Produktdetails
- Verlag: Insel
- ISBN-13: 9783735101761
- Artikelnr.: 24637410
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2019Veteranen der Lust
Simon Werle übersetzt Baudelaires "Spleen"
Charles Baudelaire ist ein Autor, den man in Happen und Häppchen lesen muss, so dicht und vielschichtig sind seine Texte. Auch zur Bett- oder Urlaubslektüre taugt er kaum - zu groß ist die Ehrfurcht vor seinen Gedichten in Reimen und Prosa. Dass er ein Dichter für Dichter ist, den Walter Benjamin übersetzte und auf dessen Literatur und Fortschrittskritik sich auch noch Michel Houellebecq beruft, macht die Berührungsängste nicht geringer. Baudelaires 150. Todestag vor zwei Jahre zeigte, wie einflussreich, modern und aktuell er noch immer ist. Doch die Beschäftigung der Literaturkritik mit seinem Werk hat seit Georges Poulet, Roland Barthes, Claude Pichois keine spektakulären Essays hervorgebracht.
Hierzulande allerdings gab es 2017 ein Großereignis zu feiern: "Die Blumen des Bösen" erschienen in einer hymnisch gelobten Neuübersetzung von Simon Werle. Seither wartete man auf die Fortsetzung, den Band "Der Spleen von Paris", der ein noch größeres Ereignis darstellt: Er enthält zahlreiche bislang nie übersetzte Texte. "In dem Maße, wie Baudelaires Nachruhm wuchs, publizierten Schulfreunde, frühe Wegbegleiter, Autorenkollegen und Korrespondenzpartner in den Jahrzehnten nach seinem Tod in Zeitschriften, Tagungsberichten oder Erinnerungsbüchern bislang unbekannte Verse", schreibt Simon Werle in seinem Nachwort. Sie wurden "zusammen mit den ersten Funden der einsetzenden akademischen Forschung 1939 erstmals als eigenständige Abteilung des Werks publiziert".
Für seine abenteuerliche Editionsgeschichte war der Dichter und Dandy Baudelaire, der mit Pseudonymen und Plagiaten einen lotterhaften Umgang trieb, selbst verantwortlich. In vielen der jetzt erstmals deutsch gedruckten Gedichte macht Werle "bereits das Aroma der künftigen ,Fleurs du Mal'" aus. Für Baudelaires "Entwicklungsweg, der mit erstaunlicher Geschwindigkeit erfolgte", sind sie unerlässlich. Doch mit jedem Recht verweist Simon Werle darauf, dass sie "weit mehr als nur literarisches Interesse" beanspruchen können. Für den verblüfften Leser der "verdeutschten Gedichte" wurzelt dieser Befund in allererster Linie in der Übersetzung.
Zweisprachige Klassikerausgaben sind in aller Regel nicht besonders leserfreundlich. Ihnen haftet etwas Pedantisch-Akademisches an. Man liest ja doch meistens nur die linke oder rechte Seite und ertappt sich allenfalls beim Überprüfen. Und vielleicht will der Übersetzer ja auch nur beweisen, dass er die Sprache, aus der er überträgt, perfekt beherrscht.
"Vernommen hab von draußen ich soeben": Simon Werle fesselt und fasziniert den Leser von den ersten Seiten, ja Zeilen an mit der Freiheit seiner Sprache. Der Ton, der Rhythmus, die Bilder sind ihm wichtiger als einzelne Worte. Er scheut sich nicht, bei drei französischen Elementen, die eine Strophe bilden, im Deutschen ein viertes einzuführen. Genauso virtuos wie die Jugendgedichte überträgt er die Prosa des "Spleen von Paris". Aus den "vétérans de la joie" (Freude) macht er "Veteranen der Lust", was in der Gegenrichtung jeder Übersetzer auf "plaisir" zurückführen würde. Auf Französisch ist die Tristesse "kalt" (froide) - Werle präzisiert sie mit dem zusätzlichen Attribut "sarkastisch". Und genauso selbst- wie sprachbewusst erdreistet er sich, "les arrérages de leurs gages" zum banalen "ausstehenden Salär" zu verdeutschen.
Es ist die reine Lust und eine permanente Überraschung, Simon Werles Baudelaire zu lesen. Man springt zwischen den Seiten hin und her und liest ein deutsch-französisches Werk, in dem jede Sprache die andere ergänzt. Eine neue Gattung scheint zu entstehen - aber keineswegs auf Kosten eines Klassikers, dem ein selbstverliebter Nachdichter den Meister zeigen möchte. Werle stellt sich mit geballter schöpferischer Kraft in den Dienst Baudelaires, dessen Blumen auf Deutsch anders aufblühen als im Französischen. Er emanzipiert sich vom Original, um ihm gerecht zu werden. Wünschen darf man sich von beiden Bänden eine handliche Taschenbuchausgabe, die es erleichtern würde, Baudelaire im Bett zu lesen. Die "Fleurs du Mal" wurden mit dem Eugen-Helmlé-Preis für Übersetzungen ausgezeichnet. Werles "Spleen von Paris" müsste man einen Literaturpreis verleihen.
JÜRG ALTWEGG
Charles Baudelaire: "Der Spleen von Paris". Gedichte in Prosa und frühe Dichtungen.
Aus dem Französischen von Simon Werle. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 512 S., geb., 40,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Simon Werle übersetzt Baudelaires "Spleen"
Charles Baudelaire ist ein Autor, den man in Happen und Häppchen lesen muss, so dicht und vielschichtig sind seine Texte. Auch zur Bett- oder Urlaubslektüre taugt er kaum - zu groß ist die Ehrfurcht vor seinen Gedichten in Reimen und Prosa. Dass er ein Dichter für Dichter ist, den Walter Benjamin übersetzte und auf dessen Literatur und Fortschrittskritik sich auch noch Michel Houellebecq beruft, macht die Berührungsängste nicht geringer. Baudelaires 150. Todestag vor zwei Jahre zeigte, wie einflussreich, modern und aktuell er noch immer ist. Doch die Beschäftigung der Literaturkritik mit seinem Werk hat seit Georges Poulet, Roland Barthes, Claude Pichois keine spektakulären Essays hervorgebracht.
Hierzulande allerdings gab es 2017 ein Großereignis zu feiern: "Die Blumen des Bösen" erschienen in einer hymnisch gelobten Neuübersetzung von Simon Werle. Seither wartete man auf die Fortsetzung, den Band "Der Spleen von Paris", der ein noch größeres Ereignis darstellt: Er enthält zahlreiche bislang nie übersetzte Texte. "In dem Maße, wie Baudelaires Nachruhm wuchs, publizierten Schulfreunde, frühe Wegbegleiter, Autorenkollegen und Korrespondenzpartner in den Jahrzehnten nach seinem Tod in Zeitschriften, Tagungsberichten oder Erinnerungsbüchern bislang unbekannte Verse", schreibt Simon Werle in seinem Nachwort. Sie wurden "zusammen mit den ersten Funden der einsetzenden akademischen Forschung 1939 erstmals als eigenständige Abteilung des Werks publiziert".
Für seine abenteuerliche Editionsgeschichte war der Dichter und Dandy Baudelaire, der mit Pseudonymen und Plagiaten einen lotterhaften Umgang trieb, selbst verantwortlich. In vielen der jetzt erstmals deutsch gedruckten Gedichte macht Werle "bereits das Aroma der künftigen ,Fleurs du Mal'" aus. Für Baudelaires "Entwicklungsweg, der mit erstaunlicher Geschwindigkeit erfolgte", sind sie unerlässlich. Doch mit jedem Recht verweist Simon Werle darauf, dass sie "weit mehr als nur literarisches Interesse" beanspruchen können. Für den verblüfften Leser der "verdeutschten Gedichte" wurzelt dieser Befund in allererster Linie in der Übersetzung.
Zweisprachige Klassikerausgaben sind in aller Regel nicht besonders leserfreundlich. Ihnen haftet etwas Pedantisch-Akademisches an. Man liest ja doch meistens nur die linke oder rechte Seite und ertappt sich allenfalls beim Überprüfen. Und vielleicht will der Übersetzer ja auch nur beweisen, dass er die Sprache, aus der er überträgt, perfekt beherrscht.
"Vernommen hab von draußen ich soeben": Simon Werle fesselt und fasziniert den Leser von den ersten Seiten, ja Zeilen an mit der Freiheit seiner Sprache. Der Ton, der Rhythmus, die Bilder sind ihm wichtiger als einzelne Worte. Er scheut sich nicht, bei drei französischen Elementen, die eine Strophe bilden, im Deutschen ein viertes einzuführen. Genauso virtuos wie die Jugendgedichte überträgt er die Prosa des "Spleen von Paris". Aus den "vétérans de la joie" (Freude) macht er "Veteranen der Lust", was in der Gegenrichtung jeder Übersetzer auf "plaisir" zurückführen würde. Auf Französisch ist die Tristesse "kalt" (froide) - Werle präzisiert sie mit dem zusätzlichen Attribut "sarkastisch". Und genauso selbst- wie sprachbewusst erdreistet er sich, "les arrérages de leurs gages" zum banalen "ausstehenden Salär" zu verdeutschen.
Es ist die reine Lust und eine permanente Überraschung, Simon Werles Baudelaire zu lesen. Man springt zwischen den Seiten hin und her und liest ein deutsch-französisches Werk, in dem jede Sprache die andere ergänzt. Eine neue Gattung scheint zu entstehen - aber keineswegs auf Kosten eines Klassikers, dem ein selbstverliebter Nachdichter den Meister zeigen möchte. Werle stellt sich mit geballter schöpferischer Kraft in den Dienst Baudelaires, dessen Blumen auf Deutsch anders aufblühen als im Französischen. Er emanzipiert sich vom Original, um ihm gerecht zu werden. Wünschen darf man sich von beiden Bänden eine handliche Taschenbuchausgabe, die es erleichtern würde, Baudelaire im Bett zu lesen. Die "Fleurs du Mal" wurden mit dem Eugen-Helmlé-Preis für Übersetzungen ausgezeichnet. Werles "Spleen von Paris" müsste man einen Literaturpreis verleihen.
JÜRG ALTWEGG
Charles Baudelaire: "Der Spleen von Paris". Gedichte in Prosa und frühe Dichtungen.
Aus dem Französischen von Simon Werle. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 512 S., geb., 40,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main