Favelas, die brasilianischen Elendsviertel, sind Orte der Gewalt. Wer hier lebt, hat kaum eine Chance, den Teufelskreis aus Armut, fehlenden Bildungschancen und Kriminalität zu durchbrechen. Wie wird aus einem Slum ein Ort mit Lebensqualität? Die Bewohner der Favela Monte Azul am Rande der Megacity São Paulo haben es geschafft, Gewalt und Elend aus eigener Kraft zu überwinden. Dunja Batarilo erzählt die packende Lebensgeschichte von Ute Craemer, die die Favela Monte Azul verwandelte und eine der erfolgreichsten Sozialorganisationen Brasiliens auf den Weg brachte. Basierend auf Interviews und Recherchen vor Ort lässt die Autorin ein lebendiges und informatives Brasilienbild jenseits gängiger Klischees entstehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.2014Die Rettung beginnt immer bei den Kindern
Dunja Batarilo über das außergewöhnliche Lebenswerk der Pädagogin Ute Craemer, die einer Favela in São Paulo Liebe, Struktur und Menschenwürde beschert
Von Gewalt, Kriminalität, Drogenproblemen und Korruption in brasilianischen Favelas hat jeder gehört. Immer wieder engagieren sich Zeitgenossen, um gegen diese Missstände anzukämpfen. Doch nur wenigen gelingt es, wirklich umfassende Erfolge vorzuweisen. Die deutsche Übersetzerin, Entwicklungshelferin und Pädagogin Ute Craemer hat schon in den siebziger Jahren damit begonnen, die Lebensverhältnisse der Bewohner des Elendsquartiers Monte Azul (Blauer Berg) im Süden von São Paulo zu verbessern.
Vierzig Jahre später kann sie als ihr Lebenswerk eine Favela vorweisen, in der das Zusammenleben der Bewohner menschenwürdiger geworden ist. Als Waldorf-Lehrerin hatte sie Erfahrung mit unkonventionellen Lehrmethoden. Unkonventionell ist in einer Favela schlicht alles. Viele Bewohner sind Zugewanderte, zumeist aus dem armen Nordosten, überwiegend alleinerziehende Mütter mit einer Riesenkinderschar. In den menschenunwürdigen Behausungen gibt es kein sauberes Trinkwasser, Strom wird illegal gezapft, bei Regen schwimmen die Hütten davon. Die Kinder haben stets Hunger.
Früh hat Ute Craemer erkannt, was heute als allgemeine Erkenntnis gilt: Den wie Krebsgeschwüre wachsenden Elendsvierteln in den lateinamerikanischen Großstädten ist nur mit Methoden der Urbanisierung beizukommen. Die Favelas beseitigen zu wollen schafft nur neue, oft noch desolatere Quartiere. Viele Missstände kann die Deutsche mit ihren Helfern im Laufe der Zeit ändern.
Eine Schule wird 1979 gebaut, Strom gibt es seit 1981, sauberes Trinkwasser seit 1986. Sie nimmt immer mehr Kinder bei sich auf. Die anfängliche Brutalität mancher ihrer Schützlinge schreckt sie nicht, sie bringt ihnen nach Waldorf-Manier Grundlagen des menschlichen Miteinanders bei, organisiert Ausflüge, Wettbewerbe und schafft vor allem Kontakte nach innen wie nach außen.
Die von ihr gegründete Associação Comunitária (Gemeinschaftsvereinigung) Monte Azul beschäftigt heute etwa 250 Mitarbeiter. Kindergärten und Kindertagesstätten sind entstanden, Jugendarbeit und Berufsausbildung werden angeboten, Kulturarbeit, medizinische Versorgung und Geburtshilfe. Bäckerei, Schreinerei, Gärtnerei und eine Nähstube sowie Informatikkurse kamen über die Jahre dazu, außerdem ökologischer Landbau, eine Musikschule - und eine Waldorfschule. In einem Kulturzentrum werden von den Bewohnern selbst geschriebene Theaterstücke aufgeführt.
Besonderen Wert legt Ute Craemer darauf, dass die Leute aus der Favela selbst Hand anlegen. Nur so konnte die Urbanisierung gelingen. Erziehung und Pädagogik sind die Grundlage der Sozialpolitik, lautet ihr Credo. Sie möchte den Favela-Bewohnern dabei helfen, ihre brasilianische Seele wiederzufinden, die ihnen die Weißen ausgetrieben haben.
"Das sind zutiefst verletzte Seelen. Ein Leben reicht gar nicht aus, um das zu heilen", sagt sie. Vertrauen und Liebe, etwas, das diese Menschen nie erfahren haben, müssten mühsam gewonnen werden. Auch Rückschläge gibt es. Todesnachrichten, oft durch Selbstjustiz, gehören beinahe zum Alltag. Selbst ein Raubüberfall auf ihr Haus schreckt sie nicht. Doch gerade der Erfolg von Monte Azul bewirkt bei Ute Craemer das Gefühl der Überforderung. Sie wehrt sich dagegen, Armut und Kriminalität gleichzusetzen. Außer den Drogen macht sie die im gesamten Staatswesen verbreitete Korruption und das Versagen früherer Regierungen in der Sozialpolitik für das Entstehen der organisierten Kriminalität mitverantwortlich.
Wenn die Zuwanderer in den siebziger Jahren besser versorgt worden wären, hätten sich die Sozialkonflikte nicht derart zugespitzt, sagt Ute Craemer über die organisierte Kriminalität der Banden von Drogenhändlern und gewöhnlichen Kriminellen. An Initiativen habe es zwar nicht gefehlt, doch seien die Gelder nicht dahin gekommen, wo sie gebraucht worden wären, in den unterentwickelten Nordosten schon gar nicht, meint Ute Craemer.
Die inzwischen sechsundsiebzig Jahre alte Deutsche berichtet in Vorträgen in Europa über ihre Erfahrungen und ist als Beraterin tätig. Ihre Organisation funktioniert mittlerweile auch ohne ihre Anwesenheit. Geld wirft unter anderem das Mülltrennungsprojekt ab, das die Associação 1989 in Kooperation mit der Stadt begonnen hat, das erste dieser Art in São Paulo. Mehr als tausend Praktikanten internationaler Herkunft haben bei ihrem Projekt mitgeholfen und auch davon profitiert. "Wer die Welt verändern will, muss bei den Kindern anfangen", lautet ihre Überzeugung, und danach hat sie gehandelt.
Die Geschichte von Ute Craemers Werk hat die deutschkroatische Autorin Dunja Batarilo unter Mitwirkung der Protagonistin aufgeschrieben und in einem Buch mit dem programmatischen Titel "Die Brückenbauerin" veröffentlicht. Batarilo war selbst als Freiwillige in Monte Azul tätig.
Ute Craemers Lebensweg von ihrem Geburtsort Weimar über Graz, Belgrad, Alexandria (Ägypten) und Lahore (Pakistan) - Orten, an denen ihr Vater als Universitätslehrer tätig war - bis schließlich ins brasilianische Londrina und nach São Paulo sowie die zahlreichen Alltagsgeschichten aus der Favela werden in lebendigem Reportagestil erzählt. Dazwischen eingestreut sind informative Artikel, die dem Leser den gesellschaftspolitischen und historischen Hintergrund erläutern, vor dem das Phänomen der Favelas entstanden ist.
JOSEF OEHRLEIN
Dunja Batarilo: "Die Brückenbauerin". Wie Ute Craemer die Favela Monte Azul verwandelte. Scoventa Verlag, Bad Vilbel 2014. 250 S., Abb., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dunja Batarilo über das außergewöhnliche Lebenswerk der Pädagogin Ute Craemer, die einer Favela in São Paulo Liebe, Struktur und Menschenwürde beschert
Von Gewalt, Kriminalität, Drogenproblemen und Korruption in brasilianischen Favelas hat jeder gehört. Immer wieder engagieren sich Zeitgenossen, um gegen diese Missstände anzukämpfen. Doch nur wenigen gelingt es, wirklich umfassende Erfolge vorzuweisen. Die deutsche Übersetzerin, Entwicklungshelferin und Pädagogin Ute Craemer hat schon in den siebziger Jahren damit begonnen, die Lebensverhältnisse der Bewohner des Elendsquartiers Monte Azul (Blauer Berg) im Süden von São Paulo zu verbessern.
Vierzig Jahre später kann sie als ihr Lebenswerk eine Favela vorweisen, in der das Zusammenleben der Bewohner menschenwürdiger geworden ist. Als Waldorf-Lehrerin hatte sie Erfahrung mit unkonventionellen Lehrmethoden. Unkonventionell ist in einer Favela schlicht alles. Viele Bewohner sind Zugewanderte, zumeist aus dem armen Nordosten, überwiegend alleinerziehende Mütter mit einer Riesenkinderschar. In den menschenunwürdigen Behausungen gibt es kein sauberes Trinkwasser, Strom wird illegal gezapft, bei Regen schwimmen die Hütten davon. Die Kinder haben stets Hunger.
Früh hat Ute Craemer erkannt, was heute als allgemeine Erkenntnis gilt: Den wie Krebsgeschwüre wachsenden Elendsvierteln in den lateinamerikanischen Großstädten ist nur mit Methoden der Urbanisierung beizukommen. Die Favelas beseitigen zu wollen schafft nur neue, oft noch desolatere Quartiere. Viele Missstände kann die Deutsche mit ihren Helfern im Laufe der Zeit ändern.
Eine Schule wird 1979 gebaut, Strom gibt es seit 1981, sauberes Trinkwasser seit 1986. Sie nimmt immer mehr Kinder bei sich auf. Die anfängliche Brutalität mancher ihrer Schützlinge schreckt sie nicht, sie bringt ihnen nach Waldorf-Manier Grundlagen des menschlichen Miteinanders bei, organisiert Ausflüge, Wettbewerbe und schafft vor allem Kontakte nach innen wie nach außen.
Die von ihr gegründete Associação Comunitária (Gemeinschaftsvereinigung) Monte Azul beschäftigt heute etwa 250 Mitarbeiter. Kindergärten und Kindertagesstätten sind entstanden, Jugendarbeit und Berufsausbildung werden angeboten, Kulturarbeit, medizinische Versorgung und Geburtshilfe. Bäckerei, Schreinerei, Gärtnerei und eine Nähstube sowie Informatikkurse kamen über die Jahre dazu, außerdem ökologischer Landbau, eine Musikschule - und eine Waldorfschule. In einem Kulturzentrum werden von den Bewohnern selbst geschriebene Theaterstücke aufgeführt.
Besonderen Wert legt Ute Craemer darauf, dass die Leute aus der Favela selbst Hand anlegen. Nur so konnte die Urbanisierung gelingen. Erziehung und Pädagogik sind die Grundlage der Sozialpolitik, lautet ihr Credo. Sie möchte den Favela-Bewohnern dabei helfen, ihre brasilianische Seele wiederzufinden, die ihnen die Weißen ausgetrieben haben.
"Das sind zutiefst verletzte Seelen. Ein Leben reicht gar nicht aus, um das zu heilen", sagt sie. Vertrauen und Liebe, etwas, das diese Menschen nie erfahren haben, müssten mühsam gewonnen werden. Auch Rückschläge gibt es. Todesnachrichten, oft durch Selbstjustiz, gehören beinahe zum Alltag. Selbst ein Raubüberfall auf ihr Haus schreckt sie nicht. Doch gerade der Erfolg von Monte Azul bewirkt bei Ute Craemer das Gefühl der Überforderung. Sie wehrt sich dagegen, Armut und Kriminalität gleichzusetzen. Außer den Drogen macht sie die im gesamten Staatswesen verbreitete Korruption und das Versagen früherer Regierungen in der Sozialpolitik für das Entstehen der organisierten Kriminalität mitverantwortlich.
Wenn die Zuwanderer in den siebziger Jahren besser versorgt worden wären, hätten sich die Sozialkonflikte nicht derart zugespitzt, sagt Ute Craemer über die organisierte Kriminalität der Banden von Drogenhändlern und gewöhnlichen Kriminellen. An Initiativen habe es zwar nicht gefehlt, doch seien die Gelder nicht dahin gekommen, wo sie gebraucht worden wären, in den unterentwickelten Nordosten schon gar nicht, meint Ute Craemer.
Die inzwischen sechsundsiebzig Jahre alte Deutsche berichtet in Vorträgen in Europa über ihre Erfahrungen und ist als Beraterin tätig. Ihre Organisation funktioniert mittlerweile auch ohne ihre Anwesenheit. Geld wirft unter anderem das Mülltrennungsprojekt ab, das die Associação 1989 in Kooperation mit der Stadt begonnen hat, das erste dieser Art in São Paulo. Mehr als tausend Praktikanten internationaler Herkunft haben bei ihrem Projekt mitgeholfen und auch davon profitiert. "Wer die Welt verändern will, muss bei den Kindern anfangen", lautet ihre Überzeugung, und danach hat sie gehandelt.
Die Geschichte von Ute Craemers Werk hat die deutschkroatische Autorin Dunja Batarilo unter Mitwirkung der Protagonistin aufgeschrieben und in einem Buch mit dem programmatischen Titel "Die Brückenbauerin" veröffentlicht. Batarilo war selbst als Freiwillige in Monte Azul tätig.
Ute Craemers Lebensweg von ihrem Geburtsort Weimar über Graz, Belgrad, Alexandria (Ägypten) und Lahore (Pakistan) - Orten, an denen ihr Vater als Universitätslehrer tätig war - bis schließlich ins brasilianische Londrina und nach São Paulo sowie die zahlreichen Alltagsgeschichten aus der Favela werden in lebendigem Reportagestil erzählt. Dazwischen eingestreut sind informative Artikel, die dem Leser den gesellschaftspolitischen und historischen Hintergrund erläutern, vor dem das Phänomen der Favelas entstanden ist.
JOSEF OEHRLEIN
Dunja Batarilo: "Die Brückenbauerin". Wie Ute Craemer die Favela Monte Azul verwandelte. Scoventa Verlag, Bad Vilbel 2014. 250 S., Abb., geb., 19,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Das Werk Ute Craemers, die in den siebziger Jahren begann, in brasilianischen Favelas zu arbeiten und in Monte Azul im Süden Sao Paulos auf den Grundpfeilern Erziehung und (Waldorf-)Pädagogik ihr Konzept der Urbanisierung zu etablieren, um die Lebensverhältnisse in den Favelas zu ändern, scheint Josef Oehrlein ein Buch wie dieses wert. Die Autorin Dunja Batarilo findet laut Oehrlein den richtigen (lebendigen) Ton, um zusammen mit Craemer deren Lebensgeschichte zu erzählen und sie durch Alltagsszenen aus Monte Azul und gesellschaftspolitischen Informationen zu ergänzen, schreibt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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