Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2005Odysseus in Oberammergau
Exilsonate: Erzählungen des Argentiniers Edgardo Cozarinsky
Das wahre Leben ist stets anderswo. Gleich als hätten sie sich die Rimbaudsche Devise auf die Fahnen geschrieben, huschen die Figuren Edgardo Cozarinskys wie Schatten durch die Schauplätze des vergangenen Jahrhunderts. Was fast all diesen Schatten allerdings fehlt, ist der exotistische Enthusiasmus, der den Wechselbalg des 19. Jahrhunderts zum Ausbruch aus dem bürgerlichen Europa anstachelte. Beginnend 1890 und sich fortspinnend bis in die Gegenwart, rankt sich bei Cozarinsky in sieben Erzählungen das Motiv der Heimatsuche durch ein Jahrhundert, das sich als Mutterland der Heimatlosigkeit zu erkennen gibt. Je weiter das zwanzigste Jahrhundert voranschreitet, um so mehr ist das wahre Leben der Helden ein Getriebensein, hinter dem Flucht, Verzweiflung und Vergessenwollen stehen.
Verstreut sind die Helden dieses argentinischen Erzählers russischer Herkunft mit Wohnsitz in Paris an den verschiedensten Schauplätzen zweier Kontinente, die seit Menschengedenken durch Emigrantenströme wechselnder Richtung verbunden sind. Um die Jahrhundertwende nimmt ein junger ukrainischer Jude eine falsche "Braut von Odessa" vom Kai des Schwarzmeerhafens nach Argentinien und gründet eine Diaspora-Dynastie in der Neuen Welt, die das Geheimnis ihrer illegitimen Herkunft durch die Zeiten bis zurück nach Europa trägt. Ein anglophiler Argentinier der Gegenwart stößt durch den Nachlaß einer russischen Emigrantin auf das Schicksal der Ukrainer, die sich aus antikommunistischer Überzeugung der Wehrmacht anschlossen - um, von beiden Seiten verachtet, von den Westalliierten in die Hände Stalins geliefert zu werden (in der Erzählung "Literatur").
Im Argentinien der dreißiger bis fünfziger Jahre finden ein koksnäsiger deutscher Barpianist und ein knabenliebender österreichischer Schriftsteller vor den Nazis Zuflucht - und werden doch von einem Heimweh besiegt, das ihnen nichts als einen Tod in Vergessen und Anonymität zu bescheren weiß (in "Tage des Jahres 1937" und "Weihnachten 1954"). Auf der Suche nach den Spuren seines jüdischen Großvaters aus Berlin gerät ein amerikanischer Historiker in Lissabon in den Strudel jener einstigen Hauptstadt der Flüchtlinge ganz Europas und schließlich zur Einsicht seiner travestierten eigenen Herkunft (in "Emigrantenhotel").
Dennoch bleibt das Gefühl der Heimatlosigkeit nicht allein den geographisch Entfremdeten und politisch Verfolgten vorbehalten, wie das zwischen Paris und Buenos Aires angesiedelte Triptychon "Obskure Lieben" beweist. Die einzelnen Erzählungen fügen sich wie Sätze zu einer großen Heimwehsonate. In ihrer Gesamtheit bilden sie eine Kette von modernen Odysseen, die um ein verstecktes gemeinsames Zentrum kreisen.
Dort aber findet sich zuletzt immer der Tod. Jede Odysseus-Gestalt ist entweder schon lange verstorben oder muß im Laufe der Erzählung das Zeitliche segnen. Werfen Kritiker dem spanischen Romancier Javier Marías zuweilen vor, er könne keinen Roman anfangen, ohne bereits auf der ersten Seite einen Protagonisten umzubringen, so erweist sich Cozarinsky gewissermaßen als sein literarischer Antipode: Er schließt kaum eine Erzählung ab, ohne auf der letzten Seite seinem Helden quasi rückwirkend das Leben zu rauben. Denn der Tod ereignet sich meist nach Ende der eigentlichen Handlung, in einem vom allwissenden Autor eingefügten Epilog, im Postskriptum - sei es durch einen Zugunfall, ein bombardiertes Schiff auf dem Weg von Argentinien nach Deutschland, eine Maschinengewehrsalve oder ein vereinsamtes Siechen in Wien. Diese Kaltblütigkeit Cozarinskys gegenüber seinen literarischen Gestalten beleuchtet deren spezifische Tragik. Mit Ausnahme des hoffnungsvollen Dynastiepatriarchen aus der titelgebenden "Odessa"-Erzählung sind sie allesamt Statisten in einer anonymen Geschichtsmaschinerie, die ihnen ungeachtet der Intensität ihrer Liebe und ihres Leids nicht mehr als eine Fußnote, einen beiläufigen Tod in Vergessenheit gönnen will.
Da die Figuren in ihrer (sicherlich bewußt eingesetzten) Schatten- oder Holzschnittartigkeit nicht so recht greifbar werden, fällt das Auge des Lesers zuweilen auf die (wohl weniger beabsichtigte) Holzschnittartigkeit von Cozarinskys gesamtem Erzählgestus. Häufig bewegen sich die Texte auf einem nicht unbedingt befriedigenden Grat zwischen literarischer Fiktion und historischer Chronik. Tritt dies in Verbindung mit eigentümlichen geschichtsphilosophischen Thesen, überschreiten sie die Schmerzgrenze. So doziert etwa der Erzähler von "Emigrantenhotel", die Vernichtungslager von Auschwitz und Treblinka seien als Inszenierung einer "Apokalypse vor königlichen Kulissen" zu begreifen, als "Kehrseite einer glänzenden Medaille, eines touristischen Erinnerungsstücks", aufgeführt von Bauern, die "jährlich die eigene heilige Geschichte darstellten, um eine andere Aufführung zu ermöglichen, die Rache und Exorzismus derselben war" - die Rede ist von nichts anderem als der "Passion Oberammergaus".
Welche Irritation solche oft auch zum Esoterischen neigenden Einwürfe des Autors verursachen, erklärt sich nicht nur durch ihre Beliebigkeit und offensichtliche Falschheit bereits im konkreten Detail - hier etwa die kaum zu leugnende Tatsache, daß die Oberammergauer Passion gar nicht jährlich stattfindet. Es verweist vielmehr auch auf die generelle Labilität einer Literatur, die weniger durch das Eigenleben ihrer Figuren als durch die Konstrukte ihres Autors zusammengehalten wird. Ein Defekt, der jedoch ihren immer wieder aufblitzenden poetischen Schönheiten kaum Abbruch tut.
FLORIAN BORCHMEYER.
Edgardo Cozarinsky: "Die Braut aus Odessa". Erzählungen. Aus dem Spanischen übersetzt von Sabine Giersberg. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2005. 172 S., geb., 17,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Exilsonate: Erzählungen des Argentiniers Edgardo Cozarinsky
Das wahre Leben ist stets anderswo. Gleich als hätten sie sich die Rimbaudsche Devise auf die Fahnen geschrieben, huschen die Figuren Edgardo Cozarinskys wie Schatten durch die Schauplätze des vergangenen Jahrhunderts. Was fast all diesen Schatten allerdings fehlt, ist der exotistische Enthusiasmus, der den Wechselbalg des 19. Jahrhunderts zum Ausbruch aus dem bürgerlichen Europa anstachelte. Beginnend 1890 und sich fortspinnend bis in die Gegenwart, rankt sich bei Cozarinsky in sieben Erzählungen das Motiv der Heimatsuche durch ein Jahrhundert, das sich als Mutterland der Heimatlosigkeit zu erkennen gibt. Je weiter das zwanzigste Jahrhundert voranschreitet, um so mehr ist das wahre Leben der Helden ein Getriebensein, hinter dem Flucht, Verzweiflung und Vergessenwollen stehen.
Verstreut sind die Helden dieses argentinischen Erzählers russischer Herkunft mit Wohnsitz in Paris an den verschiedensten Schauplätzen zweier Kontinente, die seit Menschengedenken durch Emigrantenströme wechselnder Richtung verbunden sind. Um die Jahrhundertwende nimmt ein junger ukrainischer Jude eine falsche "Braut von Odessa" vom Kai des Schwarzmeerhafens nach Argentinien und gründet eine Diaspora-Dynastie in der Neuen Welt, die das Geheimnis ihrer illegitimen Herkunft durch die Zeiten bis zurück nach Europa trägt. Ein anglophiler Argentinier der Gegenwart stößt durch den Nachlaß einer russischen Emigrantin auf das Schicksal der Ukrainer, die sich aus antikommunistischer Überzeugung der Wehrmacht anschlossen - um, von beiden Seiten verachtet, von den Westalliierten in die Hände Stalins geliefert zu werden (in der Erzählung "Literatur").
Im Argentinien der dreißiger bis fünfziger Jahre finden ein koksnäsiger deutscher Barpianist und ein knabenliebender österreichischer Schriftsteller vor den Nazis Zuflucht - und werden doch von einem Heimweh besiegt, das ihnen nichts als einen Tod in Vergessen und Anonymität zu bescheren weiß (in "Tage des Jahres 1937" und "Weihnachten 1954"). Auf der Suche nach den Spuren seines jüdischen Großvaters aus Berlin gerät ein amerikanischer Historiker in Lissabon in den Strudel jener einstigen Hauptstadt der Flüchtlinge ganz Europas und schließlich zur Einsicht seiner travestierten eigenen Herkunft (in "Emigrantenhotel").
Dennoch bleibt das Gefühl der Heimatlosigkeit nicht allein den geographisch Entfremdeten und politisch Verfolgten vorbehalten, wie das zwischen Paris und Buenos Aires angesiedelte Triptychon "Obskure Lieben" beweist. Die einzelnen Erzählungen fügen sich wie Sätze zu einer großen Heimwehsonate. In ihrer Gesamtheit bilden sie eine Kette von modernen Odysseen, die um ein verstecktes gemeinsames Zentrum kreisen.
Dort aber findet sich zuletzt immer der Tod. Jede Odysseus-Gestalt ist entweder schon lange verstorben oder muß im Laufe der Erzählung das Zeitliche segnen. Werfen Kritiker dem spanischen Romancier Javier Marías zuweilen vor, er könne keinen Roman anfangen, ohne bereits auf der ersten Seite einen Protagonisten umzubringen, so erweist sich Cozarinsky gewissermaßen als sein literarischer Antipode: Er schließt kaum eine Erzählung ab, ohne auf der letzten Seite seinem Helden quasi rückwirkend das Leben zu rauben. Denn der Tod ereignet sich meist nach Ende der eigentlichen Handlung, in einem vom allwissenden Autor eingefügten Epilog, im Postskriptum - sei es durch einen Zugunfall, ein bombardiertes Schiff auf dem Weg von Argentinien nach Deutschland, eine Maschinengewehrsalve oder ein vereinsamtes Siechen in Wien. Diese Kaltblütigkeit Cozarinskys gegenüber seinen literarischen Gestalten beleuchtet deren spezifische Tragik. Mit Ausnahme des hoffnungsvollen Dynastiepatriarchen aus der titelgebenden "Odessa"-Erzählung sind sie allesamt Statisten in einer anonymen Geschichtsmaschinerie, die ihnen ungeachtet der Intensität ihrer Liebe und ihres Leids nicht mehr als eine Fußnote, einen beiläufigen Tod in Vergessenheit gönnen will.
Da die Figuren in ihrer (sicherlich bewußt eingesetzten) Schatten- oder Holzschnittartigkeit nicht so recht greifbar werden, fällt das Auge des Lesers zuweilen auf die (wohl weniger beabsichtigte) Holzschnittartigkeit von Cozarinskys gesamtem Erzählgestus. Häufig bewegen sich die Texte auf einem nicht unbedingt befriedigenden Grat zwischen literarischer Fiktion und historischer Chronik. Tritt dies in Verbindung mit eigentümlichen geschichtsphilosophischen Thesen, überschreiten sie die Schmerzgrenze. So doziert etwa der Erzähler von "Emigrantenhotel", die Vernichtungslager von Auschwitz und Treblinka seien als Inszenierung einer "Apokalypse vor königlichen Kulissen" zu begreifen, als "Kehrseite einer glänzenden Medaille, eines touristischen Erinnerungsstücks", aufgeführt von Bauern, die "jährlich die eigene heilige Geschichte darstellten, um eine andere Aufführung zu ermöglichen, die Rache und Exorzismus derselben war" - die Rede ist von nichts anderem als der "Passion Oberammergaus".
Welche Irritation solche oft auch zum Esoterischen neigenden Einwürfe des Autors verursachen, erklärt sich nicht nur durch ihre Beliebigkeit und offensichtliche Falschheit bereits im konkreten Detail - hier etwa die kaum zu leugnende Tatsache, daß die Oberammergauer Passion gar nicht jährlich stattfindet. Es verweist vielmehr auch auf die generelle Labilität einer Literatur, die weniger durch das Eigenleben ihrer Figuren als durch die Konstrukte ihres Autors zusammengehalten wird. Ein Defekt, der jedoch ihren immer wieder aufblitzenden poetischen Schönheiten kaum Abbruch tut.
FLORIAN BORCHMEYER.
Edgardo Cozarinsky: "Die Braut aus Odessa". Erzählungen. Aus dem Spanischen übersetzt von Sabine Giersberg. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2005. 172 S., geb., 17,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Diese Erzählungen von Edgardo Cozarinsky haben den Rezensenten Florian Borchmeyer beeindruckt, auch wenn er eine gewisse Holzschnittartigkeit der Figuren und des Erzählstils bemerkt. Das Grundthema der Geschichten ist Heimatlosigkeit, erfahren wir. Cozarinsky, ein in Paris lebender Argentinier russischer Herkunft, erzählt von nach Argentinien auswandernden ukrainischen Juden, Knaben liebenden österreichischen Schriftstellern im Exil oder einem amerikanischen Historiker in Lissabon, der nach Spuren seines jüdischen Großvaters sucht. Am Ende finden alle den Tod. Borchmeyer kommt es vor, als wären sie "allesamt Statisten in einer anonymen Geschichtsmaschinerie" - was ihnen eine besondere Tragik verleihe. Weniger gut gefallen dem Rezensenten allerdings die "eigentümlichen geschichtsphilosophischen Thesen", die der Autor immer wieder einflicht. Der "poetischen Schönheit", die immer wieder aufblitzt, können diese jedoch nichts anhaben, bekennt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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