"Knips mal Mariechen" ruft der Schriftsteller, wann immer seine treue Freundin ein Foto für ihn machen soll. Maries Schnappschüsse haben es in sich, denn ihre alte Agfa-Box zeigt mehr als die Wirklichkeit - sie kann in die Vergangenheit und die Zukunft schauen, Wünsche und Ängste in Szene setzen. Viel später sitzen die acht Kinder des berühmten Schriftstellers beisammen, längst erwachsen geworden. Im lebhaften Dialog lassen sie das Leben ihrer komplizierten Familie Revue passieren, und jeder erinnert sich auf seine Weise an den Vater, die Kindheit, an Maries Wunder-Box und ihre verblüffenden Bilder.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2008Noch mehr Kinder, irgendwo
Günter Grass schreibt sein Leben weiter: "Die Box" heißt das Buch, in dem die Kinder sprechen und der Dichter den Pascha spielt
Was ist denn da los? Ein neues Buch von Günter Grass liegt seit Freitag in hohen Stapeln in den Buchhandlungen des Landes, und es hat noch gar keine Aufregung gegeben. Keinen Skandal, keine Vorabverrisse, keine Vorabhymnen, gar nichts. Nicht mal eine ganz normale Rezension. Sind die Kritiker müde geworden? Ist das Buch so langweilig? Hat es noch keiner gelesen? Sind alle noch im Urlaub? Interessiert das keinen mehr? Müssen wir uns Sorgen machen?
Es ist aber wohl einfach nur Folge eines Tricks des Verlages, der die Sperrfrist für Rezensionen auf den 29. August festlegte - eine Woche nach Beginn des Verkaufs. Was man, je nach Blickwinkel, als Witz oder als Frechheit betrachten kann, denn sobald man ein Buch kaufen kann, kann selbst der Verlag des Nobelpreisträgers niemandem verbieten, seine Meinung dazu zu äußern. Wahrscheinlich hat sich Günter Grass gewünscht, dass die Leser, seine Leser, eine Woche lang, unbehelligt von bösen Worten der Kritiker, in Ruhe sich selbst eine Meinung über den neuen Roman bilden können. Es ist also einfach nur ein weiteres, kleines Kapitel in der unendlichen Geschichte "Grass und die Kritik" oder, wie er es nennen würde: "Alle Kritiker (im neuen Roman immer nur ,die Zeitungsfritzen') gegen Grass". Und diese Geschichte ist nun wirklich ermüdend; wir gehen schnell an ihr vorbei zum neuen Buch.
Es heißt "Die Box" und ist die Fortsetzung des autobiographischen Romans "Beim Häuten der Zwiebel", der vor zwei Jahren erschienen ist und durch die darin von Grass bekannte SS-Mitgliedschaft so einen großen Wirbel verursacht hat. Man wundert sich etwas, dass so schnell schon eine Fortsetzung erscheint, endete doch das letzte Buch recht lustlos so: "So lebte ich fortan von Seite zu Seite und zwischen Buch und Buch. Dabei blieb ich inwendig reich an Figuren. Doch davon zu erzählen, fehlt es an Zwiebeln und Lust."
Ein Märchen
Das ging also schnell, dass die Lust wiederkam und Grass sein Leben weiter fortgeschrieben hat. Er hat es anders, ganz anders fortgesetzt, als es mit der "Zwiebel" begann. Die Grundidee zur Fortsetzung findet sich aber schon darin, zwanzig Seiten vor dem Schluss schrieb er: "Und so könnte ein Märchen beginnen, das nicht ich geschrieben habe . . .". "Aber noch schreiben werde", könnte man jetzt hinzufügen, denn "Die Box", das neue Buch, ist jenes Märchen, ein Märchen aus dem Leben des Schriftstellers Günter Grass, geschrieben aus der Perspektive seiner Kinder. Und es beginnt, klassisch, so: "Es war einmal ein Vater, der rief, weil alt geworden, seine Söhne und Töchter zusammen - vier, fünf, sechs, acht an der Zahl -, bis sie sich nach längerem Zögern seinem Wunsch fügten."
Das Buch selbst hat dann aber gar nicht so viele märchenhafte Züge. Nur die geisterhafte Fotografin Marie, die im wirklichen Leben Maria Rama hieß und der das Buch gewidmet ist, und deren alter Fotoapparat, jene titelgebende "Box", sind Märchenhelden des Romans. Auf der anderen Seite sind es die sehr realen, wenn auch nicht unter ihren wirklichen Namen auftauchenden Kinder des Dichters, die sehr lebensnah ihre Vatergeschichten erzählen, mal liebevoll, meist distanziert und immer wieder knapp am großen Vater-Tribunal vorbeischrammend. Der Vater hat zum Geschichten-Erzählen gerufen, und die Kinder kommen. Nicht immer alle, mal diese, mal jene, wer gerade Zeit hat, wer gerade erzählen will, wer etwas loswerden muss über "Vatti", wie die meisten ihn nennen. Insgesamt neunmal treffen sie in den neun Kapiteln des Buches zusammen. Immer lädt ein anderes Kind ein. Es wird gekocht an jedem Anfang und getrunken während der Treffen, mal trüber Apfelsaft, mal Cidre, mal Rotwein, Vater hat Mikrofon und Aufnahmegerät bereitgestellt, und es geht los: "Von jetzt an haben die Kinder das Wort."
Und es beginnt ein schönes, sonderbares, eigenwilliges, ein für Günter Grass ungewöhnlich leichtes Buch. Denn "Die Box" ist ein Buch ohne Mission, ein Buch ohne Auftrag, ein Buch, das nicht als Transportmittel einer Botschaft missbraucht wird. Und in dem auch kein verschämtes Bekenntnis so lange mit Adjektiven und Partizipialkonstruktionen umstellt wird, bis der Autor hoffen kann, dass es nicht weiter auffallen wird. Nein, "Die Box" ist nicht mehr als die Geschichte des Patriarchen Günter Grass in den Jahren 1959 bis 1995, wie seine Kinder sie sehen. Oder nein, natürlich: wie Günter Grass glaubt, dass seine Kinder sie sehen.
Die Geschichte des Dichters Günter Grass läuft eher so nebenher. Die Titel seiner Werke werden erwähnt und die Motivsuche vor jedem Neubeginn. Und da kommt jene Marie ins Spiel. Marie und ihre Box. Es ist eine Wunderbox, ein uralter Agfa-Fotoapparat, der den Zweiten Weltkrieg in einem von Bomben zerstörten Haus auf wundersame Weise überdauerte. Und seitdem ist es eine Box mit übersinnlicher Kraft. Die Fotografin erklärt: "Meine Box macht Bilder, die gibts nicht. Und Sachen sieht die, die vorher nicht da waren. Oder zeigt Dinge, die möchten euch im Traum einfallen. Ist allsichtig, meine Box. Muß ihr beim Brand passiert sein. Spielt verrückt seitdem."
Auf den Bildern, die Marie mit dieser Kamera machen kann, sieht man also mal Dinge aus der Vergangenheit, mal Dinge aus der Zukunft, mal eine erträumte Wirklichkeit des Fotografierten, und manchmal bildet sie einfach ab, was alle sehen können. Sie ist also - und mit der Box auch ihre Besitzerin - ein poetisches Bild für die Inspiration des Dichters. Er streift mit ihr oft tagelang über die Schauplätze seiner Romane, lässt sie knipsen und knipsen, aber der Apparat lässt sich nicht zwingen. Manchmal, wie im Vorfeld des Wiedervereinigungsromans "Ein weites Feld", musste besonders mühsam und langwierig geknipst werden, bis die Motive aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft endlich zusammenfotografiert waren.
Und Marie ist auch die Verbindung zwischen der Dichtung des Vaters und dem Leben, den Wünschen und Träumen der Kinder, denn auch für sie steht der Wunderapparat immer wieder zur Verfügung. Und wenn ein Wunsch, ein großer, kleiner Kinderwunsch wie ein eigner kleiner Hund zum Beispiel erst mal auf das Wunderpapier gebannt wurde, wird es meist auch nicht mehr lange dauern, bis er womöglich Wirklichkeit geworden sein wird.
Vorbild jener Marie ist wie gesagt die echte Fotografin Maria Rama, die 1997 gestorben ist und die die Familie Grass, den Patriarchen vor allem, über Jahrzehnte hin begleitet und immer wieder fotografiert hat. Die Figur liest sich im Buch recht beunruhigend, eine Art Stalkerin mit Familienanschluss. Eine unendlich große Verehrerin des Dichters, die womöglich auch einmal seine Geliebte war. 1973 hatte Günter Grass ihr zum ersten Mal ein Buch gewidmet, mit Fotos von ihr, verfremdet, bemalt, verändert von ihm, und ein Gedicht auf sie, gleich zu Beginn: "Mariazuehren". Ein Gedicht über das Staunen und die Natur. "Jetzt bin ich fünfundvierzig und immer noch erstaunt."
Doch von möglichen Geliebten ist sie nur eine unter vielen im neuen Bekenntnisbuch von Günter Grass. Es gibt da neben den Müttern seiner Kinder, Anna Grass, Veronika Schröter, der Mutter eines lange Jahre geheim gehaltenen Kindes, und seiner jetzigen Frau Ute immer und immer wieder Andeutungen anderer Liebschaften. "Und auch die Liebe erprobte als Irrläufer abseitige Wege, ging fremd." Schreibt der Dichter, und in der Mitte deutet er an: "Vielleicht gibts noch mehr Kinder irgendwo . . ."
Aber acht sind ja auch schon eine ganze Menge, zwei davon brachte Frau Ute mit in die Ehe. Es sind also genau genommen von ihm, so weit bekannt, nur sechs, aber die zwei später Hinzugekommenen gehören unbedingt und ohne Unterschied dazu, schreibt Grass. Er gefällt sich als abrahamesker Patriarch. Als "Pascha", wie die Kinder meinen; und sind sich einig, "daß son Paschabild mit ihm in der Mitte ganz oben auf seiner Wunschliste stand".
Das Umgangssprachliche, das scheinbar unverfälscht Gesprochene, das man in diesem Zitat erkennt und das als Stilwille weite Teile des Buchs durchzieht, nervt auf Dauer leider doch sehr und schmälert die Freude am Buch. Immer wieder enden die Sätze im Nirgendwo: ". . ." Dazu kommt eine Jugendsprache, wie sie eben klingt, wenn ein Achtzigjähriger sie sich ausdenkt: "Mann, war geil, was da drauf war."
Eine Mexikanerin
Das Rührendste an diesem Buch, das Schönste, Traurigste und Ehrlichste daran ist aber ohnehin etwas anderes. Es ist das Ringen des Vaters um die Liebe seiner Kinder. Es ist das Wissen um all das Unausgesprochene in einer Familie, und um wie viel mehr in einer so zerstückelten Familie wie seiner. All die stummen Vorwürfe wünscht sich der Dichter endlich ausgesprochen: "Unausgesprochenes liegt in der Luft. Nur langsam fädeln die Geschwister sich in die Wirrnisse ihrer Kindheit, reden rückfällig, sind mal aufgekratzt, mal übellaunig, bestehen darauf, noch immer verletzt zu sein." Er pendelte von Frau zu Frau, kehrte zurück, bis am Ende sogar eine Mauer durch das Familienheim gezogen wurde. Hier er und seine Ruhe, seine Bücher, seine Frauengeschichten, sein gigantisches Ego, dort ein Teil der Familie. Andere Teile an anderen Orten. "- Haben wir damals nicht mitgekriegt, Nana. Ich mein die Geschichte zwischen unsrem Vater und deiner Mutter. - Soll schon angefangen haben, lange bevor das Haus geteilt wurde. - Zwischen der einen und der nächsten noch zwischendurch ne andere . . . - Hat echt nicht richtig getickt, der Alte!"
Und so gehen die Vorwürfe weiter. Keine Zeit zum Spielen; immer nur in der Vergangenheit gelebt; immer nur am Schreibtisch; es zählte für ihn nur, was sich erzählen ließ. Und immer wieder "die ganze Nazischeiße rauf und runter". Gegen Ende fragt der verunsicherte Vater, "wem von den Geschwistern es besonders lästig gewesen sei, einen berühmten Vater zu haben", doch da bekennen alle, dass der Ruhm sie am wenigsten gestört habe. Tochter Lara erinnert sich stolz, dass sie einmal zwölf Autogrammkarten des Vaters gegen eine von Heintje tauschen konnte.
Es ist eine Mexikanerin, die Ehefrau eines seiner Kinder, die die wilde Brut zwischendurch zur Mäßigung des Tribunals aufruft. Das sei ja eine "sehr deutsche Tischgesellschaft" hier; und sie fügt an: "Haltet nicht Gericht über euren Vater. Seid froh, daß es ihn noch gibt."
Doch das hilft nur kurz. Der Schmerz über die immer wieder neu zerrissene Familie ist groß und bleibt groß. Auch wenn der Vater vor vielen, vielen Jahren die Frau fand, "bei der er Ruhe fand", und langsam, ganz langsam sich eben doch so etwas wie eine Familie zusammenfindet, mit einer Art Vertrauen des Zusammenbleibens. Doch im Buch inszeniert Grass immer wieder den drohenden Boykott des ganzen Buchprojekts durch seine Kinder. Der mächtige Vater, die Kinder als seine Geschöpfe, im Buch und in der Wirklichkeit. "Laß uns da raus!", rufen sie, und er erkennt: "Sie wollten nicht mehr nach seinen Worten."
Es ist eine traurige Geschichte, mit einer Art Harmonie und vielen Lügen und Geheimnissen am Ende, Verletzungen, eine Geschichte, die nur wenig hilft. Aber es hilft ja alles nichts: "Jetzt hofft der unzulängliche Vater, daß die Kinder ein Einsehen haben. Denn weder können sie sein Leben, noch er ihres wegstreichen, wie ungelebt einfach wegstreichen . . ."
Niemand kann das. Auch kein Vater Grass. Er kann es nur zu einer Geschichte runden. So rund wie lange keine mehr.
VOLKER WEIDERMANN
Günter Grass: "Die Box". Steidl 2008, 211 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Günter Grass schreibt sein Leben weiter: "Die Box" heißt das Buch, in dem die Kinder sprechen und der Dichter den Pascha spielt
Was ist denn da los? Ein neues Buch von Günter Grass liegt seit Freitag in hohen Stapeln in den Buchhandlungen des Landes, und es hat noch gar keine Aufregung gegeben. Keinen Skandal, keine Vorabverrisse, keine Vorabhymnen, gar nichts. Nicht mal eine ganz normale Rezension. Sind die Kritiker müde geworden? Ist das Buch so langweilig? Hat es noch keiner gelesen? Sind alle noch im Urlaub? Interessiert das keinen mehr? Müssen wir uns Sorgen machen?
Es ist aber wohl einfach nur Folge eines Tricks des Verlages, der die Sperrfrist für Rezensionen auf den 29. August festlegte - eine Woche nach Beginn des Verkaufs. Was man, je nach Blickwinkel, als Witz oder als Frechheit betrachten kann, denn sobald man ein Buch kaufen kann, kann selbst der Verlag des Nobelpreisträgers niemandem verbieten, seine Meinung dazu zu äußern. Wahrscheinlich hat sich Günter Grass gewünscht, dass die Leser, seine Leser, eine Woche lang, unbehelligt von bösen Worten der Kritiker, in Ruhe sich selbst eine Meinung über den neuen Roman bilden können. Es ist also einfach nur ein weiteres, kleines Kapitel in der unendlichen Geschichte "Grass und die Kritik" oder, wie er es nennen würde: "Alle Kritiker (im neuen Roman immer nur ,die Zeitungsfritzen') gegen Grass". Und diese Geschichte ist nun wirklich ermüdend; wir gehen schnell an ihr vorbei zum neuen Buch.
Es heißt "Die Box" und ist die Fortsetzung des autobiographischen Romans "Beim Häuten der Zwiebel", der vor zwei Jahren erschienen ist und durch die darin von Grass bekannte SS-Mitgliedschaft so einen großen Wirbel verursacht hat. Man wundert sich etwas, dass so schnell schon eine Fortsetzung erscheint, endete doch das letzte Buch recht lustlos so: "So lebte ich fortan von Seite zu Seite und zwischen Buch und Buch. Dabei blieb ich inwendig reich an Figuren. Doch davon zu erzählen, fehlt es an Zwiebeln und Lust."
Ein Märchen
Das ging also schnell, dass die Lust wiederkam und Grass sein Leben weiter fortgeschrieben hat. Er hat es anders, ganz anders fortgesetzt, als es mit der "Zwiebel" begann. Die Grundidee zur Fortsetzung findet sich aber schon darin, zwanzig Seiten vor dem Schluss schrieb er: "Und so könnte ein Märchen beginnen, das nicht ich geschrieben habe . . .". "Aber noch schreiben werde", könnte man jetzt hinzufügen, denn "Die Box", das neue Buch, ist jenes Märchen, ein Märchen aus dem Leben des Schriftstellers Günter Grass, geschrieben aus der Perspektive seiner Kinder. Und es beginnt, klassisch, so: "Es war einmal ein Vater, der rief, weil alt geworden, seine Söhne und Töchter zusammen - vier, fünf, sechs, acht an der Zahl -, bis sie sich nach längerem Zögern seinem Wunsch fügten."
Das Buch selbst hat dann aber gar nicht so viele märchenhafte Züge. Nur die geisterhafte Fotografin Marie, die im wirklichen Leben Maria Rama hieß und der das Buch gewidmet ist, und deren alter Fotoapparat, jene titelgebende "Box", sind Märchenhelden des Romans. Auf der anderen Seite sind es die sehr realen, wenn auch nicht unter ihren wirklichen Namen auftauchenden Kinder des Dichters, die sehr lebensnah ihre Vatergeschichten erzählen, mal liebevoll, meist distanziert und immer wieder knapp am großen Vater-Tribunal vorbeischrammend. Der Vater hat zum Geschichten-Erzählen gerufen, und die Kinder kommen. Nicht immer alle, mal diese, mal jene, wer gerade Zeit hat, wer gerade erzählen will, wer etwas loswerden muss über "Vatti", wie die meisten ihn nennen. Insgesamt neunmal treffen sie in den neun Kapiteln des Buches zusammen. Immer lädt ein anderes Kind ein. Es wird gekocht an jedem Anfang und getrunken während der Treffen, mal trüber Apfelsaft, mal Cidre, mal Rotwein, Vater hat Mikrofon und Aufnahmegerät bereitgestellt, und es geht los: "Von jetzt an haben die Kinder das Wort."
Und es beginnt ein schönes, sonderbares, eigenwilliges, ein für Günter Grass ungewöhnlich leichtes Buch. Denn "Die Box" ist ein Buch ohne Mission, ein Buch ohne Auftrag, ein Buch, das nicht als Transportmittel einer Botschaft missbraucht wird. Und in dem auch kein verschämtes Bekenntnis so lange mit Adjektiven und Partizipialkonstruktionen umstellt wird, bis der Autor hoffen kann, dass es nicht weiter auffallen wird. Nein, "Die Box" ist nicht mehr als die Geschichte des Patriarchen Günter Grass in den Jahren 1959 bis 1995, wie seine Kinder sie sehen. Oder nein, natürlich: wie Günter Grass glaubt, dass seine Kinder sie sehen.
Die Geschichte des Dichters Günter Grass läuft eher so nebenher. Die Titel seiner Werke werden erwähnt und die Motivsuche vor jedem Neubeginn. Und da kommt jene Marie ins Spiel. Marie und ihre Box. Es ist eine Wunderbox, ein uralter Agfa-Fotoapparat, der den Zweiten Weltkrieg in einem von Bomben zerstörten Haus auf wundersame Weise überdauerte. Und seitdem ist es eine Box mit übersinnlicher Kraft. Die Fotografin erklärt: "Meine Box macht Bilder, die gibts nicht. Und Sachen sieht die, die vorher nicht da waren. Oder zeigt Dinge, die möchten euch im Traum einfallen. Ist allsichtig, meine Box. Muß ihr beim Brand passiert sein. Spielt verrückt seitdem."
Auf den Bildern, die Marie mit dieser Kamera machen kann, sieht man also mal Dinge aus der Vergangenheit, mal Dinge aus der Zukunft, mal eine erträumte Wirklichkeit des Fotografierten, und manchmal bildet sie einfach ab, was alle sehen können. Sie ist also - und mit der Box auch ihre Besitzerin - ein poetisches Bild für die Inspiration des Dichters. Er streift mit ihr oft tagelang über die Schauplätze seiner Romane, lässt sie knipsen und knipsen, aber der Apparat lässt sich nicht zwingen. Manchmal, wie im Vorfeld des Wiedervereinigungsromans "Ein weites Feld", musste besonders mühsam und langwierig geknipst werden, bis die Motive aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft endlich zusammenfotografiert waren.
Und Marie ist auch die Verbindung zwischen der Dichtung des Vaters und dem Leben, den Wünschen und Träumen der Kinder, denn auch für sie steht der Wunderapparat immer wieder zur Verfügung. Und wenn ein Wunsch, ein großer, kleiner Kinderwunsch wie ein eigner kleiner Hund zum Beispiel erst mal auf das Wunderpapier gebannt wurde, wird es meist auch nicht mehr lange dauern, bis er womöglich Wirklichkeit geworden sein wird.
Vorbild jener Marie ist wie gesagt die echte Fotografin Maria Rama, die 1997 gestorben ist und die die Familie Grass, den Patriarchen vor allem, über Jahrzehnte hin begleitet und immer wieder fotografiert hat. Die Figur liest sich im Buch recht beunruhigend, eine Art Stalkerin mit Familienanschluss. Eine unendlich große Verehrerin des Dichters, die womöglich auch einmal seine Geliebte war. 1973 hatte Günter Grass ihr zum ersten Mal ein Buch gewidmet, mit Fotos von ihr, verfremdet, bemalt, verändert von ihm, und ein Gedicht auf sie, gleich zu Beginn: "Mariazuehren". Ein Gedicht über das Staunen und die Natur. "Jetzt bin ich fünfundvierzig und immer noch erstaunt."
Doch von möglichen Geliebten ist sie nur eine unter vielen im neuen Bekenntnisbuch von Günter Grass. Es gibt da neben den Müttern seiner Kinder, Anna Grass, Veronika Schröter, der Mutter eines lange Jahre geheim gehaltenen Kindes, und seiner jetzigen Frau Ute immer und immer wieder Andeutungen anderer Liebschaften. "Und auch die Liebe erprobte als Irrläufer abseitige Wege, ging fremd." Schreibt der Dichter, und in der Mitte deutet er an: "Vielleicht gibts noch mehr Kinder irgendwo . . ."
Aber acht sind ja auch schon eine ganze Menge, zwei davon brachte Frau Ute mit in die Ehe. Es sind also genau genommen von ihm, so weit bekannt, nur sechs, aber die zwei später Hinzugekommenen gehören unbedingt und ohne Unterschied dazu, schreibt Grass. Er gefällt sich als abrahamesker Patriarch. Als "Pascha", wie die Kinder meinen; und sind sich einig, "daß son Paschabild mit ihm in der Mitte ganz oben auf seiner Wunschliste stand".
Das Umgangssprachliche, das scheinbar unverfälscht Gesprochene, das man in diesem Zitat erkennt und das als Stilwille weite Teile des Buchs durchzieht, nervt auf Dauer leider doch sehr und schmälert die Freude am Buch. Immer wieder enden die Sätze im Nirgendwo: ". . ." Dazu kommt eine Jugendsprache, wie sie eben klingt, wenn ein Achtzigjähriger sie sich ausdenkt: "Mann, war geil, was da drauf war."
Eine Mexikanerin
Das Rührendste an diesem Buch, das Schönste, Traurigste und Ehrlichste daran ist aber ohnehin etwas anderes. Es ist das Ringen des Vaters um die Liebe seiner Kinder. Es ist das Wissen um all das Unausgesprochene in einer Familie, und um wie viel mehr in einer so zerstückelten Familie wie seiner. All die stummen Vorwürfe wünscht sich der Dichter endlich ausgesprochen: "Unausgesprochenes liegt in der Luft. Nur langsam fädeln die Geschwister sich in die Wirrnisse ihrer Kindheit, reden rückfällig, sind mal aufgekratzt, mal übellaunig, bestehen darauf, noch immer verletzt zu sein." Er pendelte von Frau zu Frau, kehrte zurück, bis am Ende sogar eine Mauer durch das Familienheim gezogen wurde. Hier er und seine Ruhe, seine Bücher, seine Frauengeschichten, sein gigantisches Ego, dort ein Teil der Familie. Andere Teile an anderen Orten. "- Haben wir damals nicht mitgekriegt, Nana. Ich mein die Geschichte zwischen unsrem Vater und deiner Mutter. - Soll schon angefangen haben, lange bevor das Haus geteilt wurde. - Zwischen der einen und der nächsten noch zwischendurch ne andere . . . - Hat echt nicht richtig getickt, der Alte!"
Und so gehen die Vorwürfe weiter. Keine Zeit zum Spielen; immer nur in der Vergangenheit gelebt; immer nur am Schreibtisch; es zählte für ihn nur, was sich erzählen ließ. Und immer wieder "die ganze Nazischeiße rauf und runter". Gegen Ende fragt der verunsicherte Vater, "wem von den Geschwistern es besonders lästig gewesen sei, einen berühmten Vater zu haben", doch da bekennen alle, dass der Ruhm sie am wenigsten gestört habe. Tochter Lara erinnert sich stolz, dass sie einmal zwölf Autogrammkarten des Vaters gegen eine von Heintje tauschen konnte.
Es ist eine Mexikanerin, die Ehefrau eines seiner Kinder, die die wilde Brut zwischendurch zur Mäßigung des Tribunals aufruft. Das sei ja eine "sehr deutsche Tischgesellschaft" hier; und sie fügt an: "Haltet nicht Gericht über euren Vater. Seid froh, daß es ihn noch gibt."
Doch das hilft nur kurz. Der Schmerz über die immer wieder neu zerrissene Familie ist groß und bleibt groß. Auch wenn der Vater vor vielen, vielen Jahren die Frau fand, "bei der er Ruhe fand", und langsam, ganz langsam sich eben doch so etwas wie eine Familie zusammenfindet, mit einer Art Vertrauen des Zusammenbleibens. Doch im Buch inszeniert Grass immer wieder den drohenden Boykott des ganzen Buchprojekts durch seine Kinder. Der mächtige Vater, die Kinder als seine Geschöpfe, im Buch und in der Wirklichkeit. "Laß uns da raus!", rufen sie, und er erkennt: "Sie wollten nicht mehr nach seinen Worten."
Es ist eine traurige Geschichte, mit einer Art Harmonie und vielen Lügen und Geheimnissen am Ende, Verletzungen, eine Geschichte, die nur wenig hilft. Aber es hilft ja alles nichts: "Jetzt hofft der unzulängliche Vater, daß die Kinder ein Einsehen haben. Denn weder können sie sein Leben, noch er ihres wegstreichen, wie ungelebt einfach wegstreichen . . ."
Niemand kann das. Auch kein Vater Grass. Er kann es nur zu einer Geschichte runden. So rund wie lange keine mehr.
VOLKER WEIDERMANN
Günter Grass: "Die Box". Steidl 2008, 211 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Roman Bucheli, der schon Günter Grass' erstem Memoirenband, "Beim Häuten der Zwiebel" nichts abgewinnen konnte, empfindet auch die Fortsetzung "Die Box", in denen die Jahre nach Erscheinen der "Blechtrommel" bis Ende der 90er Jahre behandelt werden, als Grass den Literaturnobelpreis bekam, als reines Ärgernis. Der Autor hat als erzählerischen Einfall seinen acht Kindern das Wort erteilt, die in unüberbietbarer Schnoddrigkeit nun allerlei Belangloses über ihren Vater kundtun, mokiert sich der Rezensent. Dazu durchzieht noch die Kamera der langjährigen Grass-Freundin Maria Rama - eine geheimnisvolle "Agfa-Box", die Vergangenes, Zukünftiges, "Verborgenes und Verschwiegenes" ablichtet - die Lebenserzählung und erfüllt hier die Funktion einer Art "Über-Ich", so Bucheli wenig begeistert. Am meisten genervt hat ihn offenbar die "alberne Sprache", die den Kindern in den Mund gelegt wird und die er als bemühte "Anbiederung" an den Alltagsjargon empfindet. Vor allem aber will es ihm scheinen, dass im entschlossenen "Abarbeiten" der Lebensgeschichte die Form bei Grass mächtig gelitten hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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