In elf weit gespannten Bögen 250 Schritte lang, 10 Schritte breit schwingt sich die Brücke über die Drina. Bei Viscaronegrad, einer bosnischen Stadt nahe der serbischen Grenze, führt sie über den Fluss. Seit Jahrhunderten ist sie ein Treffpunkt für Menschen von beiden Ufern, ist Trennlinie und Bindeglied zwischen Orient und Okzident.
In seinem Meisterwerk entrollt Ivo Andric; ein gewaltiges Zeitpanorama vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg und erzählt von den vielfältigen Schicksalen der Menschen, die dort aufeinandertrafen.
In seinem Meisterwerk entrollt Ivo Andric; ein gewaltiges Zeitpanorama vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg und erzählt von den vielfältigen Schicksalen der Menschen, die dort aufeinandertrafen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2023Nur eines ist beständig
Mit Ivo Andrics Roman "Die Brücke über die Drina" nach Visegrad. Der Roman erzählt von einem Gefühl, das es in Bosnien nicht mehr gibt.
Die Gewehrläufe waren noch heiß und die Minen frisch gelegt, als Peter Handke 1995 von der anderen Seite an die Drina kam, von der serbischen Provinzstadt Bajina Basta aus, nicht von Sarajevo. In seiner "Winterlichen Reise" versucht er vergeblich, aus dem sanktionsgebeutelten Restjugoslawien, in dem Benzin aus Plastikflaschen fließt, den Grenzfluss nach Bosnien zu übertreten. Ein Polizist weist ihn und seine Freunde zurück. Er kann nur von hüben über den Nebel der Drina in das vom Krieg zerrissene Land blicken. Später, im "Sommerlichen Nachtrag", schafft er es dann doch hinüber und sieht rund fünfzig Kilometer flussabwärts in Visegrad die berühmte alte Brücke über die Drina. Und eine leere, lebensleere Stadt. Aber die Brücke steht immer, egal, wem die Stadt gerade gehört, wie bei seinem Nobelpreisträger-Kollegen Ivo Andric.
Im Winter bin ich zum ersten Mal von Sarajevo gen Osten nach Visegrad gefahren und habe mich gefragt, wie rasch man eine Hauptstadt hinter sich lassen kann. Denn sofort hinter dem zentralen Marktplatz und dem Rathaus von Sarajevo, in dessen Trümmern 1992 ein Cellist trotz Sniper-Angriffen 22 Tage lang für die Opfer des Krieges spielte, beginnt die Nichtstadt. Man blickt auf karge und kalte Gebirge hinter dem Willkommensschild der Serbenrepublik am rechten Straßenrand. Von jetzt an steht die kyrillische Version der gleichen Sprache an erster Stelle auf den Straßenschildern. An renovierten orthodoxen Kirchen und Lebensmittelläden mit Leuchtreklamen für serbische Brauereien vorbei fahre ich weiter die Schlucht der Drina entlang. Bis zur bosnisch-serbischen Grenze wird der grünblaue Fluss immer breiter, bis er kurz vor Visegrad zum Stausee anwächst. Die Brücke ist das erste Anzeichen der Stadt. Von der Magistrale aus gesehen verbirgt sie sich hinter wuchernden Gebüschen.
Ivo Andric, der ewige Südslawe, war die Verkörperung des entgrenzten Raums. Im zentralbosnischen Travnik 1892 in eine katholisch-kroatische Familie aus Sarajevo hineingeboren, wuchs er bei einer Tante in Visegrad auf und studierte in den westlichen Fernen der Donaumonarchie. Während des Ersten Weltkriegs saß er in politischer Haft, während des zweiten schrieb er drei seiner größten Romane, darunter auch "Die Brücke über die Drina", zu einer Zeit, in der er "nicht einmal zwei Münzen" für sein Leben gegeben hätte, wie er später sagte. 1961 gewann er den Literaturnobelpreis.
Ist das überhaupt ein Roman? Andric hat eine vordergründig nüchterne Chronik geschrieben, über fünf Jahrhunderte vom Bau der Brücke bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs - Geschichten, die man sich immer noch erzählt, auch wenn sich alles ändert: wenn man Rum statt Rakija trinkt und die Österreicher auf einmal mit der Eisenbahn kommen und Annexionserklärungen verlesen.
Bosnien ist zwar der Schauplatz, aber Andrics Erzählung ist so universell und metaphysisch, dass sie schon zu vielen allegorischen Zeigefingern geworden ist. Man sehe die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs darin, sagen die einen, der Roman zeige das bald friedliche, bald latent angespannte Zusammenleben von Völkern und Religionen im kommunistischen Jugoslawien, sagen die anderen. Über alldem steht, wie Menschen mit dem Wandel umgehen und wie er Teil von ihnen wird. Andric fragte 1961 in Stockholm in seiner Nobelpreisrede, ob wir nicht in Gegenwart und Vergangenheit alle mit den gleichen Problemen und Phänomenen konfrontiert seien.
Baja Sokolovic, ein Kind aus der Nähe von Visegrad, wird von den im frühneuzeitlichen Bosnien herrschenden Osmanen nach Istanbul entführt, wo er zum Großwesir namens Mehmed Pascha aufsteigt und in seiner Heimat eine Brücke errichten lässt. Wie symbolisch: eine Verbindung von Orient und Okzident, von den in Visegrad Zurückgebliebenen freilich zunächst blöd angeguckt. Andric erzählt, gehüllt in Kleinstadtanekdoten, Physiognomien, Lebensläufe und Alltagsschilderungen, wie die Kapija, der breiteste Teil auf der Brücke, nach und nach zum Drehpunkt der Öffentlichkeit wird. Auf der großen Brücke gibt es viele kleine: zwischen alten und jungen Menschen, zwischen Bauern und Städtern, zwischen Kartenspielern und Händlern, zwischen Serben und Muslimen (und allen anderen!) - und zwischen Begehrten und Begehrenden: "Auf der Kapija und um die Kapija erlebten sie die ersten Liebesschwärmereien, erste Blicke treffen sich im Vorübergehen, erste Zurufe und erstes Geflüster", schreibt der Chronist seines Romans, kästnerhaft guckend im Vorübergehen.
Später, zur Zeit Österreich-Ungarns, kehren die Gymnasiasten aus Sarajevo und die Studenten aus Wien oder Zagreb auf Heimaturlaub zurück nach Visegrad und lungern dort in amerikanischen Anzügen auf der Brücke herum, fast ein Kammerspiel. Singend geht es um das, was an der neuen Welt der Universität läuft, auch um den aufziehenden Nationalismus und die Anfänge der feinen Unterschiede. "In Schülergesprächen folgt jeder seinen eigenen Gedanken", weiß der Chronist. Schade, dass der warme Klang der serbokroatischen Dialoge im Buch nicht ins Deutsche gerettet werden kann: Ganz gleich, welcher Religion oder welchem Volk Andrics flüchtige Figuren angehören, die vielen Turzismen und die Flapsigkeit der Dialoge sind eine Liebeserklärung an den bosnischen Multikulti-Geist. Der Originaltitel des Romans verwendet nicht den serbokroatisch hochsprachlichen Ausdruck für "Brücke", sondern den etymologisch türkischen, und dass die Feiernden der urserbischen und urorthodoxen Tradition der Slava bei ihrer Zeremonie einen Fez tragen, erzählt der Chronist mit genauso beiläufiger Normalität wie vom ausgiebigen Alkohol- und Tabakgenuss der Muslime von Visegrad.
Wer heute durch diese Stadt spaziert, dem wird klar: So etwas wollen die meisten hier nicht mehr, sie wären gerne jenseits der Drina, Teil von Serbien, eigentlich fühlt man sich auch so. Wie bei Andric rauchen und trinken die Leute immer noch zusammen und erzählen sich Geschichten, aber es ist klar, wer in den Cafés und Grillrestaurants die kulturelle Hegemonie innehat. Die Straßen sind nach serbischen National- und Amselfeld-Helden benannt, Graffiti feiern Putins "Spezialoperation", und wenn man über die Brücke in Richtung Altstadt geht, guckt das Denkmal des "dankbaren Volkes von Visegrad" an die "Beschützer der Serbenrepublik" trotzig und heroisch über die Straße, mit orthodoxem Kreuz auf der Brust.
Ivo Andric ist hier Kult: Der Filmregisseur Emir Kusturica hat auf dem in die Drina ragenden Teil des Ortes eine "Andric-Stadt" errichtet, als Kulisse für eine geplante Verfilmung des Romans, freilich mit Versatzstücken von serbisch-orthodox-klerikalem Dünkel in die Ödnis der monokulturellen Gegenwart gedrückt. Gipfel des Aberwitzes ist auf der Halbinsel eine Konditorei mit dem Namen "Sezession", offenbar anspielend auf die vermeintlich baldige Unabhängigkeit des serbischen Teils Bosnien-Hercegovinas. In dem pseudoorientalisch wirkenden Süßigkeitenpalast hängt ein Porträt von Wladimir Putin neben solchen von Che Guevara und Mahatma Gandhi über sehr schmackhafter Baklava in der Auslage. Die städtische Synagoge wurde schon nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Feuerwehrhaus umgebaut. Mehrere Moscheen gibt es in Visegrad zwar noch - Menschen, die hineingehen, bald wohl keine mehr. 2013 waren 95 Prozent der Einwohner orthodoxe Serben, 1971 nur 44 Prozent. Gut, dass man mit Andric belesen hierherkommt, um zu wissen, wie anders es ehedem gewesen ist.
Nach den blutigen Neunzigern gelesen, erkennt man in der "Brücke über die Drina" viel von dem, was zu dem Bürgerkrieg geführt hat. Ubiquitär ist die Gewalt, die immer auch ethnisch und politisch ist. Der aufmüpfige serbische Querulant Radisav wird von Abidaga, dem osmanischen Verwalter in Visegrad, für Sabotage bestraft, vor den großäugigen Städtern gepfählt und von der Brücke in die Drina gestoßen. Und als man während der Julikrise 1914 die Katastrophe heraufziehen sieht und die Serben, deren Landsmann Gavrilo Princip in Sarajevo das Seine vollbracht hatte, sich bewaffnen wie die Österreicher in Visegrad, da "vergingen die Sommernächte, aber ohne Gesang, ohne die Zusammenkünfte der jungen Burschen auf der Kapija, ohne das Flüstern der Paare im Dunklen". Andric kannte sein Bosnien. Er wusste: Es gab "immer heimliche Hassgefühle, Eifersüchteleien, religiöse Intoleranz und Grausamkeiten, aber auch Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft, Gefühle, die all diese bösen Triebe in erträglichen Grenzen gehalten hatten". Der erste Teil seiner Diagnose ist eingetreten.
Ist Andric der Chronist der einen Seite, so Peter Handke der der anderen. "Immer wieder sollen scharenweise Kadaver die Drina abwärts getrieben haben", bringt er eine Frau aus der serbischen Provinz zum Sprechen über den Krieg. Sie kannte aber niemanden, "der das mit eigenen Augen gesehen hatte". Selbst Handke aber, der Balkan-Querdenker, weiß von der Tristesse des ethnisch Reinen: "Nun waren hier in der Grenzstadt die Serben ganz unter sich, und keiner hatte dem anderen mehr etwas zu sagen", beschreibt er Bajina Basta auf der anderen Seite der Drina, von woher er über die Brücke kam. So sieht es heute auch in Visegrad aus. Andrics Buch erzählt von ganz unterschiedlichen Menschen, die zusammenleben und sich etwas sagen. Die Kapitel enden oft mit dem Satz: "Die Brücke steht immer noch." Und auch wenn nach dem jüngsten Kapitel in der Chronik von Visegrad nicht mehr viel von dem steht, wie die Stadt in Andrics Roman wirkt: Die Brücke steht noch. LUCA VAZGEC
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Mit Ivo Andrics Roman "Die Brücke über die Drina" nach Visegrad. Der Roman erzählt von einem Gefühl, das es in Bosnien nicht mehr gibt.
Die Gewehrläufe waren noch heiß und die Minen frisch gelegt, als Peter Handke 1995 von der anderen Seite an die Drina kam, von der serbischen Provinzstadt Bajina Basta aus, nicht von Sarajevo. In seiner "Winterlichen Reise" versucht er vergeblich, aus dem sanktionsgebeutelten Restjugoslawien, in dem Benzin aus Plastikflaschen fließt, den Grenzfluss nach Bosnien zu übertreten. Ein Polizist weist ihn und seine Freunde zurück. Er kann nur von hüben über den Nebel der Drina in das vom Krieg zerrissene Land blicken. Später, im "Sommerlichen Nachtrag", schafft er es dann doch hinüber und sieht rund fünfzig Kilometer flussabwärts in Visegrad die berühmte alte Brücke über die Drina. Und eine leere, lebensleere Stadt. Aber die Brücke steht immer, egal, wem die Stadt gerade gehört, wie bei seinem Nobelpreisträger-Kollegen Ivo Andric.
Im Winter bin ich zum ersten Mal von Sarajevo gen Osten nach Visegrad gefahren und habe mich gefragt, wie rasch man eine Hauptstadt hinter sich lassen kann. Denn sofort hinter dem zentralen Marktplatz und dem Rathaus von Sarajevo, in dessen Trümmern 1992 ein Cellist trotz Sniper-Angriffen 22 Tage lang für die Opfer des Krieges spielte, beginnt die Nichtstadt. Man blickt auf karge und kalte Gebirge hinter dem Willkommensschild der Serbenrepublik am rechten Straßenrand. Von jetzt an steht die kyrillische Version der gleichen Sprache an erster Stelle auf den Straßenschildern. An renovierten orthodoxen Kirchen und Lebensmittelläden mit Leuchtreklamen für serbische Brauereien vorbei fahre ich weiter die Schlucht der Drina entlang. Bis zur bosnisch-serbischen Grenze wird der grünblaue Fluss immer breiter, bis er kurz vor Visegrad zum Stausee anwächst. Die Brücke ist das erste Anzeichen der Stadt. Von der Magistrale aus gesehen verbirgt sie sich hinter wuchernden Gebüschen.
Ivo Andric, der ewige Südslawe, war die Verkörperung des entgrenzten Raums. Im zentralbosnischen Travnik 1892 in eine katholisch-kroatische Familie aus Sarajevo hineingeboren, wuchs er bei einer Tante in Visegrad auf und studierte in den westlichen Fernen der Donaumonarchie. Während des Ersten Weltkriegs saß er in politischer Haft, während des zweiten schrieb er drei seiner größten Romane, darunter auch "Die Brücke über die Drina", zu einer Zeit, in der er "nicht einmal zwei Münzen" für sein Leben gegeben hätte, wie er später sagte. 1961 gewann er den Literaturnobelpreis.
Ist das überhaupt ein Roman? Andric hat eine vordergründig nüchterne Chronik geschrieben, über fünf Jahrhunderte vom Bau der Brücke bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs - Geschichten, die man sich immer noch erzählt, auch wenn sich alles ändert: wenn man Rum statt Rakija trinkt und die Österreicher auf einmal mit der Eisenbahn kommen und Annexionserklärungen verlesen.
Bosnien ist zwar der Schauplatz, aber Andrics Erzählung ist so universell und metaphysisch, dass sie schon zu vielen allegorischen Zeigefingern geworden ist. Man sehe die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs darin, sagen die einen, der Roman zeige das bald friedliche, bald latent angespannte Zusammenleben von Völkern und Religionen im kommunistischen Jugoslawien, sagen die anderen. Über alldem steht, wie Menschen mit dem Wandel umgehen und wie er Teil von ihnen wird. Andric fragte 1961 in Stockholm in seiner Nobelpreisrede, ob wir nicht in Gegenwart und Vergangenheit alle mit den gleichen Problemen und Phänomenen konfrontiert seien.
Baja Sokolovic, ein Kind aus der Nähe von Visegrad, wird von den im frühneuzeitlichen Bosnien herrschenden Osmanen nach Istanbul entführt, wo er zum Großwesir namens Mehmed Pascha aufsteigt und in seiner Heimat eine Brücke errichten lässt. Wie symbolisch: eine Verbindung von Orient und Okzident, von den in Visegrad Zurückgebliebenen freilich zunächst blöd angeguckt. Andric erzählt, gehüllt in Kleinstadtanekdoten, Physiognomien, Lebensläufe und Alltagsschilderungen, wie die Kapija, der breiteste Teil auf der Brücke, nach und nach zum Drehpunkt der Öffentlichkeit wird. Auf der großen Brücke gibt es viele kleine: zwischen alten und jungen Menschen, zwischen Bauern und Städtern, zwischen Kartenspielern und Händlern, zwischen Serben und Muslimen (und allen anderen!) - und zwischen Begehrten und Begehrenden: "Auf der Kapija und um die Kapija erlebten sie die ersten Liebesschwärmereien, erste Blicke treffen sich im Vorübergehen, erste Zurufe und erstes Geflüster", schreibt der Chronist seines Romans, kästnerhaft guckend im Vorübergehen.
Später, zur Zeit Österreich-Ungarns, kehren die Gymnasiasten aus Sarajevo und die Studenten aus Wien oder Zagreb auf Heimaturlaub zurück nach Visegrad und lungern dort in amerikanischen Anzügen auf der Brücke herum, fast ein Kammerspiel. Singend geht es um das, was an der neuen Welt der Universität läuft, auch um den aufziehenden Nationalismus und die Anfänge der feinen Unterschiede. "In Schülergesprächen folgt jeder seinen eigenen Gedanken", weiß der Chronist. Schade, dass der warme Klang der serbokroatischen Dialoge im Buch nicht ins Deutsche gerettet werden kann: Ganz gleich, welcher Religion oder welchem Volk Andrics flüchtige Figuren angehören, die vielen Turzismen und die Flapsigkeit der Dialoge sind eine Liebeserklärung an den bosnischen Multikulti-Geist. Der Originaltitel des Romans verwendet nicht den serbokroatisch hochsprachlichen Ausdruck für "Brücke", sondern den etymologisch türkischen, und dass die Feiernden der urserbischen und urorthodoxen Tradition der Slava bei ihrer Zeremonie einen Fez tragen, erzählt der Chronist mit genauso beiläufiger Normalität wie vom ausgiebigen Alkohol- und Tabakgenuss der Muslime von Visegrad.
Wer heute durch diese Stadt spaziert, dem wird klar: So etwas wollen die meisten hier nicht mehr, sie wären gerne jenseits der Drina, Teil von Serbien, eigentlich fühlt man sich auch so. Wie bei Andric rauchen und trinken die Leute immer noch zusammen und erzählen sich Geschichten, aber es ist klar, wer in den Cafés und Grillrestaurants die kulturelle Hegemonie innehat. Die Straßen sind nach serbischen National- und Amselfeld-Helden benannt, Graffiti feiern Putins "Spezialoperation", und wenn man über die Brücke in Richtung Altstadt geht, guckt das Denkmal des "dankbaren Volkes von Visegrad" an die "Beschützer der Serbenrepublik" trotzig und heroisch über die Straße, mit orthodoxem Kreuz auf der Brust.
Ivo Andric ist hier Kult: Der Filmregisseur Emir Kusturica hat auf dem in die Drina ragenden Teil des Ortes eine "Andric-Stadt" errichtet, als Kulisse für eine geplante Verfilmung des Romans, freilich mit Versatzstücken von serbisch-orthodox-klerikalem Dünkel in die Ödnis der monokulturellen Gegenwart gedrückt. Gipfel des Aberwitzes ist auf der Halbinsel eine Konditorei mit dem Namen "Sezession", offenbar anspielend auf die vermeintlich baldige Unabhängigkeit des serbischen Teils Bosnien-Hercegovinas. In dem pseudoorientalisch wirkenden Süßigkeitenpalast hängt ein Porträt von Wladimir Putin neben solchen von Che Guevara und Mahatma Gandhi über sehr schmackhafter Baklava in der Auslage. Die städtische Synagoge wurde schon nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Feuerwehrhaus umgebaut. Mehrere Moscheen gibt es in Visegrad zwar noch - Menschen, die hineingehen, bald wohl keine mehr. 2013 waren 95 Prozent der Einwohner orthodoxe Serben, 1971 nur 44 Prozent. Gut, dass man mit Andric belesen hierherkommt, um zu wissen, wie anders es ehedem gewesen ist.
Nach den blutigen Neunzigern gelesen, erkennt man in der "Brücke über die Drina" viel von dem, was zu dem Bürgerkrieg geführt hat. Ubiquitär ist die Gewalt, die immer auch ethnisch und politisch ist. Der aufmüpfige serbische Querulant Radisav wird von Abidaga, dem osmanischen Verwalter in Visegrad, für Sabotage bestraft, vor den großäugigen Städtern gepfählt und von der Brücke in die Drina gestoßen. Und als man während der Julikrise 1914 die Katastrophe heraufziehen sieht und die Serben, deren Landsmann Gavrilo Princip in Sarajevo das Seine vollbracht hatte, sich bewaffnen wie die Österreicher in Visegrad, da "vergingen die Sommernächte, aber ohne Gesang, ohne die Zusammenkünfte der jungen Burschen auf der Kapija, ohne das Flüstern der Paare im Dunklen". Andric kannte sein Bosnien. Er wusste: Es gab "immer heimliche Hassgefühle, Eifersüchteleien, religiöse Intoleranz und Grausamkeiten, aber auch Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft, Gefühle, die all diese bösen Triebe in erträglichen Grenzen gehalten hatten". Der erste Teil seiner Diagnose ist eingetreten.
Ist Andric der Chronist der einen Seite, so Peter Handke der der anderen. "Immer wieder sollen scharenweise Kadaver die Drina abwärts getrieben haben", bringt er eine Frau aus der serbischen Provinz zum Sprechen über den Krieg. Sie kannte aber niemanden, "der das mit eigenen Augen gesehen hatte". Selbst Handke aber, der Balkan-Querdenker, weiß von der Tristesse des ethnisch Reinen: "Nun waren hier in der Grenzstadt die Serben ganz unter sich, und keiner hatte dem anderen mehr etwas zu sagen", beschreibt er Bajina Basta auf der anderen Seite der Drina, von woher er über die Brücke kam. So sieht es heute auch in Visegrad aus. Andrics Buch erzählt von ganz unterschiedlichen Menschen, die zusammenleben und sich etwas sagen. Die Kapitel enden oft mit dem Satz: "Die Brücke steht immer noch." Und auch wenn nach dem jüngsten Kapitel in der Chronik von Visegrad nicht mehr viel von dem steht, wie die Stadt in Andrics Roman wirkt: Die Brücke steht noch. LUCA VAZGEC
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"Ein großes menschliches und historisches Panorama. Was der Moderne zum Problem wurde, die Totalität einer Welt noch überzeugend im Rahmen eines Romans abzubilden, gelingt Andric mit einem ingeniösen Kunstgriff: Er führt vier mitteleuropäische Jahrhunderte durch das Nadelöhr seiner Drina-Brücke. Alles was in diesem Buch geschieht - und es geschieht viel -, ist bezogen auf dieses Bauwerk: Szenen des historischen Umbruchs, Episoden aus dem Alltagsleben, Legenden und Liebesdramen." Wolfgang Schneider, Tagesspiegel, 05.08.2011