In vier kunstvoll miteinander verwobenen Episoden erzählt Méndez vom Grauen des Spanischen Bürgerkrieges. Für die republikanischen Spanier wurde er ein Kreuzweg, der Tausende in die Gefängnisse und vor die Gewehrläufe des Erschießungskommandos brachte. Méndez beschreibt vier exemplarische Niederlagen. Die Helden dieser Geschichten vereint das staunende Entsetzen über die Gewalt der Sieger, die ihnen, wie den Sonnenblumen das Licht, die Luft zum Atmen nimmt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.12.2005Spaniens lange Eiszeit
Alberto Méndez erzählt virtuos von den Opfern des Bürgerkriegs
Vom Krieg kann man mehr als nur den Tod erwarten. Ginge es nur um ihn, dürften die Kombattanten sich betrogen fühlen. Sie wären um das ideelle Ziel gebracht, das dem Schlachten erst seinen höheren Sinn gibt. Kein guter Krieg ohne guten Grund, dieser tröstlichen Formel meinte auch Hauptmann Carlos Alegría vertrauen zu können. Drei Jahre lang, vom Sommer 1936 bis zum Frühjahr 1939, kämpfte er auf seiten Francos, um dann, einen Tag nur vor dem endgültigem Triumph der eigenen Seite, vor den Geschlagenen zu kapitulieren. Eine absurde Tat, gewiß. Doch nur so, erklärt er später seinen Richtern, habe er den Skandal dieses Kriegs zur Sprache bringen können: daß es den Aufständischen nur scheinbar um den Sieg über die Volksfront ging. Tatsächlich, so Alegría, trieb sie etwas ganz anderes: "Wir wollten sie töten."
Hauptmann Alegrías Diagnose mochte zutreffen - in Teilen zumindest. Tatsächlich hielt der Vernichtungswille der Sieger auch nach dem Krieg noch an; die systematische Ermordung politischer Gegner gehörte zu den vornehmsten Bestandteilen der frankistischen Nachkriegspolitik. Bis zu 50 000 Menschen, schätzt man heute, ließ der Diktator in den ersten Nachkriegsjahren hinrichten; ungleich mehr hielt er in den Gefängnissen, bis zu einer halben Million trieb er zur Flucht. Dem Schicksal der Besiegten spürt der im vergangenen Jahr im Alter von 63 Jahren verstorbene Verleger Alberto Méndez in vier locker miteinander verbundenen Geschichten nach, Etüden der Niederlage, die, von so unterschiedlichen Schicksalen sie auch berichten, in einem doch ähnlich sind: Allesamt verweigern sie ihren Protagonisten die Rettung. Daß ihr Tod unausweichlich ist, deutet schon der Romantitel an. Wie "blinden Sonnenblumen" ergeht es auch den Verlierern des Bürgerkriegs, die, unter dem Druck der Verfolger unfähig zur Orientierung, außerstande sind, sich ihren Weg zu Leben und Freiheit zu bahnen.
Franco ließ gründliches Vernichtungswerk verrichten. Von vielen seiner Opfer blieben, wenn überhaupt, nichts als die sterblichen Überreste, über Jahrzehnte verscharrt in anonymen Massengräbern. Erst vor einigen Jahren entschloß man sich, sie zu öffnen, den Toten ihre Identität und Würde zurückzugeben - angesichts der spärlichen Hinterlassenschaften ein oft schwieriges, bisweilen auch unmögliches Unterfangen. Es ist darum mehr als nur eine erzähltechnische Raffinesse, wenn Méndez das Leben und Sterben seiner Protagonisten als literarischen Rekonstruktionsversuch inszeniert, ihre Geschichte auf Mutmaßungen und Indizien gründet, die, so die Hoffnung, der historischen Wirklichkeit möglichst nahekommen.
Nur weniges ist erhalten: Briefe, Tagebücher, verstreute Notizen, kaum hinreichend, die Vergangenheit restlos aufzuklären. Daß die Literatur die Wirrnisse des Bürgerkriegs allenfalls bruchstückhaft wiederzugeben vermag, weiß Méndez ebensogut wie viele andere Schriftsteller der Nachkriegsgeneration: Ob Manuel Rivas ("Der Bleistift des Zimmermanns"), Manuel de Lope ("Fremdes Blut") oder Javier Cercas ("Soldaten von Salamis"), alle präsentieren sie die Geschichte ihrer Protagonisten als mühsame Rekonstruktion.
Doch so unvollständig oder spekulativ diese Geschichten auch sein mögen, sie spiegeln doch den Triumph der Erinnerung über das Vergessen. In der Todeszelle schreibt Hauptmann Alegría einen Brief an General Franco, wohlwissend, daß der den Brief wohl niemals lesen wird. Dennoch: Franco müsse wissen, schreibt er seinem Bruder, "daß das, was ich gesehen habe, von anderen gelebt wurde und es nicht unter den Lilien vergessen werden darf". Erhalten, so will es der Erzähler, hat sich allein der Brief an den Bruder - der, der zurückhaltenden Ästhetik des Briefromans folgend, der Nachwelt auf zwar indirekte, dafür aber ungemein diskrete Weise Zeugnis von dem Mut und der Aufrichtigkeit manch eines Unterlegenen gibt.
Gelegenheit zur Bewährung findet dieser Großmut hinreichend. Denn am Ende des Bürgerkriegs schlägt die Stunde der Spitzel, Zuträger und Sadisten, der Mitläufer, Verräter, Denunzianten. Unter ihren Augen wird Spanien zu einem Land ohne Geheimnisse, und sollte es doch welche geben, dann sind sie bald gelüftet. Rettung läge allein im Rückzug, im Ausstieg aus aller Gemeinschaft. Ein junger Mann, vor Francos Häschern in eine einsame Berghütte in den Bergen Leóns geflohen, sucht, nachdem seine Frau auf der Flucht bereits gestorben ist, wenigstens das gemeinsame Kind zu retten. Der Vater der jungen Mutter wiederum, ein während des Bürgerkriegs in antifrankistischen Intellektuellenkreisen aktiver Lehrer, hält sich, unterstützt allein von seiner Frau, über Jahre in der eigenen Wohnung versteckt.
Nützen wird der Rückzug am Ende nicht: Den jungen Mann tötet die Kälte des Winters, den ehemaligen Aktivisten verrät ein Priester. Dem physischen Tod allerdings geht eine lange seelische Marter voraus, die Méndez in harter naturalistischer Sprache beschreibt. "Sterben", notiert der junge Mann, "ist nicht ansteckend. Die Niederlage schon. Und ich fühle mich als Überbringer dieser Epidemie." Hunger, Kälte, Einsamkeit bedrängen den in der winterlichen Bergwelt eingeschlossenen Mann und setzen ihn einem Druck aus, der für nichts anderes mehr Raum läßt als für die Fragen des unmittelbaren Überlebens.
Virtuos spiegelt sich dieser Kampf im - fiktiven - Tagebuch des in der winterlichen Bergwelt Eingeschlossenen. Im Laufe der Monate dokumentiert es eine fortschreitende Verengung der Perspektive, einen Tod auf Raten. Als erstes schwindet das sprachliche Vermögen seines Autors. Der vermag zuletzt nichts anderes mehr, als wieder und wieder den Namen des soeben verstorbenen Sohnes aufs Papier zu bannen.
Mendez' pseudodokumentarischer Erzählstil zeugt nicht nur vom Willen um historische Aufrichtigkeit; er verfolgt auch dramaturgische Zwecke. Die Aufzeichnungen der Protagonisten geben diesen nämlich nicht nur ihre über ein halbes Jahrhundert verschüttete Geschichte zurück, sondern treiben auch die Handlung voran. Am eindrucksvollsten zeigt sich dies in der letzten Geschichte, der des in seiner Wohnung versteckten Lehrers. Méndez inszeniert sie mit Hilfe von drei verschiedenen Stimmen: der des - damals noch sehr jungen - Sohns des Lehrers, des verräterischen Priesters und der eines nicht weiter genannten Zeitzeugen. Erst allmählich erkennt der Leser, daß er Einblick in Interessen und Perspektiven nimmt, deren absolute Unvereinbarkeit die Geschichte in Richtung ihres unglücklichen Endes drängt. Wenig paßte zueinander im Spanien der Nachkriegsjahre. Um so beachtlicher, wie kunstvoll Méndez die Stimmen zum großen Ganzen miteinander verbunden hat.
KERSTEN KNIPP
Alberto Méndez: "Die blinden Sonnenblumen". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Angelica Ammar. Verlag Antje Kunstmann, München 2005. 187 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alberto Méndez erzählt virtuos von den Opfern des Bürgerkriegs
Vom Krieg kann man mehr als nur den Tod erwarten. Ginge es nur um ihn, dürften die Kombattanten sich betrogen fühlen. Sie wären um das ideelle Ziel gebracht, das dem Schlachten erst seinen höheren Sinn gibt. Kein guter Krieg ohne guten Grund, dieser tröstlichen Formel meinte auch Hauptmann Carlos Alegría vertrauen zu können. Drei Jahre lang, vom Sommer 1936 bis zum Frühjahr 1939, kämpfte er auf seiten Francos, um dann, einen Tag nur vor dem endgültigem Triumph der eigenen Seite, vor den Geschlagenen zu kapitulieren. Eine absurde Tat, gewiß. Doch nur so, erklärt er später seinen Richtern, habe er den Skandal dieses Kriegs zur Sprache bringen können: daß es den Aufständischen nur scheinbar um den Sieg über die Volksfront ging. Tatsächlich, so Alegría, trieb sie etwas ganz anderes: "Wir wollten sie töten."
Hauptmann Alegrías Diagnose mochte zutreffen - in Teilen zumindest. Tatsächlich hielt der Vernichtungswille der Sieger auch nach dem Krieg noch an; die systematische Ermordung politischer Gegner gehörte zu den vornehmsten Bestandteilen der frankistischen Nachkriegspolitik. Bis zu 50 000 Menschen, schätzt man heute, ließ der Diktator in den ersten Nachkriegsjahren hinrichten; ungleich mehr hielt er in den Gefängnissen, bis zu einer halben Million trieb er zur Flucht. Dem Schicksal der Besiegten spürt der im vergangenen Jahr im Alter von 63 Jahren verstorbene Verleger Alberto Méndez in vier locker miteinander verbundenen Geschichten nach, Etüden der Niederlage, die, von so unterschiedlichen Schicksalen sie auch berichten, in einem doch ähnlich sind: Allesamt verweigern sie ihren Protagonisten die Rettung. Daß ihr Tod unausweichlich ist, deutet schon der Romantitel an. Wie "blinden Sonnenblumen" ergeht es auch den Verlierern des Bürgerkriegs, die, unter dem Druck der Verfolger unfähig zur Orientierung, außerstande sind, sich ihren Weg zu Leben und Freiheit zu bahnen.
Franco ließ gründliches Vernichtungswerk verrichten. Von vielen seiner Opfer blieben, wenn überhaupt, nichts als die sterblichen Überreste, über Jahrzehnte verscharrt in anonymen Massengräbern. Erst vor einigen Jahren entschloß man sich, sie zu öffnen, den Toten ihre Identität und Würde zurückzugeben - angesichts der spärlichen Hinterlassenschaften ein oft schwieriges, bisweilen auch unmögliches Unterfangen. Es ist darum mehr als nur eine erzähltechnische Raffinesse, wenn Méndez das Leben und Sterben seiner Protagonisten als literarischen Rekonstruktionsversuch inszeniert, ihre Geschichte auf Mutmaßungen und Indizien gründet, die, so die Hoffnung, der historischen Wirklichkeit möglichst nahekommen.
Nur weniges ist erhalten: Briefe, Tagebücher, verstreute Notizen, kaum hinreichend, die Vergangenheit restlos aufzuklären. Daß die Literatur die Wirrnisse des Bürgerkriegs allenfalls bruchstückhaft wiederzugeben vermag, weiß Méndez ebensogut wie viele andere Schriftsteller der Nachkriegsgeneration: Ob Manuel Rivas ("Der Bleistift des Zimmermanns"), Manuel de Lope ("Fremdes Blut") oder Javier Cercas ("Soldaten von Salamis"), alle präsentieren sie die Geschichte ihrer Protagonisten als mühsame Rekonstruktion.
Doch so unvollständig oder spekulativ diese Geschichten auch sein mögen, sie spiegeln doch den Triumph der Erinnerung über das Vergessen. In der Todeszelle schreibt Hauptmann Alegría einen Brief an General Franco, wohlwissend, daß der den Brief wohl niemals lesen wird. Dennoch: Franco müsse wissen, schreibt er seinem Bruder, "daß das, was ich gesehen habe, von anderen gelebt wurde und es nicht unter den Lilien vergessen werden darf". Erhalten, so will es der Erzähler, hat sich allein der Brief an den Bruder - der, der zurückhaltenden Ästhetik des Briefromans folgend, der Nachwelt auf zwar indirekte, dafür aber ungemein diskrete Weise Zeugnis von dem Mut und der Aufrichtigkeit manch eines Unterlegenen gibt.
Gelegenheit zur Bewährung findet dieser Großmut hinreichend. Denn am Ende des Bürgerkriegs schlägt die Stunde der Spitzel, Zuträger und Sadisten, der Mitläufer, Verräter, Denunzianten. Unter ihren Augen wird Spanien zu einem Land ohne Geheimnisse, und sollte es doch welche geben, dann sind sie bald gelüftet. Rettung läge allein im Rückzug, im Ausstieg aus aller Gemeinschaft. Ein junger Mann, vor Francos Häschern in eine einsame Berghütte in den Bergen Leóns geflohen, sucht, nachdem seine Frau auf der Flucht bereits gestorben ist, wenigstens das gemeinsame Kind zu retten. Der Vater der jungen Mutter wiederum, ein während des Bürgerkriegs in antifrankistischen Intellektuellenkreisen aktiver Lehrer, hält sich, unterstützt allein von seiner Frau, über Jahre in der eigenen Wohnung versteckt.
Nützen wird der Rückzug am Ende nicht: Den jungen Mann tötet die Kälte des Winters, den ehemaligen Aktivisten verrät ein Priester. Dem physischen Tod allerdings geht eine lange seelische Marter voraus, die Méndez in harter naturalistischer Sprache beschreibt. "Sterben", notiert der junge Mann, "ist nicht ansteckend. Die Niederlage schon. Und ich fühle mich als Überbringer dieser Epidemie." Hunger, Kälte, Einsamkeit bedrängen den in der winterlichen Bergwelt eingeschlossenen Mann und setzen ihn einem Druck aus, der für nichts anderes mehr Raum läßt als für die Fragen des unmittelbaren Überlebens.
Virtuos spiegelt sich dieser Kampf im - fiktiven - Tagebuch des in der winterlichen Bergwelt Eingeschlossenen. Im Laufe der Monate dokumentiert es eine fortschreitende Verengung der Perspektive, einen Tod auf Raten. Als erstes schwindet das sprachliche Vermögen seines Autors. Der vermag zuletzt nichts anderes mehr, als wieder und wieder den Namen des soeben verstorbenen Sohnes aufs Papier zu bannen.
Mendez' pseudodokumentarischer Erzählstil zeugt nicht nur vom Willen um historische Aufrichtigkeit; er verfolgt auch dramaturgische Zwecke. Die Aufzeichnungen der Protagonisten geben diesen nämlich nicht nur ihre über ein halbes Jahrhundert verschüttete Geschichte zurück, sondern treiben auch die Handlung voran. Am eindrucksvollsten zeigt sich dies in der letzten Geschichte, der des in seiner Wohnung versteckten Lehrers. Méndez inszeniert sie mit Hilfe von drei verschiedenen Stimmen: der des - damals noch sehr jungen - Sohns des Lehrers, des verräterischen Priesters und der eines nicht weiter genannten Zeitzeugen. Erst allmählich erkennt der Leser, daß er Einblick in Interessen und Perspektiven nimmt, deren absolute Unvereinbarkeit die Geschichte in Richtung ihres unglücklichen Endes drängt. Wenig paßte zueinander im Spanien der Nachkriegsjahre. Um so beachtlicher, wie kunstvoll Méndez die Stimmen zum großen Ganzen miteinander verbunden hat.
KERSTEN KNIPP
Alberto Méndez: "Die blinden Sonnenblumen". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Angelica Ammar. Verlag Antje Kunstmann, München 2005. 187 S., geb., 16,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Katharina Granzin zeigt sich von diesem Roman, der in den ersten Jahren der Franco-Ära spielt, sehr berührt und tief beeindruckt. Alberto Mendez, der im letzten Jahr wenige Monate nach dem Erscheinen seines späten Debütromans starb, gelang mit diesem Buch ein "Überraschungscoup" und wurde mit wichtigen Preisen geehrt, teilt die Rezensentin mit. Sie preist an diesem Roman vor allem, dass er "Dinge vorstellbar" macht, die undenkbar schrecklich sind, und die dennoch wegen ihrer poetischen Verdichtung noch "ästhetischen Genuss" vermitteln, wie sie schwärmt. Die "lakonische Präzision" der Sprache und die "Poesie des bewusst erlebten Augenblicks", die sich über die sämtlich in "Todesnähe" befindlichen Figuren der Episoden vermittelt, faszinieren die Rezensentin, die sich auch vom "virtuosen Umgang" des Autors mit den unterschiedlichen Reflexionsebenen sehr beeindruckt zeigt. Als eine der Haupt-Metaphern des Romans erkennt sie das "Lebendig-Begrabensein", so wie es dem Protagonisten der ersten Episode widerfährt, denn auch alle anderen Protagonisten bewegen sich in diesem Roman in geschlossenen Räumen, die ihre Freiheit einschränken, erklärt Granzin. Sie kann sich auch vorstellen, dass dieses Buch im Stande ist, endlich die "Trauerarbeit" einzuleiten, die für die Franco-Zeit in Spanien immer noch aussteht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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