Die mutige Reise einer Wandererin zwischen zwei Welten: Die Georg-Büchner-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar erzählt mit scharfem Blick und poetischer Zunge vom Leben einer jungen Türkin im Berlin und Istanbul von 1968, über die Fabrikarbeit bei Telefunken und die Sehnsucht nach der Schauspielerei, über das Heimweh und das Erwachen als Frau, über den politischen Aufbruch, APO und Anatolien, und den Alptraum politischer Repression.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.1998Plaudertasche, prall gefüllt
Emine Sevgi Özdamar baut eine Brücke zum Goldenen Horn
Emine Sevgi Özdamar, 1946 geboren, stammt aus der Türkei, aber sie schreibt in deutscher Sprache. Ist sie also eine türkische oder eine deutsche Schriftstellerin? Daß sich die Frage nicht schlüssig beantworten läßt, muß auf beiden Seiten niemanden irritieren, denn hier wie dort unterhält die Autorin ihr Publikum aufs beste. Sie tut es, indem sie seinen Alltag grundsätzlich beim Augenschein nimmt und sich nicht darum schert, was der jeweilige gesellschaftliche Konsens darüber sagt. Das hießt, sie bezieht die Pose des Märchenkindes, das den Kaiser nackt nennt, wenn er nackt ist. Im deutschen wie im türkischen Erzählmilieu zeitigt das ebenso informative wie erheiternde Effekte. Ein schlitzohriger Spaß, dessen Wirkung sich offenbar auch Preisrichter nicht entziehen können: Zwischen 1991 und 1995 wurde Emine Sevgi Özdamar dreimal ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis.
Den Stoff für ihre scheinbar arglosen Plaudereien bezieht die Autorin aus der eigenen Erfahrung. Als Plaudertasche präsentiert sie im vorliegenden Roman eine Siebzehnjährige, die uns im Ich-Ton anvertraut, daß sie zum Theater möchte und alles aufbieten wird, um ihren Wunsch gegen die etwas miefigen Eltern durchzusetzen. Soweit es den Theatertraum angeht, kopiert das Mädchen seine Schöpferin, deren spätere Laufbahn als Schauspielerin, Regisseurin und Stückeschreiberin 1976 in Ost-Berlin begann, dann über Bochum nach Frankfurt am Main und letzthin nach Frankreich führte. Ob freilich Özdamar, gleich ihrer Heldin, während der sechziger Jahre in Deutschland malochte, um Geld für die Schauspielschule zu verdienen, steht dahin. Doch so vieler Übereinstimmung bedarf es auch nicht. Unzählige Einzelheiten in den Romanszenen belegen, daß die Autorin weiß, wovon sie erzählt.
Die Heldin und ihre Gefährtinnen basteln Radiolampen bei der Firma Telefunken in Berlin. Dabei tauchen die Selbstverständlichkeiten des deutschen Alltags sonderbar verfremdet im türkischen Milieu wieder auf. Und keineswegs machen nur putzige Mißverständnisse uns lachen, sondern ebenso unsere eigenen Narreteien, die der fremde Blick unerwartet dekouvriert. Die frühen Gastarbeiterinnen verstehen kaum Deutsch, sie leben sozusagen unter einem Glassturz, der Reste ihrer gewohnten Lebensweise konserviert und die Wirklichkeit ringsum verzerrt. Aus dieser isolierten Position ließe sich viel Schwermütiges ableiten, aber das ist Özdamars Sache nicht. Sie nutzt die naive Beobachtungslust ihrer Heldin, um den deutschen wie den türkischen Protagonisten der Romanhandlung hinter die Fassaden zu schauen: Der deutsche Werkspförtner dünkt sich überlegen, ist aber in Wahrheit bloß ein kleiner Krauter. Die Türkinnen orientieren ihr Tun und Lassen ständig am Mann, ist keiner in Sichtweite, lassen sie sich gehen. Türkische Männer verstoßen mit Vorliebe gegen die Sittenregeln, deren Befolgung sie von den Frauen lauthals fordern. Deutsche Studenten schreien auf der Straße den Fortschritt aus, nehmen aber wenig Notiz von den türkischen Underdogs und deren Problemen.
Was unsere Siebzehnjährige sonst noch vorträgt, hat während der sechziger Jahre in den Zeitungen gestanden. Im Mädchenmund ist es vereinfacht durch Unerfahrenheit, in der Vereinfachung aber oft deutlicher konturiert, als es manch einem gewitzten Fach- und Sachbericht gelungen wäre. Die Kleine schwatzt alles ohne Entrüstung heraus, sie verlangt auch niemals, daß wir uns entrüsten. In ihrer Darstellung ist der Mensch schrecklich fehlerhaft und dennoch irgendwie liebenswert, meistens jedenfalls. Jeder Scherz wird zum Schlüssel, der uns Herzen und Hirne der Türkenfrauen öffnen soll. Das Wohnheim beispielsweise mutiert in den Mündern der Gastarbeiterinnen zum "Wonaym", eine phonetische Adaption, die das Massenquartier gewissermaßen entdeutscht und dadurch eine Spur heimeliger macht. Der im Krieg zertrümmerte Anhalter Bahnhof heißt zunächst "zerbrochener Bahnhof", dann, infolge der Doppelbedeutung des türkischen Adjektivs, "beleidigter Bahnhof".
Später wechselt der Schauplatz von Berlin nach Istanbul, nach Ankara, bis hin zur irakisch-iranischen Grenze. Wie vorher die deutsche wird von nun an die türkische Realität auf kleiner Flamme gekocht und in Häppchen serviert. Es ist die Zeit des Ministerpräsidenten Demirel und seiner Zwistigkeiten mit der Armeeführung; der linken Studentenrevolten und deren Niederwalzung durch Staatsterror; der Kluft zwischen einer relativen Moderne in den Städten und dem absoluten Mittelalter in den Dörfern. Unsere Heldin, inzwischen neunzehn und endlich Schauspielerin, sieht das alles, redet über alles und fühlt sich genötigt, Partei zu ergreifen. Ihre politischen Sympathien müßten links genannt werden, wenn sie nur recht wüßte, was genau das ist. Schon im Berliner "Wonaym" hatte dessen Leiter sie mit einschlägiger Lektüre versorgt, das Mädchen besitzt Bücher der meisten Klassiker des Sozialismus und des Kommunismus, selbstverständlich auch die Schriften von Marx und Engels. Aber sämtliche Botschaften verwandeln sich, wenn sie die Empfängerin erreichen, aus revolutionären Strategien in Aufträge der Seele. Die Erzählerin erklärt den Romanlesern die Innenpolitik ihrer Heimat auf dieselbe Weise wie zuvor die Berliner Szene, herznah, hautoffen und nicht ohne Komik - eine türkische Simplicia Simplicissima.
Im übrigen trotzt sie ihrer streng patriarchalischen Umwelt ein Stückchen Frauenfreiheit ab, riskiert Liebesabenteuer, um endlich ihren "Diamanten", sprich: ihre Unschuld, loszuwerden. Eine Jungfrau, so hat sie gehört, kann unmöglich eine gute Schauspielerin sein. Als der Hahnenkampf zwischen Regime und linken Studenten blutig ausartet, muß auch unsere Heldin sich gefährdet fühlen, und ihre abermalige Reise nach Berlin wird auf fatale Weise mehr als nur die Annäherung an den erhofften Theaterruhm. Durchs Fenster ihres Fluchtzuges grüßt von weitem die Brücke vom Goldenen Horn, Verbindung zwischen Asien und Europa, Symbol der Hoffnung auf Wiederkehr - irgendwann, wenn die Heimat ihren Frieden gefunden hat. SABINE BRANDT
Emine Sevgi Özdamar: "Die Brücke vom Goldenen Horn". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998. 333 S., geb., 39,80 DM.
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Emine Sevgi Özdamar baut eine Brücke zum Goldenen Horn
Emine Sevgi Özdamar, 1946 geboren, stammt aus der Türkei, aber sie schreibt in deutscher Sprache. Ist sie also eine türkische oder eine deutsche Schriftstellerin? Daß sich die Frage nicht schlüssig beantworten läßt, muß auf beiden Seiten niemanden irritieren, denn hier wie dort unterhält die Autorin ihr Publikum aufs beste. Sie tut es, indem sie seinen Alltag grundsätzlich beim Augenschein nimmt und sich nicht darum schert, was der jeweilige gesellschaftliche Konsens darüber sagt. Das hießt, sie bezieht die Pose des Märchenkindes, das den Kaiser nackt nennt, wenn er nackt ist. Im deutschen wie im türkischen Erzählmilieu zeitigt das ebenso informative wie erheiternde Effekte. Ein schlitzohriger Spaß, dessen Wirkung sich offenbar auch Preisrichter nicht entziehen können: Zwischen 1991 und 1995 wurde Emine Sevgi Özdamar dreimal ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis.
Den Stoff für ihre scheinbar arglosen Plaudereien bezieht die Autorin aus der eigenen Erfahrung. Als Plaudertasche präsentiert sie im vorliegenden Roman eine Siebzehnjährige, die uns im Ich-Ton anvertraut, daß sie zum Theater möchte und alles aufbieten wird, um ihren Wunsch gegen die etwas miefigen Eltern durchzusetzen. Soweit es den Theatertraum angeht, kopiert das Mädchen seine Schöpferin, deren spätere Laufbahn als Schauspielerin, Regisseurin und Stückeschreiberin 1976 in Ost-Berlin begann, dann über Bochum nach Frankfurt am Main und letzthin nach Frankreich führte. Ob freilich Özdamar, gleich ihrer Heldin, während der sechziger Jahre in Deutschland malochte, um Geld für die Schauspielschule zu verdienen, steht dahin. Doch so vieler Übereinstimmung bedarf es auch nicht. Unzählige Einzelheiten in den Romanszenen belegen, daß die Autorin weiß, wovon sie erzählt.
Die Heldin und ihre Gefährtinnen basteln Radiolampen bei der Firma Telefunken in Berlin. Dabei tauchen die Selbstverständlichkeiten des deutschen Alltags sonderbar verfremdet im türkischen Milieu wieder auf. Und keineswegs machen nur putzige Mißverständnisse uns lachen, sondern ebenso unsere eigenen Narreteien, die der fremde Blick unerwartet dekouvriert. Die frühen Gastarbeiterinnen verstehen kaum Deutsch, sie leben sozusagen unter einem Glassturz, der Reste ihrer gewohnten Lebensweise konserviert und die Wirklichkeit ringsum verzerrt. Aus dieser isolierten Position ließe sich viel Schwermütiges ableiten, aber das ist Özdamars Sache nicht. Sie nutzt die naive Beobachtungslust ihrer Heldin, um den deutschen wie den türkischen Protagonisten der Romanhandlung hinter die Fassaden zu schauen: Der deutsche Werkspförtner dünkt sich überlegen, ist aber in Wahrheit bloß ein kleiner Krauter. Die Türkinnen orientieren ihr Tun und Lassen ständig am Mann, ist keiner in Sichtweite, lassen sie sich gehen. Türkische Männer verstoßen mit Vorliebe gegen die Sittenregeln, deren Befolgung sie von den Frauen lauthals fordern. Deutsche Studenten schreien auf der Straße den Fortschritt aus, nehmen aber wenig Notiz von den türkischen Underdogs und deren Problemen.
Was unsere Siebzehnjährige sonst noch vorträgt, hat während der sechziger Jahre in den Zeitungen gestanden. Im Mädchenmund ist es vereinfacht durch Unerfahrenheit, in der Vereinfachung aber oft deutlicher konturiert, als es manch einem gewitzten Fach- und Sachbericht gelungen wäre. Die Kleine schwatzt alles ohne Entrüstung heraus, sie verlangt auch niemals, daß wir uns entrüsten. In ihrer Darstellung ist der Mensch schrecklich fehlerhaft und dennoch irgendwie liebenswert, meistens jedenfalls. Jeder Scherz wird zum Schlüssel, der uns Herzen und Hirne der Türkenfrauen öffnen soll. Das Wohnheim beispielsweise mutiert in den Mündern der Gastarbeiterinnen zum "Wonaym", eine phonetische Adaption, die das Massenquartier gewissermaßen entdeutscht und dadurch eine Spur heimeliger macht. Der im Krieg zertrümmerte Anhalter Bahnhof heißt zunächst "zerbrochener Bahnhof", dann, infolge der Doppelbedeutung des türkischen Adjektivs, "beleidigter Bahnhof".
Später wechselt der Schauplatz von Berlin nach Istanbul, nach Ankara, bis hin zur irakisch-iranischen Grenze. Wie vorher die deutsche wird von nun an die türkische Realität auf kleiner Flamme gekocht und in Häppchen serviert. Es ist die Zeit des Ministerpräsidenten Demirel und seiner Zwistigkeiten mit der Armeeführung; der linken Studentenrevolten und deren Niederwalzung durch Staatsterror; der Kluft zwischen einer relativen Moderne in den Städten und dem absoluten Mittelalter in den Dörfern. Unsere Heldin, inzwischen neunzehn und endlich Schauspielerin, sieht das alles, redet über alles und fühlt sich genötigt, Partei zu ergreifen. Ihre politischen Sympathien müßten links genannt werden, wenn sie nur recht wüßte, was genau das ist. Schon im Berliner "Wonaym" hatte dessen Leiter sie mit einschlägiger Lektüre versorgt, das Mädchen besitzt Bücher der meisten Klassiker des Sozialismus und des Kommunismus, selbstverständlich auch die Schriften von Marx und Engels. Aber sämtliche Botschaften verwandeln sich, wenn sie die Empfängerin erreichen, aus revolutionären Strategien in Aufträge der Seele. Die Erzählerin erklärt den Romanlesern die Innenpolitik ihrer Heimat auf dieselbe Weise wie zuvor die Berliner Szene, herznah, hautoffen und nicht ohne Komik - eine türkische Simplicia Simplicissima.
Im übrigen trotzt sie ihrer streng patriarchalischen Umwelt ein Stückchen Frauenfreiheit ab, riskiert Liebesabenteuer, um endlich ihren "Diamanten", sprich: ihre Unschuld, loszuwerden. Eine Jungfrau, so hat sie gehört, kann unmöglich eine gute Schauspielerin sein. Als der Hahnenkampf zwischen Regime und linken Studenten blutig ausartet, muß auch unsere Heldin sich gefährdet fühlen, und ihre abermalige Reise nach Berlin wird auf fatale Weise mehr als nur die Annäherung an den erhofften Theaterruhm. Durchs Fenster ihres Fluchtzuges grüßt von weitem die Brücke vom Goldenen Horn, Verbindung zwischen Asien und Europa, Symbol der Hoffnung auf Wiederkehr - irgendwann, wenn die Heimat ihren Frieden gefunden hat. SABINE BRANDT
Emine Sevgi Özdamar: "Die Brücke vom Goldenen Horn". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998. 333 S., geb., 39,80 DM.
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»Ein wunderbarer Roman mit herrlichen Findungen.« Hellmuth Karasek ZDF Das literarische Quartett