Die Liebeslyrik wurde im Alten Ägypten entdeckt. Raoul Schrott, Kenner der Antike und antiker Sprachen, hat eine Auswahl aus den ägyptischen Quellen zusammengestellt und übersetzt. Die Gedichte der Liebe, die in der Epoche Ramses' des Großen entstanden, waren intim, erotisch ungezwungen und leidenschaftlich religiös. Schrott macht diese Texte endlich wieder zugänglich, in einer ebenso bildhaften wie kraftvollen Sprache. Die Liebesgedichte aus dem Alten Ägypten sind ein weiterer Schritt zu den Ursprüngen der Menschheit und ihrer Poesie.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.06.2010Ein Tag in meinem Bett
Raoul Schrott hat altägyptische Liebespoesie wunderbar nachgedichtet
Am meisten an diesem Buch traut man den Bildern. In einem edlen rötlichen Braun erblickt man das Paar, wie es auf gleicher Höhe nebeneinander sitzt, beide tragen einen breiten schmückenden Kragen und die Haare sorgsam gekräuselt, er mit einem linnenen Schurz, sie mit einem durchscheinenden Nichts von Schleier angetan; und man muss die große Kunst des alten Ägypten bewundern, einen Menschen zugleich frontal und im Profil abzubilden, ohne dass es hierbei zu picasso-haften Gewaltsamkeiten käme.
Breit und von vorn sieht man die Brust des Mannes, des Malers Maia, der sich an der Wand seiner Grabkammer möglicherweise selbst verewigt hat; aber von der Seite in freiem Schwung bietet sich die Brust seiner Gemahlin Deir el-Medinah dar. Mit Würde und Anmut zugleich sitzen sie da; in den strengen traditionellen Stil dieses Bildes hat, ohne ihm Abbruch zu tun, etwas Holdes Einzug gehalten.
Dies also kann der heutige Betrachter des Bildes mit eigenen Augen wahrnehmen, obwohl ihn dreitausendreihundert Jahre von der Entstehung trennen. Wie steht es aber mit den Gedichten, die als Inschrift auf der Vase der Deir el-Medinah stehen? Man liest: „ich möchte mich so gern vor deinen augen baden / um dir meine Schönheit zu zeigen / in einer tunika aus königlich feinstem leinen / das nach kampfer duftet – / die locken zu strähnen geflochten wie schilf / stiege ich vor dir in den nil / um mit einem goldroten fisch herauszukommen; / er wände sich in meinen fingern / ohne ihrem sanften griff wieder zu entschlüpfen: / ihn legte ich dir dann zu füßen / während dich der anblick meiner schönheit erfreut / du meine liebe, mein lotos . . . / bruder komm und schau: sieh mich an!“
Das ist ganz wunderbar. Der goldrote Fisch macht kein Hehl daraus, dass er ein phallisches Symbol ist; ebenso aber bedeutet er den Geliebten überhaupt und dazu das eigene klopfende Herz der Sprecherin. Denn hier kommt, was in der europäischen Liebesdichtung der nächsten Jahrtausende nur selten geschieht, die Frau zu Wort. Der Rhythmus ist frei, ohne je ins Haltlose zu verfallen, die Sprache schlicht und lebendig, trotz des hohen Alters des Originals einem Heutigen mühelos verständlich. Raoul Schrott, der viel Übung in diesen Dingen besitzt, hat ein Kunstwerk der Vergegenwärtigung geschaffen.
Und dennoch trennt den Leser, anders als den Betrachter des Bildes, ein dreifacher Abgrund von diesen Versen: die ungeheuer weit entfernte Zeit; die fremde Sprache; und jene Arbeit, die nun speziell Schrott auf sich genommen hat, um die vorhandenen wissenschaftlichen Editionen dem lyrischen Normalkonsumenten genießbar zu machen.
Man wünscht sich, dass Schrott diesen Arbeitsgang in seinem Nachwort etwas eingehender beschrieben hätte. Zuweilen sind dem Text sorgfältig kopierte ägyptische Schriftzeichen beigegeben, der ganze Zoo aus Vögeln und Göttern und Strichmännchen; und man fragt sich, was wirklich geschehen musste, bis diese Rätselbilder den Weg ins Deutsch der Gegenwart gefunden haben.
Getrost darf man annehmen, dass Schrott das Altägyptische nicht eigentlich beherrscht, so wenig er die verschiedenen orientalischen Sprachen beherrschte, aus denen er vor einigen Jahren den Gilgamesh übertragen hat. Er musste sich auf die Fachleute verlassen, die ihm vorgearbeitet haben; und diese Vorarbeiten, die sich der Treue zum Vergangenen verpflichtet wissen, hat er kühn ins Heute gewendet.
Gern würde man dieser Kühnheit das Maß nehmen können, um sicherzustellen, dass sie nicht das Leichtfertige streift. So aber liest man die schönen Verse immer mit einem leicht verstimmenden Vorbehalt: ob der Herausgeber mit dem Material nicht vielleicht doch zu selbstherrlich geschaltet hat und dem Vergangenen allzu große Opfer zumutet, um seinen Zeitgenossen gefällig zu sein. Das freilich würde auch der Zeitgenosse ihm nicht wirklich danken: Der nämlich will, wenn ihm ausdrücklich altägyptische Literatur empfohlen wird, ja nicht nur die Nähe dessen haben, was ihm direkt zu Herzen geht, sondern auch die ihn kaum weniger berührende Empfindung, dass es etwas sehr Fernes ist, dem er hier nahe tritt.
Es mag ungewöhnlich sein, eine Rezension mit einer Bitte zu schließen. Hier sei es trotzdem getan: Herr Schrott, wenn dieses Buch, was ihm sehr zu wünschen wäre, weitere Auflagen erlebt, dann fügen Sie doch noch drei, vier Seiten hinzu, die den weiten Weg ausleuchten, der von einer Hieroglyphenkette zu spätneuhochdeutschen Versen wie diesen führt: „willst du jetzt etwa aufstehen und bier trinken gehen / wo ich dir meine brüste darbiete? / Sie geben dir was du brauchst: ein tag in meinem bett / macht reicher als zehntausend felder!“
BURKHARD MÜLLER
DIE BLÜTE DES NACKTEN KÖRPERS. Liebesgedichte aus dem Alten Ägypten. Übertragen, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Raoul Schrott. Carl Hanser Verlag, München 2010. 96 Seiten, 16,90 Euro .
„Schau mich an!“ Der Pharao und seine Gattin – Tutanchmun und Anchesenamun auf einer Darstellung aus dem Grab des Tutenchamun im Tal der Könige, 15. Jahrhundert v. Chr. Abb.: Interfoto
Raoul Schrott Foto:D. Ausserhofer/Intro
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Raoul Schrott hat altägyptische Liebespoesie wunderbar nachgedichtet
Am meisten an diesem Buch traut man den Bildern. In einem edlen rötlichen Braun erblickt man das Paar, wie es auf gleicher Höhe nebeneinander sitzt, beide tragen einen breiten schmückenden Kragen und die Haare sorgsam gekräuselt, er mit einem linnenen Schurz, sie mit einem durchscheinenden Nichts von Schleier angetan; und man muss die große Kunst des alten Ägypten bewundern, einen Menschen zugleich frontal und im Profil abzubilden, ohne dass es hierbei zu picasso-haften Gewaltsamkeiten käme.
Breit und von vorn sieht man die Brust des Mannes, des Malers Maia, der sich an der Wand seiner Grabkammer möglicherweise selbst verewigt hat; aber von der Seite in freiem Schwung bietet sich die Brust seiner Gemahlin Deir el-Medinah dar. Mit Würde und Anmut zugleich sitzen sie da; in den strengen traditionellen Stil dieses Bildes hat, ohne ihm Abbruch zu tun, etwas Holdes Einzug gehalten.
Dies also kann der heutige Betrachter des Bildes mit eigenen Augen wahrnehmen, obwohl ihn dreitausendreihundert Jahre von der Entstehung trennen. Wie steht es aber mit den Gedichten, die als Inschrift auf der Vase der Deir el-Medinah stehen? Man liest: „ich möchte mich so gern vor deinen augen baden / um dir meine Schönheit zu zeigen / in einer tunika aus königlich feinstem leinen / das nach kampfer duftet – / die locken zu strähnen geflochten wie schilf / stiege ich vor dir in den nil / um mit einem goldroten fisch herauszukommen; / er wände sich in meinen fingern / ohne ihrem sanften griff wieder zu entschlüpfen: / ihn legte ich dir dann zu füßen / während dich der anblick meiner schönheit erfreut / du meine liebe, mein lotos . . . / bruder komm und schau: sieh mich an!“
Das ist ganz wunderbar. Der goldrote Fisch macht kein Hehl daraus, dass er ein phallisches Symbol ist; ebenso aber bedeutet er den Geliebten überhaupt und dazu das eigene klopfende Herz der Sprecherin. Denn hier kommt, was in der europäischen Liebesdichtung der nächsten Jahrtausende nur selten geschieht, die Frau zu Wort. Der Rhythmus ist frei, ohne je ins Haltlose zu verfallen, die Sprache schlicht und lebendig, trotz des hohen Alters des Originals einem Heutigen mühelos verständlich. Raoul Schrott, der viel Übung in diesen Dingen besitzt, hat ein Kunstwerk der Vergegenwärtigung geschaffen.
Und dennoch trennt den Leser, anders als den Betrachter des Bildes, ein dreifacher Abgrund von diesen Versen: die ungeheuer weit entfernte Zeit; die fremde Sprache; und jene Arbeit, die nun speziell Schrott auf sich genommen hat, um die vorhandenen wissenschaftlichen Editionen dem lyrischen Normalkonsumenten genießbar zu machen.
Man wünscht sich, dass Schrott diesen Arbeitsgang in seinem Nachwort etwas eingehender beschrieben hätte. Zuweilen sind dem Text sorgfältig kopierte ägyptische Schriftzeichen beigegeben, der ganze Zoo aus Vögeln und Göttern und Strichmännchen; und man fragt sich, was wirklich geschehen musste, bis diese Rätselbilder den Weg ins Deutsch der Gegenwart gefunden haben.
Getrost darf man annehmen, dass Schrott das Altägyptische nicht eigentlich beherrscht, so wenig er die verschiedenen orientalischen Sprachen beherrschte, aus denen er vor einigen Jahren den Gilgamesh übertragen hat. Er musste sich auf die Fachleute verlassen, die ihm vorgearbeitet haben; und diese Vorarbeiten, die sich der Treue zum Vergangenen verpflichtet wissen, hat er kühn ins Heute gewendet.
Gern würde man dieser Kühnheit das Maß nehmen können, um sicherzustellen, dass sie nicht das Leichtfertige streift. So aber liest man die schönen Verse immer mit einem leicht verstimmenden Vorbehalt: ob der Herausgeber mit dem Material nicht vielleicht doch zu selbstherrlich geschaltet hat und dem Vergangenen allzu große Opfer zumutet, um seinen Zeitgenossen gefällig zu sein. Das freilich würde auch der Zeitgenosse ihm nicht wirklich danken: Der nämlich will, wenn ihm ausdrücklich altägyptische Literatur empfohlen wird, ja nicht nur die Nähe dessen haben, was ihm direkt zu Herzen geht, sondern auch die ihn kaum weniger berührende Empfindung, dass es etwas sehr Fernes ist, dem er hier nahe tritt.
Es mag ungewöhnlich sein, eine Rezension mit einer Bitte zu schließen. Hier sei es trotzdem getan: Herr Schrott, wenn dieses Buch, was ihm sehr zu wünschen wäre, weitere Auflagen erlebt, dann fügen Sie doch noch drei, vier Seiten hinzu, die den weiten Weg ausleuchten, der von einer Hieroglyphenkette zu spätneuhochdeutschen Versen wie diesen führt: „willst du jetzt etwa aufstehen und bier trinken gehen / wo ich dir meine brüste darbiete? / Sie geben dir was du brauchst: ein tag in meinem bett / macht reicher als zehntausend felder!“
BURKHARD MÜLLER
DIE BLÜTE DES NACKTEN KÖRPERS. Liebesgedichte aus dem Alten Ägypten. Übertragen, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Raoul Schrott. Carl Hanser Verlag, München 2010. 96 Seiten, 16,90 Euro .
„Schau mich an!“ Der Pharao und seine Gattin – Tutanchmun und Anchesenamun auf einer Darstellung aus dem Grab des Tutenchamun im Tal der Könige, 15. Jahrhundert v. Chr. Abb.: Interfoto
Raoul Schrott Foto:D. Ausserhofer/Intro
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.10.2010Lauter schöne alte Steine im Baukasten der Liebesrhetorik
Nach der "Ilias" und dem "Gilgamesch"-Epos nähert Raoul Schrott sich der Dichtung einer weiteren antiken Hochkultur: Die "Liebesgedichte aus dem Alten Ägypten" will er dem modernen Geschmack nahebringen.
Ausdruckslos, rätselhaft, streng: So muten den heutigen Blick altägyptische Kunstwerke an. Sicher, eine bewunderte Hochkultur, aber fern und unnahbar - so der Eindruck. Dann liest man Verse wie diesen: "willst du jetzt etwa aufstehen und bier trinken gehen / wo ich dir meine brüste darbiete? / sie geben dir was du brauchst: ein tag in meinem bett / macht reicher als zehntausend felder!" Der Vorwurf der jungen Frau in Papyrus Harris I wirkt eigenartig vertraut . . . Tatsächlich geht es dem Leser des Öfteren so bei der Lektüre der Liebesgedichte aus dem Neuen Reich, die Raoul Schrott in Übersetzung vorlegt. Nach der "Ilias" und dem "Gilgamesch"-Epos nähert Schrott sich der Dichtung einer weiteren antiken Hochkultur und sucht, sie dem modernen Geschmack nahezubringen.
In "Die Blüte des nackten Körpers" wird das mal furiose, mal zärtliche Wechselspiel zwischen "Bruder" und "Schwester" (so die konventionellen Namen Liebender) dargeboten, zum Beispiel mittels einer Vogeljagd: "und der erste der den köder schnappte / roch wie der weihrauch aus punt / seine flügel gesalbt, balsam an den füßen. / die kehle jedoch befrei ich ihm erst / sobald du bei mir bist und wir ganz allein - / und einen lockruf wirst du dann hören / einen gesang für diesen geweihten vogel." (Papyrus Harris II). Die Jagd ist hier Anlass zur Begegnung, das Paar verpasst allerdings die Gelegenheit, gemeinsam "unter der Matte" zu stecken; sie bedauert es. Dann wendet das "Unterhaltungslied" die Jagd von der Metonymie zur Metapher: Der Vogel hat Eigenschaften einer Frau, die Geliebte versteht, dass sie selbst die Beute ist: "auch ich werd mich auf deine liebe stürzen / und fangen lassen, flügel gestutzt, allein: / mein herz an das deine gebunden / entkomm ich deiner schönheit nicht mehr." Das Herz ist eine Knäkente.
Jagen ist ein Freizeitvergnügen und wird in diesen Gedichten primär als Bildspender verwendet - die Natur kommt nicht als Raum der Feldarbeit, sondern als Topos vor: die Wildnis als Ort der Jagd, der Garten als Ort der Liebesbegegnung. Besonders reich stattet der Papyrus Turin die gezähmte Natur aus, Granatapfelbaum und Maulbeerfeige sind mürrische (weil vernachlässigte) Zeugen einer Liebschaft: "sie kommt bloß zu mir um sich zu amüsieren - / ich aber krieg nichts, keinen einzigen schluck!" Häufiger noch wird das Haus des oder der Geliebten erwähnt: Diese erste Liebeslyrik der Weltliteratur ist ein urbanes Phänomen und verfasst für eine bestimmte soziale Gruppe, die wohlhabende Oberschicht.
Wie die Jagd so liefert auch das Haus Steine zum Baukasten der Liebesrhetorik: "der palast meiner schwester: der einlass zu ihr / der findet sich im schoß ihres hofes / wo die schmalen türflügel sich spreizen / das tor sperrangelweit offen / der riegel nach oben geschoben / und sie selbst darüber vollkommen außer sich! / ah - wär ich doch der türsteher dort!" Kaum verschlüsselt malt sich der Liebende den weiblichen Körper in leidenschaftlicher Glut aus. Subtiler ist die Erwähnung des Liebeswerbens, die sich im Vergleich verbirgt: Brauch war, dass der junge Mann bei der Mutter der Zukünftigen um ihre Hand anhielt; bei Annahme kam er ins Haus der Geliebten, um sie als Gattin zu empfangen. Sie blieb noch eine Zeit im elterlichen Haus und zog schließlich unter das Dach des Ehemannes, ein Schritt, der den Vollzug der Ehe bedeutete. Das Liebeswerben spielt sich also zwischen zwei Häusern ab, das Übertreten einer Schwelle markiert den Etappenerfolg - ein Misslingen wird durch den Topos der verschlossenen Tür symbolisiert. Auch der Mann kann aufgesucht werden, wie im Wechselgesang des Papyrus Chester Beatty I: "frech spazierte ich einfach an seinem Haus vorbei / die tür in der umfriedung war offen / und da saß mein liebster an der seite seiner mutter / umringt von der ganzen familie." Diese kecke weibliche Initiative ist aber die Ausnahme.
Die Einbindung in ein offizielles Liebeswerben legt es nahe: In der altägyptischen Liebeslyrik bricht sich keineswegs anarchische Zärtlichkeit Bahn. Dass es sich vor allem um "den nuancierten Ausdruck subjektiven Gefühlslebens handelt", wie Schrott vorschlägt, der die Gedichte für "individueller" als die Sapphos hält, ist zweifelhaft: Mit spürbarer Strenge regeln soziale Normen die Intimität. Die Vortragsweise betonte das Gesellige: Die wenigen Quellen legen nahe, dass Sängerinnen etwa aus der Schule von Memphis die Rollen übernahmen, begleitet von Musik und eventuell Tanz. Die Gedichte wurden nicht im Tête-à-tête gelesen, sondern dramatisch aufgeführt - in aller Öffentlichkeit; der Rollencharakter zeigt sich bereits daran, dass Frauen den Männerpart übernahmen. Dass man sich wiederum ein "frühes Cabaret" vorstellen muss, wie Schrott suggeriert, scheint abermals zu weit gegangen.
Schrotts Übertragung ist keine philologische: Er übersetzt Übersetzungen, die von Bernard Mathieu ist seine Basis; dabei fühlt er sich zuvörderst literarischer Kohärenz und Lesbarkeit verpflichtet. Tatsächlich legt Schrott stimmige, zärtliche bis sinnliche Gedichte vor, die sehr schön illustriert sind; sein Anliegen einer aktualisierenden literarischen Übersetzung ist legitim. Dennoch, ob so vieler Vermittlungsstufen wird es dem Leser blümerant: Schon das Original ist vieldeutig, die Übertragungen lassen das Bedeutungsspektrum vollends ausufern. Ein Beispiel: Den titelgebenden Vers der Deir el-Medinah Vase II übersetzt Mathieu recht prosaisch mit "les charmes de son corps", also "die Reize ihres Körpers", Emanuele Ciampini mit "la fragranza di tutto il suo corpo", "der Duft ihres ganzen Körpers" - bei Schrott wird "die Blüte des nackten Körpers" draus, eine Freiheit des Übersetzers, der die Blüten- und Fruchtmotive der vorhergehenden Verse zur üppigen Metapher züchtet. Weit mehr als üblich handelt es sich um eine Nach-, um eine Neudichtung: Wenn dem Leser das recht ist, dann wird er viel Vergnügen an Schrotts Version altägyptischer Liebeslyrik haben.
NIKLAS BENDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach der "Ilias" und dem "Gilgamesch"-Epos nähert Raoul Schrott sich der Dichtung einer weiteren antiken Hochkultur: Die "Liebesgedichte aus dem Alten Ägypten" will er dem modernen Geschmack nahebringen.
Ausdruckslos, rätselhaft, streng: So muten den heutigen Blick altägyptische Kunstwerke an. Sicher, eine bewunderte Hochkultur, aber fern und unnahbar - so der Eindruck. Dann liest man Verse wie diesen: "willst du jetzt etwa aufstehen und bier trinken gehen / wo ich dir meine brüste darbiete? / sie geben dir was du brauchst: ein tag in meinem bett / macht reicher als zehntausend felder!" Der Vorwurf der jungen Frau in Papyrus Harris I wirkt eigenartig vertraut . . . Tatsächlich geht es dem Leser des Öfteren so bei der Lektüre der Liebesgedichte aus dem Neuen Reich, die Raoul Schrott in Übersetzung vorlegt. Nach der "Ilias" und dem "Gilgamesch"-Epos nähert Schrott sich der Dichtung einer weiteren antiken Hochkultur und sucht, sie dem modernen Geschmack nahezubringen.
In "Die Blüte des nackten Körpers" wird das mal furiose, mal zärtliche Wechselspiel zwischen "Bruder" und "Schwester" (so die konventionellen Namen Liebender) dargeboten, zum Beispiel mittels einer Vogeljagd: "und der erste der den köder schnappte / roch wie der weihrauch aus punt / seine flügel gesalbt, balsam an den füßen. / die kehle jedoch befrei ich ihm erst / sobald du bei mir bist und wir ganz allein - / und einen lockruf wirst du dann hören / einen gesang für diesen geweihten vogel." (Papyrus Harris II). Die Jagd ist hier Anlass zur Begegnung, das Paar verpasst allerdings die Gelegenheit, gemeinsam "unter der Matte" zu stecken; sie bedauert es. Dann wendet das "Unterhaltungslied" die Jagd von der Metonymie zur Metapher: Der Vogel hat Eigenschaften einer Frau, die Geliebte versteht, dass sie selbst die Beute ist: "auch ich werd mich auf deine liebe stürzen / und fangen lassen, flügel gestutzt, allein: / mein herz an das deine gebunden / entkomm ich deiner schönheit nicht mehr." Das Herz ist eine Knäkente.
Jagen ist ein Freizeitvergnügen und wird in diesen Gedichten primär als Bildspender verwendet - die Natur kommt nicht als Raum der Feldarbeit, sondern als Topos vor: die Wildnis als Ort der Jagd, der Garten als Ort der Liebesbegegnung. Besonders reich stattet der Papyrus Turin die gezähmte Natur aus, Granatapfelbaum und Maulbeerfeige sind mürrische (weil vernachlässigte) Zeugen einer Liebschaft: "sie kommt bloß zu mir um sich zu amüsieren - / ich aber krieg nichts, keinen einzigen schluck!" Häufiger noch wird das Haus des oder der Geliebten erwähnt: Diese erste Liebeslyrik der Weltliteratur ist ein urbanes Phänomen und verfasst für eine bestimmte soziale Gruppe, die wohlhabende Oberschicht.
Wie die Jagd so liefert auch das Haus Steine zum Baukasten der Liebesrhetorik: "der palast meiner schwester: der einlass zu ihr / der findet sich im schoß ihres hofes / wo die schmalen türflügel sich spreizen / das tor sperrangelweit offen / der riegel nach oben geschoben / und sie selbst darüber vollkommen außer sich! / ah - wär ich doch der türsteher dort!" Kaum verschlüsselt malt sich der Liebende den weiblichen Körper in leidenschaftlicher Glut aus. Subtiler ist die Erwähnung des Liebeswerbens, die sich im Vergleich verbirgt: Brauch war, dass der junge Mann bei der Mutter der Zukünftigen um ihre Hand anhielt; bei Annahme kam er ins Haus der Geliebten, um sie als Gattin zu empfangen. Sie blieb noch eine Zeit im elterlichen Haus und zog schließlich unter das Dach des Ehemannes, ein Schritt, der den Vollzug der Ehe bedeutete. Das Liebeswerben spielt sich also zwischen zwei Häusern ab, das Übertreten einer Schwelle markiert den Etappenerfolg - ein Misslingen wird durch den Topos der verschlossenen Tür symbolisiert. Auch der Mann kann aufgesucht werden, wie im Wechselgesang des Papyrus Chester Beatty I: "frech spazierte ich einfach an seinem Haus vorbei / die tür in der umfriedung war offen / und da saß mein liebster an der seite seiner mutter / umringt von der ganzen familie." Diese kecke weibliche Initiative ist aber die Ausnahme.
Die Einbindung in ein offizielles Liebeswerben legt es nahe: In der altägyptischen Liebeslyrik bricht sich keineswegs anarchische Zärtlichkeit Bahn. Dass es sich vor allem um "den nuancierten Ausdruck subjektiven Gefühlslebens handelt", wie Schrott vorschlägt, der die Gedichte für "individueller" als die Sapphos hält, ist zweifelhaft: Mit spürbarer Strenge regeln soziale Normen die Intimität. Die Vortragsweise betonte das Gesellige: Die wenigen Quellen legen nahe, dass Sängerinnen etwa aus der Schule von Memphis die Rollen übernahmen, begleitet von Musik und eventuell Tanz. Die Gedichte wurden nicht im Tête-à-tête gelesen, sondern dramatisch aufgeführt - in aller Öffentlichkeit; der Rollencharakter zeigt sich bereits daran, dass Frauen den Männerpart übernahmen. Dass man sich wiederum ein "frühes Cabaret" vorstellen muss, wie Schrott suggeriert, scheint abermals zu weit gegangen.
Schrotts Übertragung ist keine philologische: Er übersetzt Übersetzungen, die von Bernard Mathieu ist seine Basis; dabei fühlt er sich zuvörderst literarischer Kohärenz und Lesbarkeit verpflichtet. Tatsächlich legt Schrott stimmige, zärtliche bis sinnliche Gedichte vor, die sehr schön illustriert sind; sein Anliegen einer aktualisierenden literarischen Übersetzung ist legitim. Dennoch, ob so vieler Vermittlungsstufen wird es dem Leser blümerant: Schon das Original ist vieldeutig, die Übertragungen lassen das Bedeutungsspektrum vollends ausufern. Ein Beispiel: Den titelgebenden Vers der Deir el-Medinah Vase II übersetzt Mathieu recht prosaisch mit "les charmes de son corps", also "die Reize ihres Körpers", Emanuele Ciampini mit "la fragranza di tutto il suo corpo", "der Duft ihres ganzen Körpers" - bei Schrott wird "die Blüte des nackten Körpers" draus, eine Freiheit des Übersetzers, der die Blüten- und Fruchtmotive der vorhergehenden Verse zur üppigen Metapher züchtet. Weit mehr als üblich handelt es sich um eine Nach-, um eine Neudichtung: Wenn dem Leser das recht ist, dann wird er viel Vergnügen an Schrotts Version altägyptischer Liebeslyrik haben.
NIKLAS BENDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Burkhard Müller kann sich trotz der eingestandenen Schönheit der von Raoul Schrott übertragenen und kommentierten altägyptischen Liebeslyrik eines Unbehagens und Misstrauens nicht erwehren. Der Rezensent preist zwar die deutsche Fassung der Gedichte als ein "Kunstwerk der Vergegenwärtigung", die auch heute noch, nach Jahrtausenden, "mühelos verständlich" seien. Doch hätte er schon gern gewusst, wie viel dieser Verse dem heutigen Ohr "selbstherrlich", wenn nicht gar leichtfertig, nähergerückt wurde. Und so bittet er am Ende seiner Kritik Schrott nachdrücklich, die Voraussetzung und Methoden dieser Übertragungen darzulegen - dass der Autor des Altägyptischen nicht mächtig ist und sich also auf die Vorarbeit berufener Forscher stützt, setzt Müller dabei voraus -, um die Zweifel an diesen ohne Frage berückenden Gedichten zu beschwichtigen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein Werk, das sich auf den ersten Anhieb wunderschön, d.h. frisch, schlicht, kraftvoll und sinnlich liest." Jan Assmann
"Raoul Schrott hat altägyptische Liebespoesie wunderbar nachgedichtet." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 01.06.2010
"Raoul Schrott hat altägyptische Liebespoesie wunderbar nachgedichtet." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 01.06.2010