter Ramachandran, einem schillernden Protagonisten der Dritten Kultur, der schon als Teenager in Indien einen Aufsatz in "Nature" veröffentlichte und als Arzt in Madras lernte, Krankheiten am Geruch zu erkennen ("der Duft von frischem Brot bei Typhus"). Über Oxford gelangte er nach San Diego ins Center for Brain and Cognition an der University of California. "Newsweek" zählt ihn zu den "hundert wichtigsten Menschen des 21. Jahrhunderts", und manchem gilt er als Kandidat für den Nobelpreis.
Doch Ramachandran ist auch umstritten. Sein Hang zu raschen Thesen, seine Forderung, die Wissenschaft habe sich zwischen der genauen Kenntnis unwichtiger Dinge (Farbensehen) und der ungenauen Kenntnis wichtiger Dinge (das Selbst) zu entscheiden, ist orthodoxen Empirikern ein Greuel. Er selbst stilisiert sich in seinem Buch zum undogmatischen Exzentriker und brillanten Schelm, der sich in Sitzungen die Zeit vertreibt, indem er Redner mit Hilfe seines blinden Flecks im Auge "köpft". Demonstrativ verzichtet er auf Technologie und arbeitet mit Wattestäbchen und Gummihänden, greift aber gern auf die Erkenntnisse aus Hochtechnologieforschung und Tierversuchen zurück. Ramachandran treibt die Grenzen seiner Forschung tief in andere Disziplinen hinein. Vor allem seine Entdeckung eines "Gottesmoduls" im Gehirn sorgte für Aufsehen. Nun merkt der Leser bald, daß er nicht den Sitz Gottes im Hirn, sondern nur das Zentrum religiöser Empfindungen im Blick hat, doch die Provokation ist perfekt.
Die unbändige Neugier und das unverhohlene Vergnügen dieses Forschers sind ansteckend und erfrischend wie das Eiswasser, das er einer Anosognosie-Patientin ins Ohr gießt. Wenn die Frau daraufhin zum ersten Mal zugibt, daß ihr Arm gelähmt ist, blitzt für den Leser die immense Dimension des "Rätsels Gehirn" auf. Wenn das erotische Inferno im Phantomfuß entsteht, weil Füße und Geschlechtsteile in benachbarten Arealen auf der Hirnrinde kartiert sind und das Gehirn nach dem Verlust eines Gliedes eine Umkartierung des Körperbildes vornimmt, bedeutet dies offenbar, daß unser Körperbild nicht festgelegt ist. Aber was heißt das für Magersüchtige? Arthur, der seinen Vater mit einem Hochstapler verwechselt, hat eine Störung im Zugang zum limbischen System, dem Sitz der Gefühle. Er erkennt seine Eltern, aber sie lösen keine Wärme aus. Deshalb macht das Gehirn sie zu "Schwindlern". Gerade solche Notlösungen zeigen, wie eitel die Vorstellung von einem fest umrissenen Selbst ist. "Ich" ist ein Vehikel, um schneller zu entscheiden, zu kämpfen und sich zu paaren.
Je mehr sich unsere kühnsten Gedanken und tiefsten Empfindungen als Neuronenflackern erweisen, desto unaufhaltsamer löst sich Nelsons Gewißheit einer ewigen Seele in Nichts auf. Ramachandran kennt die westliche Anbetung des Individuums gut genug, um zu ermessen, welches Unbehagen dieser Gedanke auslöst. Zum Trost verweist er auf östliche Demut: "Wenn ich mich als Teil von Shivas großem kosmischen Tanz begreife", schreibt er, "dann muß ich meinen unausweichlichen Tod nicht mehr als Tragödie ansehen, sondern kann ihn als glückliche Vereinigung mit der Natur verstehen." Diesem Teil seines eindrucksvollen Werkes zu folgen dürfte deutschen Lesern allerdings schwerfallen.
SONJA ZEKRI
Vilayanur Ramachandran, Sandra Blakeslee: "Die blinde Frau, die sehen kann". Rätselhafte Phänomene unseres Bewußtseins. Mit einem Vorwort von Oliver Sacks. Aus dem Engl. von Hainer Kober. Rowohlt Verlag, Hamburg 2001. 511 S., geb., 48,- DM.
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Dies sind die Phantome im Neuroland: Vilayanur Ramachandran tanzt mit Shiva und löst Lord Nelsons Seele in Eiswasser auf
Seit Lord Nelson in der Schlacht auf Santa Cruz de Tenerife seinen rechten Arm verloren hatte, quälte ihn der Phantomschmerz. Tief schienen sich die Finger in die amputierte Hand zu bohren. Damit war nach Ansicht des Lords der "unmittelbare Beweis für die Existenz der Seele" erbracht: Kann ein Glied über sein Absterben hinaus existieren, so muß auch der menschliche Geist die physische Vernichtung überdauern.
Der indische Neurologe Vilayanur Ramachandran kann der Vorstellung einer einzigartigen Seele zwar nicht viel abgewinnen, aber womöglich hätte er Lord Nelson kuriert. Zu den größten Coups dieses Ausnahme-Wissenschaftlers gehört die Heilung von Phantomschmerzen, ja sogar die "Amputation von Phantomgliedern" durch einen genial einfachen Spiegeltrick. Lange machten Mediziner Stümpfe kürzer und kürzer und durchtrennten sogar die Schmerzbahn im Rückenmark, um die Qual zu lindern. Ramachandran überlistete das Gehirn visuell: Da aus der amputierten Hand keine Signale mehr dringen, so folgerte er, reagierte das Gehirn mit Verwirrung und Schmerz. Als er den Patienten in einem Kasten eine Spiegelung der gesunden Hand an der Stelle des Phantomgliedes zeigte, konnten einige das fehlende Glied nach Jahren der Lähmung "bewegen", manchmal verschwand es sogar.
Schmerz, so lernt der Leser von Ramachandrans zauberhaftem Buch "Die blinde Frau, die sehen kann", entsteht im Kopf. Er ist eine Illusion, wie das Bild des Körpers und das "Selbst" schlechthin. Lotsen auf dieser Reise ins Innere des Gehirns sind Menschen mit grotesken Symptomen. Ein Mann kann seine Phantomhand teleskopartig ausstrecken, ein anderer erlebt in seinem Phantomfuß gewaltige Orgasmen. Nancy sieht sich ständig von Comicfiguren umgeben; Arthur glaubt, sein Vater sei ein Hochstapler; Mrs. Dodds kann ihren Arm nicht bewegen, würde dies aber nie zugeben; Ruth lacht unaufhörlich, bis sie buchstäblich lachend stirbt.
Menschen wie sie, so Ramachandran, landen zu oft in der Psychiatrie und zu selten im Labor. Sie sind nicht verrückt. Ein Defekt hat sie aus der Bahn geworden, nun geben sie uns Hinweise über den Aufbau der Schaltkreise in unserem Gehirn. Wie Oliver Sacks, der das Vorwort geschrieben hat, versucht auch Ramachandran das Geheimnis des Lebens aus seinen Launen zu begreifen. Stets beginnt seine Reise ins Innere des Menschen mit einem rätselhaften Fall, mündet dann in eine detektivische Suche im Gespinst von Axonen und Synapsen und verrinnt in einem opulenten Anmerkungsapparat.
Koautorin Sandra Blakeslee bleibt so gut wie unsichtbar hinter Ramachandran, einem schillernden Protagonisten der Dritten Kultur, der schon als Teenager in Indien einen Aufsatz in "Nature" veröffentlichte und als Arzt in Madras lernte, Krankheiten am Geruch zu erkennen ("der Duft von frischem Brot bei Typhus"). Über Oxford gelangte er nach San Diego ins Center for Brain and Cognition an der University of California. "Newsweek" zählt ihn zu den "hundert wichtigsten Menschen des 21. Jahrhunderts", und manchem gilt er als Kandidat für den Nobelpreis.
Doch Ramachandran ist auch umstritten. Sein Hang zu raschen Thesen, seine Forderung, die Wissenschaft habe sich zwischen der genauen Kenntnis unwichtiger Dinge (Farbensehen) und der ungenauen Kenntnis wichtiger Dinge (das Selbst) zu entscheiden, ist orthodoxen Empirikern ein Greuel. Er selbst stilisiert sich in seinem Buch zum undogmatischen Exzentriker und brillanten Schelm, der sich in Sitzungen die Zeit vertreibt, indem er Redner mit Hilfe seines blinden Flecks im Auge "köpft". Demonstrativ verzichtet er auf Technologie und arbeitet mit Wattestäbchen und Gummihänden, greift aber gern auf die Erkenntnisse aus Hochtechnologieforschung und Tierversuchen zurück. Ramachandran treibt die Grenzen seiner Forschung tief in andere Disziplinen hinein. Vor allem seine Entdeckung eines "Gottesmoduls" im Gehirn sorgte für Aufsehen. Nun merkt der Leser bald, daß er nicht den Sitz Gottes im Hirn, sondern nur das Zentrum religiöser Empfindungen im Blick hat, doch die Provokation ist perfekt.
Die unbändige Neugier und das unverhohlene Vergnügen dieses Forschers sind ansteckend und erfrischend wie das Eiswasser, das er einer Anosognosie-Patientin ins Ohr gießt. Wenn die Frau daraufhin zum ersten Mal zugibt, daß ihr Arm gelähmt ist, blitzt für den Leser die immense Dimension des "Rätsels Gehirn" auf. Wenn das erotische Inferno im Phantomfuß entsteht, weil Füße und Geschlechtsteile in benachbarten Arealen auf der Hirnrinde kartiert sind und das Gehirn nach dem Verlust eines Gliedes eine Umkartierung des Körperbildes vornimmt, bedeutet dies offenbar, daß unser Körperbild nicht festgelegt ist. Aber was heißt das für Magersüchtige? Arthur, der seinen Vater mit einem Hochstapler verwechselt, hat eine Störung im Zugang zum limbischen System, dem Sitz der Gefühle. Er erkennt seine Eltern, aber sie lösen keine Wärme aus. Deshalb macht das Gehirn sie zu "Schwindlern". Gerade solche Notlösungen zeigen, wie eitel die Vorstellung von einem fest umrissenen Selbst ist. "Ich" ist ein Vehikel, um schneller zu entscheiden, zu kämpfen und sich zu paaren.
Je mehr sich unsere kühnsten Gedanken und tiefsten Empfindungen als Neuronenflackern erweisen, desto unaufhaltsamer löst sich Nelsons Gewißheit einer ewigen Seele in Nichts auf. Ramachandran kennt die westliche Anbetung des Individuums gut genug, um zu ermessen, welches Unbehagen dieser Gedanke auslöst. Zum Trost verweist er auf östliche Demut: "Wenn ich mich als Teil von Shivas großem kosmischen Tanz begreife", schreibt er, "dann muß ich meinen unausweichlichen Tod nicht mehr als Tragödie ansehen, sondern kann ihn als glückliche Vereinigung mit der Natur verstehen." Diesem Teil seines eindrucksvollen Werkes zu folgen dürfte deutschen Lesern allerdings schwerfallen.
SONJA ZEKRI
Vilayanur Ramachandran, Sandra Blakeslee: "Die blinde Frau, die sehen kann". Rätselhafte Phänomene unseres Bewußtseins. Mit einem Vorwort von Oliver Sacks. Aus dem Engl. von Hainer Kober. Rowohlt Verlag, Hamburg 2001. 511 S., geb., 48,- DM.
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