Die Briten und wir: Warum der Brexit nicht das Ende der britisch-europäischen Partnerschaft sein wird
Europa hat in der Geschichte Großbritanniens stets eine wichtige Rolle gespielt. Seit Jahrhunderten mischen sich die Briten mit Lust in die Geschicke der europäischen Nachbarstaaten ein - und werden wiederum von den Ereignissen dort beeinflusst. In seiner fulminanten Geschichte der tausendjährigen, turbulenten Beziehung zwischen den Briten und Europa zeigt Brendan Simms ebenso faktenreich wie unterhaltsam, warum man die eine Seite des Ärmelkanals nicht ohne die andere denken kann. Sein Buch bündelt die Glanzlichter und die Tiefpunkte der britisch-europäischen Geschichte vom Mittelalter bis zum Brexit und ist ein eindrucksvolles Plädoyer für eine enge Partnerschaft, auch über das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU hinaus.
Europa hat in der Geschichte Großbritanniens stets eine wichtige Rolle gespielt. Seit Jahrhunderten mischen sich die Briten mit Lust in die Geschicke der europäischen Nachbarstaaten ein - und werden wiederum von den Ereignissen dort beeinflusst. In seiner fulminanten Geschichte der tausendjährigen, turbulenten Beziehung zwischen den Briten und Europa zeigt Brendan Simms ebenso faktenreich wie unterhaltsam, warum man die eine Seite des Ärmelkanals nicht ohne die andere denken kann. Sein Buch bündelt die Glanzlichter und die Tiefpunkte der britisch-europäischen Geschichte vom Mittelalter bis zum Brexit und ist ein eindrucksvolles Plädoyer für eine enge Partnerschaft, auch über das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU hinaus.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2019Ganz hervorragende Aussichten
Das Vereinigte Königreich - die letzte Großmacht Europas? Brendan Simms sichtet tausend Jahre Beziehungsgeschichte und deutet die britische Haltung als Ausdruck einer Sorge.
Die Debatten um den Brexit, die in den letzten Monaten die Schlagzeilen in Großbritannien und in Kontinentaleuropa beherrschten, bezogen sich vor allem auf die beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen. Das liegt nahe, denn es geht um das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union, also eines Staates zu einer suprastaatlichen Organisation, die aufgrund ihrer Geschichte und ihrer realen Fähigkeiten auf Handel und Finanzwesen konzentriert ist - die "Vier Freiheiten" der Europäischen Union beziehen sich nicht wie in Roosevelts "Vier-Freiheiten-Rede" aus dem Jahr 1941 auf die politische und soziale Freiheit der Rede, des Gottesdienstes, von Entbehrung und von Angst, sondern auf die ökonomische Freiheit des Transfers von Waren, Dienstleistungen und Kapital sowie auf die Freizügigkeit von arbeitenden oder konsumierenden Personen.
Brendan Simms' hochaktuelles Buch insistiert darauf, dass die wirtschaftliche Perspektive entscheidende Fragen außer Acht lässt, nämlich das außen- und sicherheitspolitische Verhältnis beider Seiten. Dieses Verhältnis sieht Simms durch eine Geographie bestimmt, welche die "Insel" mit dem "Kontinent" zusammenschweißt: 1944 "landeten britische, amerikanische und kanadische Soldaten in Nordfrankreich, wie es ihre Väter und Vorväter seit dem späten Mittelalter getan hatten"; ihr Weg nach Deutschland führte auch durch die "Sümpfe von Walcheren, durch die schon ihre Vorfahren in der napoleonischen Ära gewatet waren".
Die Wechselwirkung hatte zwei Seiten. Die erste: Großbritannien erhielt seine geographische Gestalt und seine gegenwärtige Verfassung im Kern aus sicherheitspolitischen Gründen. Weil sich das vergleichsweise kleine Königreich England seit seiner Entstehung in Frankreich mit einem potentiell übermächtigen Gegner konfrontiert sah, musste es die Effizienz seiner Institutionen steigern und die direkte Kontrolle über seine unmittelbaren Nachbarn Irland und Schottland erlangen. Die Kombination aus leistungsfähigen Institutionen, populärer politischer Beteiligung, großer Prosperität und der Abwesenheit einer unmittelbaren militärischen Bedrohung schuf spätestens im achtzehnten Jahrhundert einen Staat, der in der Lage war, weitaus mehr Macht auszuüben, als seiner Bevölkerung oder Fläche entsprochen hätte.
Die zweite: England begann in Ansätzen seit dem ausgehenden Mittelalter, spätestens aber mit dem achtzehnten Jahrhundert, das kontinentale Europa politisch zu ordnen. Ziel war es, durch ein Gleichgewicht der Mächte die Entstehung einer Hegemonialmacht zu verhindern. Wenn es gut lief, entstand so ein Raum des Friedens und Freihandels, wie zwischen 1815 und 1914; wenn es schlecht lief, war das Ziel nur durch eine massive Militärintervention zu erreichen, wie im Spanischen Erbfolgekrieg, im Siebenjährigen Krieg, in den napoleonischen Kriegen und den beiden Weltkriegen. Diese Orientierung der britischen Politik war intern umstritten - es gab durchgängig Befürworter einer Konzentration auf die überseeischen Territorien und einer Verringerung des europäischen Engagements. Allerdings setzte sich der Fokus auf Europa fast durchgängig durch. Auf dem europäischen Kontinent erschien diese britische Politik oft als Versuch, kontinentaleuropäische Mächte zu deren Nachteil gegeneinander in Stellung zu bringen - Echos davon sieht Simms in der Sorge der EU der siebenundzwanzig Staaten, sie könne durch den Brexit (wieder einmal) gespalten werden.
Im Gegensatz zu den vielen aktuellen Kommentaren, die auf die Stärke der EU und die (relative) Schwäche Großbritanniens verweisen, argumentiert Simms, dass sich an dieser Konstellation im Kern nichts geändert habe. Thesen über den Aufstieg von Mächten in Kontinentaleuropa und in Übersee sowie über den Abstieg von Großbritannien gebe es seit dem Hundertjährigen Krieg; in der Realität aber sei "das Vereinigte Königreich die letzte europäische Großmacht": die drittgrößte Militärmacht der Welt (nach den Vereinigten Staaten und China), dank der demographischen Expansion durch Geburten und Zuwanderung trotz aller mit den Brexit-Szenarien verbundenen Risiken ein Land mit hervorragenden wirtschaftlichen Aussichten, ein Land mit stabilen, bewährten Institutionen und einer stabilen Währung ohne die strukturellen Probleme des Euros.
Vor diesem Hintergrund interpretiert Simms die jüngste Politik Großbritanniens in der Europäischen Union, vor allem die der Regierung Cameron, als Ausdruck einer Sorge: Dass durch die Euro-Krise, die Migrationskrise und die Krise der europäischen Institutionen wieder ein ungeordneter Raum jenseits des Kanals zu entstehen drohe, der eine Intervention notwendig machen könne, denn "für Frontstaaten wie Polen" sei das Vereinigte Königreich "im Fall eines militärischen Notfalls wahrscheinlich die erste Anlaufstelle diesseits des Atlantiks".
Als historisch informierte politische Analyse stellt Simms die Kurzsichtigkeit einiger aktueller politischen Debatten und ihrer medialen Verarbeitung heraus. So ist es in der Tat nicht unbedingt Zeichen einer Krise der britischen Institutionen, wenn es der Regierung nicht gelingt, ihre Vorhaben mit Hilfe von "Heinrich VIII.-Klauseln" durch das Parlament zu peitschen. Das Abstimmungsverhalten des Unterhauses über das Austrittsabkommen, das bislang dreimal abgelehnt wurde, bestätigt Simms ja bereits Ende 2018 formulierte Prophezeiung, dass es der EU angesichts der realen Machtverhältnisse schwerfallen dürfte, dem Vereinigten Königreich seine (wirtschafts-)politischen Ordnungsvorstellungen aufzuzwingen.
Als Beitrag zur Historiographie der internationalen Beziehungen lädt das Werk dagegen zu einigen Rückfragen ein. Was genau sagen die geopolitischen Kontinuitäten eigentlich aus - und wovon hängen sie ab? Macht es nicht doch einen Unterschied, dass 1944 "britische, amerikanische und kanadische Soldaten" landeten, 1415 mit Heinrich V. dagegen nur Engländer? Wie erklärt sich nicht nur der britische Erfolg beim Aufbau eines dauerhaft starken Staates, sondern auch das kontinentale Versagen bei dem Versuch, es darin zu übertreffen? Könnten sich diese Verhältnisse nicht doch umkehren? Wird der Regierung Cameron nicht vielleicht doch zu viel Altruismus unterstellt? Wann ist die Vereinfachung komplexer Vorgänge zugunsten einer eingängigen und für die Gegenwart relevanten These sinnvoll, und wann droht sie ihrerseits, in die Irre zu führen? Auch zum Nachdenken darüber lädt das Buch ein.
ANDREAS FAHRMEIR
Brendan Simms:
"Die Briten und Europa". Tausend Jahre Konflikt und Kooperation.
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019. 400 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Vereinigte Königreich - die letzte Großmacht Europas? Brendan Simms sichtet tausend Jahre Beziehungsgeschichte und deutet die britische Haltung als Ausdruck einer Sorge.
Die Debatten um den Brexit, die in den letzten Monaten die Schlagzeilen in Großbritannien und in Kontinentaleuropa beherrschten, bezogen sich vor allem auf die beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen. Das liegt nahe, denn es geht um das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union, also eines Staates zu einer suprastaatlichen Organisation, die aufgrund ihrer Geschichte und ihrer realen Fähigkeiten auf Handel und Finanzwesen konzentriert ist - die "Vier Freiheiten" der Europäischen Union beziehen sich nicht wie in Roosevelts "Vier-Freiheiten-Rede" aus dem Jahr 1941 auf die politische und soziale Freiheit der Rede, des Gottesdienstes, von Entbehrung und von Angst, sondern auf die ökonomische Freiheit des Transfers von Waren, Dienstleistungen und Kapital sowie auf die Freizügigkeit von arbeitenden oder konsumierenden Personen.
Brendan Simms' hochaktuelles Buch insistiert darauf, dass die wirtschaftliche Perspektive entscheidende Fragen außer Acht lässt, nämlich das außen- und sicherheitspolitische Verhältnis beider Seiten. Dieses Verhältnis sieht Simms durch eine Geographie bestimmt, welche die "Insel" mit dem "Kontinent" zusammenschweißt: 1944 "landeten britische, amerikanische und kanadische Soldaten in Nordfrankreich, wie es ihre Väter und Vorväter seit dem späten Mittelalter getan hatten"; ihr Weg nach Deutschland führte auch durch die "Sümpfe von Walcheren, durch die schon ihre Vorfahren in der napoleonischen Ära gewatet waren".
Die Wechselwirkung hatte zwei Seiten. Die erste: Großbritannien erhielt seine geographische Gestalt und seine gegenwärtige Verfassung im Kern aus sicherheitspolitischen Gründen. Weil sich das vergleichsweise kleine Königreich England seit seiner Entstehung in Frankreich mit einem potentiell übermächtigen Gegner konfrontiert sah, musste es die Effizienz seiner Institutionen steigern und die direkte Kontrolle über seine unmittelbaren Nachbarn Irland und Schottland erlangen. Die Kombination aus leistungsfähigen Institutionen, populärer politischer Beteiligung, großer Prosperität und der Abwesenheit einer unmittelbaren militärischen Bedrohung schuf spätestens im achtzehnten Jahrhundert einen Staat, der in der Lage war, weitaus mehr Macht auszuüben, als seiner Bevölkerung oder Fläche entsprochen hätte.
Die zweite: England begann in Ansätzen seit dem ausgehenden Mittelalter, spätestens aber mit dem achtzehnten Jahrhundert, das kontinentale Europa politisch zu ordnen. Ziel war es, durch ein Gleichgewicht der Mächte die Entstehung einer Hegemonialmacht zu verhindern. Wenn es gut lief, entstand so ein Raum des Friedens und Freihandels, wie zwischen 1815 und 1914; wenn es schlecht lief, war das Ziel nur durch eine massive Militärintervention zu erreichen, wie im Spanischen Erbfolgekrieg, im Siebenjährigen Krieg, in den napoleonischen Kriegen und den beiden Weltkriegen. Diese Orientierung der britischen Politik war intern umstritten - es gab durchgängig Befürworter einer Konzentration auf die überseeischen Territorien und einer Verringerung des europäischen Engagements. Allerdings setzte sich der Fokus auf Europa fast durchgängig durch. Auf dem europäischen Kontinent erschien diese britische Politik oft als Versuch, kontinentaleuropäische Mächte zu deren Nachteil gegeneinander in Stellung zu bringen - Echos davon sieht Simms in der Sorge der EU der siebenundzwanzig Staaten, sie könne durch den Brexit (wieder einmal) gespalten werden.
Im Gegensatz zu den vielen aktuellen Kommentaren, die auf die Stärke der EU und die (relative) Schwäche Großbritanniens verweisen, argumentiert Simms, dass sich an dieser Konstellation im Kern nichts geändert habe. Thesen über den Aufstieg von Mächten in Kontinentaleuropa und in Übersee sowie über den Abstieg von Großbritannien gebe es seit dem Hundertjährigen Krieg; in der Realität aber sei "das Vereinigte Königreich die letzte europäische Großmacht": die drittgrößte Militärmacht der Welt (nach den Vereinigten Staaten und China), dank der demographischen Expansion durch Geburten und Zuwanderung trotz aller mit den Brexit-Szenarien verbundenen Risiken ein Land mit hervorragenden wirtschaftlichen Aussichten, ein Land mit stabilen, bewährten Institutionen und einer stabilen Währung ohne die strukturellen Probleme des Euros.
Vor diesem Hintergrund interpretiert Simms die jüngste Politik Großbritanniens in der Europäischen Union, vor allem die der Regierung Cameron, als Ausdruck einer Sorge: Dass durch die Euro-Krise, die Migrationskrise und die Krise der europäischen Institutionen wieder ein ungeordneter Raum jenseits des Kanals zu entstehen drohe, der eine Intervention notwendig machen könne, denn "für Frontstaaten wie Polen" sei das Vereinigte Königreich "im Fall eines militärischen Notfalls wahrscheinlich die erste Anlaufstelle diesseits des Atlantiks".
Als historisch informierte politische Analyse stellt Simms die Kurzsichtigkeit einiger aktueller politischen Debatten und ihrer medialen Verarbeitung heraus. So ist es in der Tat nicht unbedingt Zeichen einer Krise der britischen Institutionen, wenn es der Regierung nicht gelingt, ihre Vorhaben mit Hilfe von "Heinrich VIII.-Klauseln" durch das Parlament zu peitschen. Das Abstimmungsverhalten des Unterhauses über das Austrittsabkommen, das bislang dreimal abgelehnt wurde, bestätigt Simms ja bereits Ende 2018 formulierte Prophezeiung, dass es der EU angesichts der realen Machtverhältnisse schwerfallen dürfte, dem Vereinigten Königreich seine (wirtschafts-)politischen Ordnungsvorstellungen aufzuzwingen.
Als Beitrag zur Historiographie der internationalen Beziehungen lädt das Werk dagegen zu einigen Rückfragen ein. Was genau sagen die geopolitischen Kontinuitäten eigentlich aus - und wovon hängen sie ab? Macht es nicht doch einen Unterschied, dass 1944 "britische, amerikanische und kanadische Soldaten" landeten, 1415 mit Heinrich V. dagegen nur Engländer? Wie erklärt sich nicht nur der britische Erfolg beim Aufbau eines dauerhaft starken Staates, sondern auch das kontinentale Versagen bei dem Versuch, es darin zu übertreffen? Könnten sich diese Verhältnisse nicht doch umkehren? Wird der Regierung Cameron nicht vielleicht doch zu viel Altruismus unterstellt? Wann ist die Vereinfachung komplexer Vorgänge zugunsten einer eingängigen und für die Gegenwart relevanten These sinnvoll, und wann droht sie ihrerseits, in die Irre zu führen? Auch zum Nachdenken darüber lädt das Buch ein.
ANDREAS FAHRMEIR
Brendan Simms:
"Die Briten und Europa". Tausend Jahre Konflikt und Kooperation.
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019. 400 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein fesselnder Ritt durch 1000 Jahre der Beziehungen zwischen den Briten und Europa.« rbb kulturradio