Schon nach wenigen Sätzen war ich gefangen von der Geschichte rund um Miss Jean Brodie, diese so charismatische wie manipulative Lehrerin, und ihre Lieblingsschülerinnen. Muriel Spark spricht in diesem dünnen Bändchen eine erstaunliche Vielzahl an Themen an: Erziehung und die Rolle von
Autoritätspersonen im Leben ihrer Schützlinge, Gruppendynamik und Individualität, Vorbestimmung und freier Wille,…mehrSchon nach wenigen Sätzen war ich gefangen von der Geschichte rund um Miss Jean Brodie, diese so charismatische wie manipulative Lehrerin, und ihre Lieblingsschülerinnen. Muriel Spark spricht in diesem dünnen Bändchen eine erstaunliche Vielzahl an Themen an: Erziehung und die Rolle von Autoritätspersonen im Leben ihrer Schützlinge, Gruppendynamik und Individualität, Vorbestimmung und freier Wille, Instinkt und rationale Einsicht, Sexualität, Religion, Faschismus...
Das liest sich erstaunlich unterhaltsam, mit einem großartigen Humor, und dennoch ertappt man sich Stunden, nachdem man das Buch zugeklappt hat, noch dabei, wie man darüber nachgrübelt.
Miss Jean Brodie ist eine unkonventionelle Lehrerin, die sich mit selbstverständlicher Missachtung über die vorgeschriebenen Lehrpläne hinwegsetzt. Wenn eigentlich Geschichte oder Grammatik an der Reihe wären, erzählt sie stattdessen von ihrem glamourösem Leben - ihren Reisen, ihrer tragischen großen Liebe und immer wieder von der Bedeutung ihrer persönlichen "Blütezeit", die sie für ihre Schülerinnen opfert. Ich habe schon erwähnt, dass sie eine charismatische Frau ist, die das aber auch einsetzt, um Menschen zu manipulieren: Sie wählt sich ganz bewusst Schülerinnen heraus, die ihr würdig erscheinen, und beginnt damit, sie nach ihrem Vorbild zu formen. Einerseits erweitert sie mit ihren außergewöhnlichen, manchmal sogar radikalen Ideen sicher den Horizont ihrer Mädchen, anderseits erwartet sie von ihnen, diesen dann direkt wieder einzuschränken - denn Miss Brodies' grundlegendste Eigenschaft ist vielleicht ihre Ich-Bezogenheit. Ob bewusst oder unbewusst, in ihrer kleinen Welt ist sie selbst das Maß und Zentrum aller Dinge, und sie erwartet ständige Bewunderung und Bestätigung, sowie bedingungslose Loyalität. Der Verdacht drängt sich auf, dass Miss Brodies' angeblich so schillerndes Leben in Wirklichkeit doch nur ein ganz gewöhnliches, vielleicht sogar armseliges ist... Ihr Verhalten ist oft extrem übergriffig und für das Alter ihrer Schülerinnen vollkommen unangemessen.
Es würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, würde ich auf jedes Brodie-Mädchen einzeln eingehen, deswegen möchte ich nur Sandy und Mary erwähnen:
Es wird immer wieder erwähnt, dass Sandy außergewöhnlich kleine Augen hat, und dennoch ist sie wahrscheinlich diejenige mit der klarsten Einsicht in die Gruppendynamik der Auserwählten von Miss Brodie - was allerdings nicht heißt, dass es ihr leichtfällt, sich dem zu widersetzen! Sie versteht instinktiv, dass Miss Brodie die einfältige, ungeschickte Mary ganz bewusst zum Sündenbock macht, um der Gruppe sozusagen ein Ventil für ihre Frustrationen und Zweifel zu geben, das sie beliebig steuern kann. An einer Stelle setzt sie Miss Brodies' Instrumentalisierung von Gruppenzwang und Feindbildern gleich mit der Art von Dynamik, mit der charismatische Despoten wie Mussolini ihre Anhänger an sich binden.
Traurigerweise kann sich sogar die immer wieder erniedrigte und gescholtene Mary nicht von Miss Brodies Einfluss lösen sondern denkt Jahre später noch darüber nach, dass die Zeit mit Miss Brodie die schönste ihres Lebens war. Überhaupt hatte ich das Gefühl, dass die Mädchen alle auf irgendeine Art in ihrer emotionalen Entwicklung verkrüppelt wurden durch Miss Brodies' Einfluss.
Den Schreibstil fand ich ganz wunderbar, mit zarten Formulierungen und genau der richtigen Mischung aus Ernsthaftigkeit und Humor. Jedem, dem es möglich ist, würde ich unbedingt das englische Original empfehlen, denn in der deutschen Übersetzung geht ein klein wenig des sprachlichen Zaubers verloren. Womit ich nicht sagen will, dass es eine schlechte Übersetzung ist! Peter Naujack ist sicher ein großartiger Übersetzer klassischer Werke, aber ich stimme dem Autor Miguel de Cervantes zu: »Das Lesen einer Übersetzung entspricht der Untersuchung der Rückseite eines Gobelins«.