Die Briten und wir: Warum der Brexit nicht das Ende der britisch-europäischen Partnerschaft sein wird
Europa hat in der Geschichte Großbritanniens stets eine wichtige Rolle gespielt. Seit Jahrhunderten mischen sich die Briten mit Lust in die Geschicke der europäischen Nachbarstaaten ein - und werden wiederum von den Ereignissen dort beeinflusst. In seiner fulminanten Geschichte der tausendjährigen, turbulenten Beziehung zwischen den Briten und Europa zeigt Brendan Simms ebenso faktenreich wie unterhaltsam, warum man die eine Seite des Ärmelkanals nicht ohne die andere denken kann. Sein Buch bündelt die Glanzlichter und die Tiefpunkte der britisch-europäischen Geschichte vom Mittelalter bis zum Brexit und ist ein eindrucksvolles Plädoyer für eine enge Partnerschaft, auch über das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU hinaus.
Europa hat in der Geschichte Großbritanniens stets eine wichtige Rolle gespielt. Seit Jahrhunderten mischen sich die Briten mit Lust in die Geschicke der europäischen Nachbarstaaten ein - und werden wiederum von den Ereignissen dort beeinflusst. In seiner fulminanten Geschichte der tausendjährigen, turbulenten Beziehung zwischen den Briten und Europa zeigt Brendan Simms ebenso faktenreich wie unterhaltsam, warum man die eine Seite des Ärmelkanals nicht ohne die andere denken kann. Sein Buch bündelt die Glanzlichter und die Tiefpunkte der britisch-europäischen Geschichte vom Mittelalter bis zum Brexit und ist ein eindrucksvolles Plädoyer für eine enge Partnerschaft, auch über das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU hinaus.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.05.2019Silbersee und Sicherheit
Wer auf einer Insel lebt, muss die Häfen an den Küsten gegenüber kontrollieren:
Brendan Simms liefert in „Die Briten und Europa“ einen geopolitischen Kommentar zum Brexit
VON GUSTAV SEIBT
Winston Churchill war historisch umfassend vorbereitet, als er 1940 britischer Premierminister wurde und den Kampf mit Hitler aufnahm. Auf die Welt kam er in Blenheim Palace, dem enormen Landschloss, das sein Vorfahr, der Herzog von Marlborough, von der englischen Königin erhalten hatte, und zwar für seinen 1704 gegen Ludwig XIV. errungenen Sieg bei Höchstedt an der Donau, nahe dem Dorf Blindheim. Über der Gartenfront von Blenheim thront eine Büste des französischen Königs als edelste Trophäe eines großen Kriegs.
Seit 1933 veröffentlichte Churchill eine monumentale Biografie seines Vorfahren in vier Bänden. Einen Auszug daraus konnte der frisch ernannte Premierminister 1940 mit eigens dazu verfasstem Vorwort in die Battle of Britain senden. Die Konstellation schien sich zu wiederholen: Wieder focht Großbritannien gegen den Versuch, auf dem europäischen Kontinent eine erdrückende Hegemonie zu errichten, wie seit Jahrhunderten, erst gegen Spanien, dann gegen das Frankreich Ludwigs XIV., schließlich gegen Napoleon. Auch in den weniger dramatischen Zeiten dazwischen achtete England auf das europäische Gleichgewicht, vor allem auf seine Gegenküste zwischen Frankreich und Holland.
„Britain's Europe“ heißt der englische Titel der Darstellung, die Brendan Simms diesen langen Linien des britisch-europäischen Verhältnisses gewidmet hat. Sie reicht von den angelsächsischen Königreichen des Frühmittelalters bis zum Brexit. Simms ist ein prononcierter Geopolitiker und damit ein ziemlich bunter Vogel unter den heutigen Historikern. Er konzipiert die Geschichte der europäischen Staaten als System wechselseitiger Abhängigkeiten in einem gemeinsamen Machtraum. Dabei kommt es auf eigenwüchsige Stärken ebenso an wie auf strukturelle Einflüsse von außen.
Die Geschichte, die Simms erzählt, ist einfach: Europa hat erst England, dann den britischen Vier-Nationen-Verbund aus England, Wales, Schottland und Irland geschaffen, zuletzt das britische Empire. Denn die wachsenden Kreise britischer Macht entstanden aus Gefahrenabwehr, erst gegen Dänen und Wikinger, dann gegen das mittelalterliche Frankreich, schließlich gegen Spanien, dann wieder gegen Frankreich und gegen Deutschland. Inseln waren in vormodernen Zeiten schneller zu erreichen, verwundbarer als ferne Länder, Flottenabwehr kaum möglich – England musste sich, wollte es unbehelligt in seiner Shakespeare’schen Silbersee leben, die gegenüberliegenden Häfen sichern und durfte auf dem Kontinent keine unbezwingbare Macht entstehen lassen.
Und darum ist, so die andere Seite dieser wuchtigen Erzählung, Europa, seine Kleinteiligkeit und Vielgliedrigkeit, auch ein Ergebnis britischer Politik. Zudem erfand England in diesem Kampf die politischen Formen, die am Ende überall kopiert wurden, Nation und Nationenverbund mit einem parlamentarischen System. Dieses sicherte maximale Kreditwürdigkeit (in den Parlamenten saßen die Gläubiger, die auf Rückzahlung von Schulden achten) und einen Steuer- und Verwaltungsstaat, der so umfassend nur in einem System der Konsense ausgebildet werden konnte. Äußere und innere Stärken entwickelten sich gemeinsam.
Eine stolze Geschichte! Man sollte sie lesen, auch in ihren intellektuellen Wendungen, die Simms immer wieder zitiert, bevor man sich wegen der heutigen parlamentarischen Wirren zu eilfertigem Spott verleiten lässt. Simms ist ein patriotischer Europhiler, also ein Typus, den man demnächst vermutlich wieder verstärkt brauchen wird. Er rechnet umfänglich die fortbestehenden Stärken des Vereinigten Königreichs auf, nicht zuletzt als Militärmacht. Er hält Großbritannien nach wie vor für eine Großmacht, die demnächst Deutschland auch wirtschaftlich wieder überholen werde.
Dabei übersieht Simms nicht, dass sich seit dem Kalten Krieg das geopolitische Umfeld, das ihm so wichtig ist, fundamental verändert hat. Der europäische Kontinent ist bei aller Konkurrenz keine Bedrohung für die Insel mehr. Daher konnte Großbritannien auch sein Empire wieder abstoßen und seine inneren Bande lockern. Die EU-Frage hat heute sogar das Potenzial zu neuen Abspaltungen von Schottland und Nordirland. In den Neunzigerjahren allerdings, so behauptet Simms, hatte das Vereinigte Königreich kurzzeitig die Chance, zum „Preußen“ der EU zu werden, also zur Vormacht einer auch politisch engen Vereinigung. Ob ihm da nicht der analogisierende Gaul durchgeht, mag man mit guten Gründen fragen.
Immerhin steckt in solchen Übersichten und Vergleichen auch eine Warnung an die Europäische Union. Denn geschichtsbewusste Kreise auf der Insel könnten die Versuchung spüren, die alte Rolle Englands als Spalter in Europa wiederaufzunehmen. Dass künftig jede Regierung und jedes Parlament in London so kopflos agieren wird wie die heutigen, darf man getrost bezweifeln. Trotzdem wirkt das Buch von Simms merkwürdig aus der Zeit gefallen. Sein altmodischer geopolitischer Blick versperrt ihm die Einsicht in die neuartigen Funktionsweisen der EU, die er als dysfunktionales Gebilde nach Art des Alten Reichs in Deutschland begreift (damit auch dieses unterschätzend). Die Hartleibigkeit der EU in den Vertragsfragen vermag Simms nicht als Systemzwang anzuerkennen: Als könne „Europa“ wegen eines Austrittswilligen sämtliche Verträge mit allen Beteiligten zur Disposition stellen. Denn das müsste die EU, wenn sie separate Freihandelsabkommen ihrer Mitglieder mit Großbritannien zuließe.
Wenn es bei Nordirland, wie Simms zu Recht feststellt, um die Frage geht, ob Großbritannien eine Hintertür zu Europa bekomme oder Europa eine Hintertür zu Großbritannien, dann erklärt er ja die Unversöhnlichkeit. Die Lösung dürfte in vorgelagerten Zollabfertigungen liegen, und auch für sie gibt es Vorläufer in der europäisch-britischen Geschichte: in jenen frühmodernen Zeiten, als Häfen wie Calais an der nordfranzösischen Küste zu England gehörten. Doch das eigentliche Pferd in der Stube bei all diesen feinsinnigen Analogien ist der Umstand, dass Europa und damit auch England längst in einem viel größeren, nämlich globalen geopolitischen Raum leben. Er ist zuletzt beunruhigend multipolar geworden, und seine Hauptakteure sitzen in anderen Kontinenten.
Auch für das Aufgehen kleinerer Mächtesysteme in größeren Zusammenhängen gäbe es Analogien, beim antiken Griechenland oder den Kleinstaaten Italiens im fünfzehnten Jahrhundert. Beide Kleinmächtegruppen wurden von externen Akteuren übernommen. Ist das nicht längst die Konstellation für Europa, das daher gut beraten war, sich immer enger zusammenzuschließen? Auch für die Europäische Union gilt das Gesetz des Drucks von außen, der sie zusammenschmieden müsste, wie einst die Königreiche der britischen Inseln. Wer wie Simms am Ende seines Buches vom „Versagen“ der EU redet, sollte fragen, wer eigentlich die Akteure dieses Versagens waren.
Dann aber wird man auf national agierende Mitgliedsstaaten kommen, die sich immer noch so aufführen, als sei Europa ein Mächtesystem und nicht ein dringend auf Kooperation und Selbstbehauptung angewiesener Wirtschafts- und Rechtsraum. Vor diesem Hintergrund kann das kulturell so attraktive Beharren auf der britischen „Besonderheit“ in einem subtilen Sinn unhistorisch wirken, nämlich traditionsverhaftet.
England, so unterschied Helmuth Plessner, sei durch seine beeindruckenden Kontinuitäten das Land der Tradition, Deutschland aber mit seinen dramatischen Brüchen das Land der Geschichte. In diesem Sinn könnte man feststellen: Brendans Simms argumentiert traditionalistisch und darum unhistorisch.
Simms ist ein patriotischer
Europhiler, ein Typus, den man
verstärkt wieder brauchen wird
Auch für die EU gilt das Gesetz
des Drucks von außen, der sie
zusammenschließen musste
Britische Traditionen: Im Hintergrund Blenheim Palace, der Geburtsort Winston Churchills. Im Vordergrund der AC Ace, ein Klassiker unter den offenen Zweisitzern. Die 1913 gegründete Firma AC Cars Ltd., die den Sportwagen in den Fünfzigerjahren auf den Markt brachte, existiert nicht mehr.
Foto: mauritius images
Brendan Simms: Die Briten und Europa. Tausend Jahre Konflikt und Kooperation. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019. 400 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wer auf einer Insel lebt, muss die Häfen an den Küsten gegenüber kontrollieren:
Brendan Simms liefert in „Die Briten und Europa“ einen geopolitischen Kommentar zum Brexit
VON GUSTAV SEIBT
Winston Churchill war historisch umfassend vorbereitet, als er 1940 britischer Premierminister wurde und den Kampf mit Hitler aufnahm. Auf die Welt kam er in Blenheim Palace, dem enormen Landschloss, das sein Vorfahr, der Herzog von Marlborough, von der englischen Königin erhalten hatte, und zwar für seinen 1704 gegen Ludwig XIV. errungenen Sieg bei Höchstedt an der Donau, nahe dem Dorf Blindheim. Über der Gartenfront von Blenheim thront eine Büste des französischen Königs als edelste Trophäe eines großen Kriegs.
Seit 1933 veröffentlichte Churchill eine monumentale Biografie seines Vorfahren in vier Bänden. Einen Auszug daraus konnte der frisch ernannte Premierminister 1940 mit eigens dazu verfasstem Vorwort in die Battle of Britain senden. Die Konstellation schien sich zu wiederholen: Wieder focht Großbritannien gegen den Versuch, auf dem europäischen Kontinent eine erdrückende Hegemonie zu errichten, wie seit Jahrhunderten, erst gegen Spanien, dann gegen das Frankreich Ludwigs XIV., schließlich gegen Napoleon. Auch in den weniger dramatischen Zeiten dazwischen achtete England auf das europäische Gleichgewicht, vor allem auf seine Gegenküste zwischen Frankreich und Holland.
„Britain's Europe“ heißt der englische Titel der Darstellung, die Brendan Simms diesen langen Linien des britisch-europäischen Verhältnisses gewidmet hat. Sie reicht von den angelsächsischen Königreichen des Frühmittelalters bis zum Brexit. Simms ist ein prononcierter Geopolitiker und damit ein ziemlich bunter Vogel unter den heutigen Historikern. Er konzipiert die Geschichte der europäischen Staaten als System wechselseitiger Abhängigkeiten in einem gemeinsamen Machtraum. Dabei kommt es auf eigenwüchsige Stärken ebenso an wie auf strukturelle Einflüsse von außen.
Die Geschichte, die Simms erzählt, ist einfach: Europa hat erst England, dann den britischen Vier-Nationen-Verbund aus England, Wales, Schottland und Irland geschaffen, zuletzt das britische Empire. Denn die wachsenden Kreise britischer Macht entstanden aus Gefahrenabwehr, erst gegen Dänen und Wikinger, dann gegen das mittelalterliche Frankreich, schließlich gegen Spanien, dann wieder gegen Frankreich und gegen Deutschland. Inseln waren in vormodernen Zeiten schneller zu erreichen, verwundbarer als ferne Länder, Flottenabwehr kaum möglich – England musste sich, wollte es unbehelligt in seiner Shakespeare’schen Silbersee leben, die gegenüberliegenden Häfen sichern und durfte auf dem Kontinent keine unbezwingbare Macht entstehen lassen.
Und darum ist, so die andere Seite dieser wuchtigen Erzählung, Europa, seine Kleinteiligkeit und Vielgliedrigkeit, auch ein Ergebnis britischer Politik. Zudem erfand England in diesem Kampf die politischen Formen, die am Ende überall kopiert wurden, Nation und Nationenverbund mit einem parlamentarischen System. Dieses sicherte maximale Kreditwürdigkeit (in den Parlamenten saßen die Gläubiger, die auf Rückzahlung von Schulden achten) und einen Steuer- und Verwaltungsstaat, der so umfassend nur in einem System der Konsense ausgebildet werden konnte. Äußere und innere Stärken entwickelten sich gemeinsam.
Eine stolze Geschichte! Man sollte sie lesen, auch in ihren intellektuellen Wendungen, die Simms immer wieder zitiert, bevor man sich wegen der heutigen parlamentarischen Wirren zu eilfertigem Spott verleiten lässt. Simms ist ein patriotischer Europhiler, also ein Typus, den man demnächst vermutlich wieder verstärkt brauchen wird. Er rechnet umfänglich die fortbestehenden Stärken des Vereinigten Königreichs auf, nicht zuletzt als Militärmacht. Er hält Großbritannien nach wie vor für eine Großmacht, die demnächst Deutschland auch wirtschaftlich wieder überholen werde.
Dabei übersieht Simms nicht, dass sich seit dem Kalten Krieg das geopolitische Umfeld, das ihm so wichtig ist, fundamental verändert hat. Der europäische Kontinent ist bei aller Konkurrenz keine Bedrohung für die Insel mehr. Daher konnte Großbritannien auch sein Empire wieder abstoßen und seine inneren Bande lockern. Die EU-Frage hat heute sogar das Potenzial zu neuen Abspaltungen von Schottland und Nordirland. In den Neunzigerjahren allerdings, so behauptet Simms, hatte das Vereinigte Königreich kurzzeitig die Chance, zum „Preußen“ der EU zu werden, also zur Vormacht einer auch politisch engen Vereinigung. Ob ihm da nicht der analogisierende Gaul durchgeht, mag man mit guten Gründen fragen.
Immerhin steckt in solchen Übersichten und Vergleichen auch eine Warnung an die Europäische Union. Denn geschichtsbewusste Kreise auf der Insel könnten die Versuchung spüren, die alte Rolle Englands als Spalter in Europa wiederaufzunehmen. Dass künftig jede Regierung und jedes Parlament in London so kopflos agieren wird wie die heutigen, darf man getrost bezweifeln. Trotzdem wirkt das Buch von Simms merkwürdig aus der Zeit gefallen. Sein altmodischer geopolitischer Blick versperrt ihm die Einsicht in die neuartigen Funktionsweisen der EU, die er als dysfunktionales Gebilde nach Art des Alten Reichs in Deutschland begreift (damit auch dieses unterschätzend). Die Hartleibigkeit der EU in den Vertragsfragen vermag Simms nicht als Systemzwang anzuerkennen: Als könne „Europa“ wegen eines Austrittswilligen sämtliche Verträge mit allen Beteiligten zur Disposition stellen. Denn das müsste die EU, wenn sie separate Freihandelsabkommen ihrer Mitglieder mit Großbritannien zuließe.
Wenn es bei Nordirland, wie Simms zu Recht feststellt, um die Frage geht, ob Großbritannien eine Hintertür zu Europa bekomme oder Europa eine Hintertür zu Großbritannien, dann erklärt er ja die Unversöhnlichkeit. Die Lösung dürfte in vorgelagerten Zollabfertigungen liegen, und auch für sie gibt es Vorläufer in der europäisch-britischen Geschichte: in jenen frühmodernen Zeiten, als Häfen wie Calais an der nordfranzösischen Küste zu England gehörten. Doch das eigentliche Pferd in der Stube bei all diesen feinsinnigen Analogien ist der Umstand, dass Europa und damit auch England längst in einem viel größeren, nämlich globalen geopolitischen Raum leben. Er ist zuletzt beunruhigend multipolar geworden, und seine Hauptakteure sitzen in anderen Kontinenten.
Auch für das Aufgehen kleinerer Mächtesysteme in größeren Zusammenhängen gäbe es Analogien, beim antiken Griechenland oder den Kleinstaaten Italiens im fünfzehnten Jahrhundert. Beide Kleinmächtegruppen wurden von externen Akteuren übernommen. Ist das nicht längst die Konstellation für Europa, das daher gut beraten war, sich immer enger zusammenzuschließen? Auch für die Europäische Union gilt das Gesetz des Drucks von außen, der sie zusammenschmieden müsste, wie einst die Königreiche der britischen Inseln. Wer wie Simms am Ende seines Buches vom „Versagen“ der EU redet, sollte fragen, wer eigentlich die Akteure dieses Versagens waren.
Dann aber wird man auf national agierende Mitgliedsstaaten kommen, die sich immer noch so aufführen, als sei Europa ein Mächtesystem und nicht ein dringend auf Kooperation und Selbstbehauptung angewiesener Wirtschafts- und Rechtsraum. Vor diesem Hintergrund kann das kulturell so attraktive Beharren auf der britischen „Besonderheit“ in einem subtilen Sinn unhistorisch wirken, nämlich traditionsverhaftet.
England, so unterschied Helmuth Plessner, sei durch seine beeindruckenden Kontinuitäten das Land der Tradition, Deutschland aber mit seinen dramatischen Brüchen das Land der Geschichte. In diesem Sinn könnte man feststellen: Brendans Simms argumentiert traditionalistisch und darum unhistorisch.
Simms ist ein patriotischer
Europhiler, ein Typus, den man
verstärkt wieder brauchen wird
Auch für die EU gilt das Gesetz
des Drucks von außen, der sie
zusammenschließen musste
Britische Traditionen: Im Hintergrund Blenheim Palace, der Geburtsort Winston Churchills. Im Vordergrund der AC Ace, ein Klassiker unter den offenen Zweisitzern. Die 1913 gegründete Firma AC Cars Ltd., die den Sportwagen in den Fünfzigerjahren auf den Markt brachte, existiert nicht mehr.
Foto: mauritius images
Brendan Simms: Die Briten und Europa. Tausend Jahre Konflikt und Kooperation. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019. 400 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2019Ganz hervorragende Aussichten
Das Vereinigte Königreich - die letzte Großmacht Europas? Brendan Simms sichtet tausend Jahre Beziehungsgeschichte und deutet die britische Haltung als Ausdruck einer Sorge.
Die Debatten um den Brexit, die in den letzten Monaten die Schlagzeilen in Großbritannien und in Kontinentaleuropa beherrschten, bezogen sich vor allem auf die beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen. Das liegt nahe, denn es geht um das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union, also eines Staates zu einer suprastaatlichen Organisation, die aufgrund ihrer Geschichte und ihrer realen Fähigkeiten auf Handel und Finanzwesen konzentriert ist - die "Vier Freiheiten" der Europäischen Union beziehen sich nicht wie in Roosevelts "Vier-Freiheiten-Rede" aus dem Jahr 1941 auf die politische und soziale Freiheit der Rede, des Gottesdienstes, von Entbehrung und von Angst, sondern auf die ökonomische Freiheit des Transfers von Waren, Dienstleistungen und Kapital sowie auf die Freizügigkeit von arbeitenden oder konsumierenden Personen.
Brendan Simms' hochaktuelles Buch insistiert darauf, dass die wirtschaftliche Perspektive entscheidende Fragen außer Acht lässt, nämlich das außen- und sicherheitspolitische Verhältnis beider Seiten. Dieses Verhältnis sieht Simms durch eine Geographie bestimmt, welche die "Insel" mit dem "Kontinent" zusammenschweißt: 1944 "landeten britische, amerikanische und kanadische Soldaten in Nordfrankreich, wie es ihre Väter und Vorväter seit dem späten Mittelalter getan hatten"; ihr Weg nach Deutschland führte auch durch die "Sümpfe von Walcheren, durch die schon ihre Vorfahren in der napoleonischen Ära gewatet waren".
Die Wechselwirkung hatte zwei Seiten. Die erste: Großbritannien erhielt seine geographische Gestalt und seine gegenwärtige Verfassung im Kern aus sicherheitspolitischen Gründen. Weil sich das vergleichsweise kleine Königreich England seit seiner Entstehung in Frankreich mit einem potentiell übermächtigen Gegner konfrontiert sah, musste es die Effizienz seiner Institutionen steigern und die direkte Kontrolle über seine unmittelbaren Nachbarn Irland und Schottland erlangen. Die Kombination aus leistungsfähigen Institutionen, populärer politischer Beteiligung, großer Prosperität und der Abwesenheit einer unmittelbaren militärischen Bedrohung schuf spätestens im achtzehnten Jahrhundert einen Staat, der in der Lage war, weitaus mehr Macht auszuüben, als seiner Bevölkerung oder Fläche entsprochen hätte.
Die zweite: England begann in Ansätzen seit dem ausgehenden Mittelalter, spätestens aber mit dem achtzehnten Jahrhundert, das kontinentale Europa politisch zu ordnen. Ziel war es, durch ein Gleichgewicht der Mächte die Entstehung einer Hegemonialmacht zu verhindern. Wenn es gut lief, entstand so ein Raum des Friedens und Freihandels, wie zwischen 1815 und 1914; wenn es schlecht lief, war das Ziel nur durch eine massive Militärintervention zu erreichen, wie im Spanischen Erbfolgekrieg, im Siebenjährigen Krieg, in den napoleonischen Kriegen und den beiden Weltkriegen. Diese Orientierung der britischen Politik war intern umstritten - es gab durchgängig Befürworter einer Konzentration auf die überseeischen Territorien und einer Verringerung des europäischen Engagements. Allerdings setzte sich der Fokus auf Europa fast durchgängig durch. Auf dem europäischen Kontinent erschien diese britische Politik oft als Versuch, kontinentaleuropäische Mächte zu deren Nachteil gegeneinander in Stellung zu bringen - Echos davon sieht Simms in der Sorge der EU der siebenundzwanzig Staaten, sie könne durch den Brexit (wieder einmal) gespalten werden.
Im Gegensatz zu den vielen aktuellen Kommentaren, die auf die Stärke der EU und die (relative) Schwäche Großbritanniens verweisen, argumentiert Simms, dass sich an dieser Konstellation im Kern nichts geändert habe. Thesen über den Aufstieg von Mächten in Kontinentaleuropa und in Übersee sowie über den Abstieg von Großbritannien gebe es seit dem Hundertjährigen Krieg; in der Realität aber sei "das Vereinigte Königreich die letzte europäische Großmacht": die drittgrößte Militärmacht der Welt (nach den Vereinigten Staaten und China), dank der demographischen Expansion durch Geburten und Zuwanderung trotz aller mit den Brexit-Szenarien verbundenen Risiken ein Land mit hervorragenden wirtschaftlichen Aussichten, ein Land mit stabilen, bewährten Institutionen und einer stabilen Währung ohne die strukturellen Probleme des Euros.
Vor diesem Hintergrund interpretiert Simms die jüngste Politik Großbritanniens in der Europäischen Union, vor allem die der Regierung Cameron, als Ausdruck einer Sorge: Dass durch die Euro-Krise, die Migrationskrise und die Krise der europäischen Institutionen wieder ein ungeordneter Raum jenseits des Kanals zu entstehen drohe, der eine Intervention notwendig machen könne, denn "für Frontstaaten wie Polen" sei das Vereinigte Königreich "im Fall eines militärischen Notfalls wahrscheinlich die erste Anlaufstelle diesseits des Atlantiks".
Als historisch informierte politische Analyse stellt Simms die Kurzsichtigkeit einiger aktueller politischen Debatten und ihrer medialen Verarbeitung heraus. So ist es in der Tat nicht unbedingt Zeichen einer Krise der britischen Institutionen, wenn es der Regierung nicht gelingt, ihre Vorhaben mit Hilfe von "Heinrich VIII.-Klauseln" durch das Parlament zu peitschen. Das Abstimmungsverhalten des Unterhauses über das Austrittsabkommen, das bislang dreimal abgelehnt wurde, bestätigt Simms ja bereits Ende 2018 formulierte Prophezeiung, dass es der EU angesichts der realen Machtverhältnisse schwerfallen dürfte, dem Vereinigten Königreich seine (wirtschafts-)politischen Ordnungsvorstellungen aufzuzwingen.
Als Beitrag zur Historiographie der internationalen Beziehungen lädt das Werk dagegen zu einigen Rückfragen ein. Was genau sagen die geopolitischen Kontinuitäten eigentlich aus - und wovon hängen sie ab? Macht es nicht doch einen Unterschied, dass 1944 "britische, amerikanische und kanadische Soldaten" landeten, 1415 mit Heinrich V. dagegen nur Engländer? Wie erklärt sich nicht nur der britische Erfolg beim Aufbau eines dauerhaft starken Staates, sondern auch das kontinentale Versagen bei dem Versuch, es darin zu übertreffen? Könnten sich diese Verhältnisse nicht doch umkehren? Wird der Regierung Cameron nicht vielleicht doch zu viel Altruismus unterstellt? Wann ist die Vereinfachung komplexer Vorgänge zugunsten einer eingängigen und für die Gegenwart relevanten These sinnvoll, und wann droht sie ihrerseits, in die Irre zu führen? Auch zum Nachdenken darüber lädt das Buch ein.
ANDREAS FAHRMEIR
Brendan Simms:
"Die Briten und Europa". Tausend Jahre Konflikt und Kooperation.
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019. 400 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Vereinigte Königreich - die letzte Großmacht Europas? Brendan Simms sichtet tausend Jahre Beziehungsgeschichte und deutet die britische Haltung als Ausdruck einer Sorge.
Die Debatten um den Brexit, die in den letzten Monaten die Schlagzeilen in Großbritannien und in Kontinentaleuropa beherrschten, bezogen sich vor allem auf die beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen. Das liegt nahe, denn es geht um das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union, also eines Staates zu einer suprastaatlichen Organisation, die aufgrund ihrer Geschichte und ihrer realen Fähigkeiten auf Handel und Finanzwesen konzentriert ist - die "Vier Freiheiten" der Europäischen Union beziehen sich nicht wie in Roosevelts "Vier-Freiheiten-Rede" aus dem Jahr 1941 auf die politische und soziale Freiheit der Rede, des Gottesdienstes, von Entbehrung und von Angst, sondern auf die ökonomische Freiheit des Transfers von Waren, Dienstleistungen und Kapital sowie auf die Freizügigkeit von arbeitenden oder konsumierenden Personen.
Brendan Simms' hochaktuelles Buch insistiert darauf, dass die wirtschaftliche Perspektive entscheidende Fragen außer Acht lässt, nämlich das außen- und sicherheitspolitische Verhältnis beider Seiten. Dieses Verhältnis sieht Simms durch eine Geographie bestimmt, welche die "Insel" mit dem "Kontinent" zusammenschweißt: 1944 "landeten britische, amerikanische und kanadische Soldaten in Nordfrankreich, wie es ihre Väter und Vorväter seit dem späten Mittelalter getan hatten"; ihr Weg nach Deutschland führte auch durch die "Sümpfe von Walcheren, durch die schon ihre Vorfahren in der napoleonischen Ära gewatet waren".
Die Wechselwirkung hatte zwei Seiten. Die erste: Großbritannien erhielt seine geographische Gestalt und seine gegenwärtige Verfassung im Kern aus sicherheitspolitischen Gründen. Weil sich das vergleichsweise kleine Königreich England seit seiner Entstehung in Frankreich mit einem potentiell übermächtigen Gegner konfrontiert sah, musste es die Effizienz seiner Institutionen steigern und die direkte Kontrolle über seine unmittelbaren Nachbarn Irland und Schottland erlangen. Die Kombination aus leistungsfähigen Institutionen, populärer politischer Beteiligung, großer Prosperität und der Abwesenheit einer unmittelbaren militärischen Bedrohung schuf spätestens im achtzehnten Jahrhundert einen Staat, der in der Lage war, weitaus mehr Macht auszuüben, als seiner Bevölkerung oder Fläche entsprochen hätte.
Die zweite: England begann in Ansätzen seit dem ausgehenden Mittelalter, spätestens aber mit dem achtzehnten Jahrhundert, das kontinentale Europa politisch zu ordnen. Ziel war es, durch ein Gleichgewicht der Mächte die Entstehung einer Hegemonialmacht zu verhindern. Wenn es gut lief, entstand so ein Raum des Friedens und Freihandels, wie zwischen 1815 und 1914; wenn es schlecht lief, war das Ziel nur durch eine massive Militärintervention zu erreichen, wie im Spanischen Erbfolgekrieg, im Siebenjährigen Krieg, in den napoleonischen Kriegen und den beiden Weltkriegen. Diese Orientierung der britischen Politik war intern umstritten - es gab durchgängig Befürworter einer Konzentration auf die überseeischen Territorien und einer Verringerung des europäischen Engagements. Allerdings setzte sich der Fokus auf Europa fast durchgängig durch. Auf dem europäischen Kontinent erschien diese britische Politik oft als Versuch, kontinentaleuropäische Mächte zu deren Nachteil gegeneinander in Stellung zu bringen - Echos davon sieht Simms in der Sorge der EU der siebenundzwanzig Staaten, sie könne durch den Brexit (wieder einmal) gespalten werden.
Im Gegensatz zu den vielen aktuellen Kommentaren, die auf die Stärke der EU und die (relative) Schwäche Großbritanniens verweisen, argumentiert Simms, dass sich an dieser Konstellation im Kern nichts geändert habe. Thesen über den Aufstieg von Mächten in Kontinentaleuropa und in Übersee sowie über den Abstieg von Großbritannien gebe es seit dem Hundertjährigen Krieg; in der Realität aber sei "das Vereinigte Königreich die letzte europäische Großmacht": die drittgrößte Militärmacht der Welt (nach den Vereinigten Staaten und China), dank der demographischen Expansion durch Geburten und Zuwanderung trotz aller mit den Brexit-Szenarien verbundenen Risiken ein Land mit hervorragenden wirtschaftlichen Aussichten, ein Land mit stabilen, bewährten Institutionen und einer stabilen Währung ohne die strukturellen Probleme des Euros.
Vor diesem Hintergrund interpretiert Simms die jüngste Politik Großbritanniens in der Europäischen Union, vor allem die der Regierung Cameron, als Ausdruck einer Sorge: Dass durch die Euro-Krise, die Migrationskrise und die Krise der europäischen Institutionen wieder ein ungeordneter Raum jenseits des Kanals zu entstehen drohe, der eine Intervention notwendig machen könne, denn "für Frontstaaten wie Polen" sei das Vereinigte Königreich "im Fall eines militärischen Notfalls wahrscheinlich die erste Anlaufstelle diesseits des Atlantiks".
Als historisch informierte politische Analyse stellt Simms die Kurzsichtigkeit einiger aktueller politischen Debatten und ihrer medialen Verarbeitung heraus. So ist es in der Tat nicht unbedingt Zeichen einer Krise der britischen Institutionen, wenn es der Regierung nicht gelingt, ihre Vorhaben mit Hilfe von "Heinrich VIII.-Klauseln" durch das Parlament zu peitschen. Das Abstimmungsverhalten des Unterhauses über das Austrittsabkommen, das bislang dreimal abgelehnt wurde, bestätigt Simms ja bereits Ende 2018 formulierte Prophezeiung, dass es der EU angesichts der realen Machtverhältnisse schwerfallen dürfte, dem Vereinigten Königreich seine (wirtschafts-)politischen Ordnungsvorstellungen aufzuzwingen.
Als Beitrag zur Historiographie der internationalen Beziehungen lädt das Werk dagegen zu einigen Rückfragen ein. Was genau sagen die geopolitischen Kontinuitäten eigentlich aus - und wovon hängen sie ab? Macht es nicht doch einen Unterschied, dass 1944 "britische, amerikanische und kanadische Soldaten" landeten, 1415 mit Heinrich V. dagegen nur Engländer? Wie erklärt sich nicht nur der britische Erfolg beim Aufbau eines dauerhaft starken Staates, sondern auch das kontinentale Versagen bei dem Versuch, es darin zu übertreffen? Könnten sich diese Verhältnisse nicht doch umkehren? Wird der Regierung Cameron nicht vielleicht doch zu viel Altruismus unterstellt? Wann ist die Vereinfachung komplexer Vorgänge zugunsten einer eingängigen und für die Gegenwart relevanten These sinnvoll, und wann droht sie ihrerseits, in die Irre zu führen? Auch zum Nachdenken darüber lädt das Buch ein.
ANDREAS FAHRMEIR
Brendan Simms:
"Die Briten und Europa". Tausend Jahre Konflikt und Kooperation.
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019. 400 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein fesselnder Ritt durch 1000 Jahre der Beziehungen zwischen den Briten und Europa.« rbb kulturradio