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Produktdetails
  • Verlag: Luchterhand
  • ISBN-13: 9783763264896
  • Artikelnr.: 36323346
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.02.2023

Süße Stille

Ivo Andrics Roman "Die Brücke über die Drina" ist das berühmteste Werk der jugoslawischen Literatur. Und es bietet eine seltsame Formulierung.

Von Alexander García Düttmann

In seinem Roman "Die Brücke über die Drina", der sich in der deutschen Taschenbuchausgabe über fünfhundert Seiten erstreckt und 1945 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, verwendet der - bosnische? serbische? jugoslawische? - Schriftsteller Ivo Andric mehrmals eine eigentümliche Wendung. Er nennt wiederholt eine "süße Stille". Zumindest in der Übersetzung von Ernst Jonas, die Katharina Wolf-Grießhaber überarbeitet hat, ist von einer solchen "Stille" die Rede. Im Original heißt es "slatka tisina".

Am Anfang des dreizehnten Kapitels, in dem die Stadt Visegrad bereits von Österreich-Ungarn besetzt ist, liest man: "Das vierte Jahr der Besatzungszeit war gekommen. Es schien sich alles ziemlich beruhigt und eingespielt zu haben. Wenn auch die unwiederbringliche 'süße Stille' der türkischen Zeiten nicht zurückkam, so begann doch wenigstens eine Ordnung nach den neuen Auffassungen einzukehren." Dann, sechs Kapitel später und nach der Thematisierung der bosnischen Annexionskrise im Roman, wird diese "süße Stille" ein weiteres Mal erwähnt: "Die Menschen ergriff schlicht eine innere Unruhe, auch die unwissenden und einfachsten, besonders aber die Jugendlichen, und niemandem genügte das einförmige Leben [...] Jeder wünschte sich mehr, forderte Besseres oder fürchtete sich vor Schlimmerem. Die älteren Leute trauerten noch der 'süßen Stille' nach, die in der Türkenzeit als das Endziel und die vollendetste Form des öffentlichen und privaten Lebens gegolten und noch in den ersten Jahrzehnten der österreichischen Verwaltung geherrscht hatte. Aber das waren nur wenige. Alle anderen sehnten sich nach einem lauten, aufregenden und unruhigen Dasein. Sie wollten eigenes Erleben oder das Echo fremder Erlebnisse oder wenigstens Buntheit, Lärm und Aufregung, die die Illusion des Erlebens vermittelten. Das änderte aber nicht nur das Bewusstsein der Menschen, sondern auch das Äußere der Stadt. Sogar das ewig gleiche Leben auf der Kapija, mit den stillen Gesprächen und dem geruhsamen Nachdenken, den heiteren Scherzen und sentimentalen Liebesliedern zwischen Wasser, Himmel und Bergen, begann sich zu ändern." Die Kapija ist bekanntlich der Versammlungsort auf der breiten Plattform, die bei Visegrad die Mitte der Steinbrücke über die Drina bildet.

Schließlich ist noch ein drittes Mal von einer "süßen Stille" die Rede, in dem Augenblick, in dem während des Ersten Weltkriegs ein serbisches Geschoss in ein Geschäft am Markt einschlägt. Der alte Muslim Alihodza, eine wiederkehrende Romanfigur, hat sich in einen beinahe geheimen, sargähnlichen Raum seines Geschäfts zurückgezogen. Er fühlt sich darin wohl, weil er unsichtbar bleibt, fernab von allem Treiben und allen Auseinandersetzungen, gleichzeitig aber beobachten kann, was sich draußen, in der Nähe der Brücke, ereignet. Plötzlich fühlt Alihodza, "wie die Bank unter ihm in die Höhe" schießt und ihn "wie ein Spielzeug" emporhebt. Seine "schöne Stille", in der Übersetzung nun ohne Anführungszeichen, als wäre sie eine unwahrscheinliche gegenwärtige Wirklichkeit, die unversehens zerbricht, nicht eine ersehnte Vergangenheit, verwandelt sich jäh in ein "Dröhnen und berstendes Krachen". (Nur das Wort "slatka", süß, wird im Original hier in Anführungszeichen gesetzt.)

Worauf die Anführungszeichen, mit denen Andric die "süße Stille" zweimal umgibt, auch deuten mögen - ob sie die Wendung als eine lokale Floskel zu erkennen geben oder eine Unwirklichkeit anzeigen, die durch die verklärende Wirkung eines Rückblicks durchschimmert -, seine Leser kommen nicht umhin, sich zu fragen, was mit dieser Stille, so "unwiederbringlich" sie sein mag, gemeint ist, vor allem wenn sie als die "vollendetste Form des öffentlichen und privaten Lebens" gelten kann. Ist sie nichts anderes als ein Klischee für eine vormoderne Zeit, die es als eine des Gehorsams und Stillstands anzusehen gilt? Andric hat, zwanzig Jahre vor seinem Roman, eine Dissertation über die "Entwicklung des geistigen Lebens in Bosnien unter der Einwirkung der türkischen Herrschaft" verfasst, in der man vergeblich nach der "süßen Stille" sucht. In seinen "Nachtgedanken" definiert er Stille so: "Stille ist im Grunde nur die Regungslosigkeit der Materie, aber was sich nicht bewegt, existiert nicht, und Nichtexistenz ist gut, auf sie strebt alles zu."

Die "süße Stille", mag sie nun den Alltag bestimmt haben oder nicht, kehrt nicht zurück, nachdem sie verloren gegangen ist. Dennoch muss von ihr eine Spur geblieben sein, die Spur einer Trauer, als würde die von der habsburgischen Monarchie gestiftete Ordnung, die die türkische Herrschaft ersetzt hat, im Alltag von sich abweichen. Oder als wäre die bloße Nennung oder Erwähnung dieser Stille, deren Gegenwart sich unter keinen Umständen erneuern lässt, schon eine Verzögerung. An all den Stellen, an denen sich Andric in seinem Roman auf die "süße Stille" bezieht, ist sie weniger ein vergangener Zustand oder eine erloschene Lebensform als eine Verzögerung in der Gegenwart, selbst dort, wo sie tatsächlich in der Gegenwart einen Ort hat und ihre Bedrohtheit, der Schatten der Unwirklichkeit, der schon auf sie fällt, sie der schlagartigen und brutalen Auflösung preisgibt, als sich das Unglück schließlich ereignet.

Nichts scheint, vor allem in Zeiten schnellen und unbeirrten Umbruchs, mehr belächelnde Missbilligung, achselzuckende Gleichgültigkeit, ja Verhöhnung, Häme und Spott hervorzurufen als der Ausdruck einer Sehnsucht nach vergangenen Zuständen und erloschenen Lebensformen. Man muss sich beeilen, um überhaupt noch mitzukommen, man muss dem Unheil voraus sein, um sich von ihm nicht unvorbereitet einholen zu lassen, und will in jenem Ausdruck nichts anderes erblicken als eine Verdrängung oder Verleugnung, als eine trotzige und verblendete Unwilligkeit, als ein ohnmächtiges, dümmliches, komisches, verstocktes, verbittertes Wegsehen, das sich etwas vormacht, statt die Gegenwart so zu betrachten, wie sie nun einmal ist. Die peinliche Nostalgie verweigert sich hilflos der unabwendbaren und unergründbaren Zukunft, die überall in sie einbricht. Sie ist ein Symptom hilflosen Alterns, unfähig zur Selbsterhaltung und Selbstverwandlung, das die Anpassung vereitelt und den kleinen Vorsprung verspielt, den man sich von ihr erhofft. Wenn es eine noch so ferne Möglichkeit der Veränderung des Geschehens geben kann, der beschleunigten gegenwärtigen Veränderungen, muss man sie woanders suchen, nicht im Unwiederbringlichen, das nicht stark genug war, um fortzubestehen, und das lediglich eine nachträgliche und darum reaktionäre Erfindung ist, die umso unweigerlicher dem Lärm, der Kakophonie, den Explosionen erliegt. Über eine "süße Stille" kann man einzig herfallen, sie als quietistisch-nihilistische Ideologie vergangener Unterdrückung denunzieren, als würde ihre Wehrlosigkeit eine verdächtige Hartnäckigkeit in sich bergen, die man um keinen Preis dulden darf.

Jedes Mal übersieht man aber, dass die "süße Stille" nicht nur vor ihrer Anrufung liegen kann, die sie als solche bereits stört, sondern, eben als Verzögerung, als Hemmung, als Zurückhaltung, als anhaltende Öffnung einer Lücke, ja als Kapija in der Anrufung selbst liegen muss. Die Anrufung der "süßen Stille" erzeugt sie, setzt sie nicht einfach voraus. Für die Anrufung, die Sehnsucht, die Nostalgie oder, weniger emphatisch oder pathetisch formuliert, den Hinweis auf die "süße Stille" bedeutet das nichts anderes, als dass diese die Eindeutigkeit aus den Angeln hebt, die ihnen so eifrig von ihren verschiedenen Verwerfungen und Ablehnungen verliehen wird. Die "süße Stille" ist der ihrer Anrufung innewohnende Moment, wo die beharrliche, betäubende, dröhnende Einstimmigkeit ins Schwanken gerät, mit der man sich gegen sie wendet.

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