Drei Brüder, zwei Mütter, ein Vater, ein Ziel: Fußballprofi zu werden. George, der älteste, hat es nicht geschafft. Heute züchtet er Hunde und macht Musik. Kevin hat bei der WM 2010 für Ghana gespielt und trumpft nun bei AC Mailand auf. Bei Jérôme, so scheint es, lief alles nach Plan. Er verteidigt für den FC Bayern und die deutsche Nationalmannschaft.
Das Buch erzählt vom Aufwachsen in zwei grundverschiedenen Stadtteilen, von Unterstützung und Vernachlässigung in Familie, Schule und Fußballverein, vom Aufstieg im Profifußball bis hin zu den Spitzenklubs und von Integration und Ausgrenzung.
Die Geschichte beginnt im Berliner Wedding in einem Fußballkäfig am Panke-Kanal. Hier sind George (geboren 1982) und Kevin (geboren 1987) aufgewachsen, hier hat auch ihr Halbbruder Jérôme aus Berlin-Wilmersdorf (geboren 1988) das Fußballspielen gelernt. Doch es geht in diesem Buch um mehr als um Fußball und das Spiel mit und ohne Ball. Es geht um Väter und Söhne, um den abwesenden Vater, den afrikanischen Vater und deutschen Rassismus. Es geht um Schule und Ausbildung, um Familie und Vernachlässigung, um Lehrer und Trainer, um männliche Bezugspersonen. Es geht um Ehrgeiz und den Willen zum Erfolg, ums Kämpfen und Aufgeben, ums Hinfallen und Wiederaufstehen und um ein berühmtes Foul.
Das Buch erzählt vom Aufwachsen in zwei grundverschiedenen Stadtteilen, von Unterstützung und Vernachlässigung in Familie, Schule und Fußballverein, vom Aufstieg im Profifußball bis hin zu den Spitzenklubs und von Integration und Ausgrenzung.
Die Geschichte beginnt im Berliner Wedding in einem Fußballkäfig am Panke-Kanal. Hier sind George (geboren 1982) und Kevin (geboren 1987) aufgewachsen, hier hat auch ihr Halbbruder Jérôme aus Berlin-Wilmersdorf (geboren 1988) das Fußballspielen gelernt. Doch es geht in diesem Buch um mehr als um Fußball und das Spiel mit und ohne Ball. Es geht um Väter und Söhne, um den abwesenden Vater, den afrikanischen Vater und deutschen Rassismus. Es geht um Schule und Ausbildung, um Familie und Vernachlässigung, um Lehrer und Trainer, um männliche Bezugspersonen. Es geht um Ehrgeiz und den Willen zum Erfolg, ums Kämpfen und Aufgeben, ums Hinfallen und Wiederaufstehen und um ein berühmtes Foul.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.06.2012DREI BRÜDER, zwei Mütter, ein Vater - ein Ziel: Fußballprofi zu werden. Der älteste hat es nicht geschafft. Heute züchtet er Hunde und macht Musik. Der zweite, eines der größten deutschen Fußballtalente, hat bei der WM 2010 für Ghana gespielt. Beim dritten lief alles nach Plan. Der deutsche Nationalspieler steht auch im Kader für die Europameisterschaft 2012. Michael Horeni, Sport-Redakteur dieser Zeitung, beginnt diese Geschichte ("Die Brüder Boateng". Drei deutsche Karrieren. Tropen Verlag, Stuttgart 2012. 272 S., geb., 18,95 [Euro]) in einem Fußballkäfig im Wedding. Hier sind George und Kevin aufgewachsen, hier haben sie und ihr Halbbruder Jérôme aus Berlin-Wilmersdorf zueinandergefunden. Doch es geht um mehr als um Fußball - um Väter und Söhne und deutschen Rassismus. Es geht um Schule, Familie und Vernachlässigung, um Trainer, Integration und Ausgrenzung. Es geht um Kampfgeist und den Willen zum Erfolg, ums Hinfallen und Wiederaufstehen und um ein berühmtes Foul.
F.A.Z.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Sehr gefesselt hat Rezensent Alex Rühle die Biografie der drei Brüder Boateng von Sportjournalist und FAZ-Redakteur Michael Horeni. An diesem Buch, das in seinen Augen einzelne Schlüsselszenen in ein überzeugendes Ganzes einarbeitet, stört ihn nur eines: dass der Autor, der den in den deutschen Medien besonders für sein Foul an Michael Ballack 2010 vielfach geschmähten Kevin Boateng nur eine ganze Stunde treffen konnte, sich immer wieder in "seelische Ferndiagnosen" und Einfühlungen in den Fußballer versteigt. Ansonsten überzeugt den Rezensenten diese Dreifachbiografie aber als erhellendes Buch über Bildungs- und Integrationspolitik, über die "Meinungsmachermechanismen" der Medien und nicht zuletzt über die Geschichte der deutschen Fußball-Nachwuchsarbeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.06.2012Spiel des Lebens
Ghana, Deutschland, Wedding: Michael Horeni erzählt die Geschichte der drei ungleichen Boateng-Brüder
Warum will man es immer wieder von Jérôme Boateng hören, dieses Bekenntnis zur Mannschaft, zu Deutschland, zum Teamgeist, zur sportlichen Wohlanständigkeit? Der Mann ist doch Fußballer und nicht Integrationsbeauftragter. Dennoch musste er sich in den vergangenen zwei Jahren ständig äußern, zur Integrationswilligkeit, zum neuen Geist der Nationalmannschaft und zu Berlin als Schmelztiegel. Und immer lauerte da im Reden seiner Gesprächspartner eine Art unsichtbarer Schatten, ein dunkler, böser anderer, der Jérôme sogar bis ins Bundespräsidialamt hinein begleitet: Als die Nationalspieler 2010 nach der WM in Südafrika von Christian Wulff ausgezeichnet werden, sagt Gerhard Delling bei der Präsentation von Jérôme Boateng nicht, wie phantastisch dieser gespielt hat, sondern: „Wir wissen ja alle, woher wir den Bruder kennen.“ Und ergänzt, Boateng habe sich gleich bei seinem ersten Länderspiel eine Rote Karte eingehandelt. So als sei das Wichtigste an Jérôme, dass er diesen schrecklichen Bruder habe und dass er selbst seine Gegner ja auch gerne foule.
Der Sportjournalist und FAZ-Redakteur Michael Horeni erzählt diese Anekdote in seiner Biographie über die „Brüder Boateng“. Und wie so oft in seinem Buch verwebt er diese eine kleine Geschichte überzeugend mit dem großen Ganzen, in dem Fall mit der grotesken Gleichzeitigkeit der allgemeinen Begeisterung über die neue „Internationalmannschaft“, wie Löws junger, multikultureller Kader bei Horeni heißt, und dem Erfolg von Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“. Wenige Tage nach der Auszeichnung muss Boateng sich in einem Interview zu Sarrazins Thesen äußern. Er sagt kluge, selbstbewusste Sätze: Nein, mit der Integration habe es keine Schwierigkeiten gegeben, ja, er sei froh darüber, deutscher Nationalspieler zu sein, sei aber auch stolz auf seine afrikanische Herkunft. Horeni ergänzt: „Jérôme fragt sich nur, warum er das immer wieder erklären muss.“
Ein Vater. Zwei Mütter. Drei Brüder. George, der Älteste, lebt heute als Hundezüchter in Berlin. Kevin, der zweite, galt nach seinem schweren Foul an Michael Ballack, kurz vor der WM 2010, als Inkarnation des Bösen, eine Art Darth Vader des Fußballs. Der Jüngste, der das Glück einer behüteten Kindheit in Wilmersdorf hatte, ist festes Mitglied der Nationalmannschaft, in der seine beiden großen Brüder vielleicht auch hätten spielen können, wenn, ja, wenn . . .
Horeni, der Politikwissenschaften studiert hat, erzählt die drei so unterschiedlichen Lebensgeschichten als symptomatische Fälle: Seine Tripelbiographie ist ein Buch über Berlin und die Kraft der Familienbande, über Bildungschancen und Integrationspolitik, über Meinungsmachermechanismen und die Geschichte der Nachwuchsarbeit im deutschen Fußball.
George, der 1982 geboren wurde, war angeblich der begabteste der drei. Zu seiner Zeit gab es aber noch keinerlei strukturiertes Jugendarbeit. Einer der Jugendtrainer, die Horeni interviewt hat, spricht von der alleingelassenen Generation, von all den jungen Talenten, um die sich außerhalb des Spielfelds niemand gekümmert hat.
George saß im Knast und klingt heute wie ein Kriegsveteran, der froh ist, überhaupt überlebt zu haben: „Kevin und ich haben immer so getan, als ob wir unseren Vater nicht brauchen würden, aber das stimmte natürlich nicht. Den Vater kann man nicht ersetzen. Und im Wedding weißt du, was dich erwartet, wenn du keinen hast, der dir den Weg zeigt.“
Kevin wollte ursprünglich gar nicht Fußballer, sondern Musiker oder Tänzer werden. Musiker? Das Monster?! Der tätowierte Gangsta-Kicker? Das Porträt, das Horeni von Kevin zeichnet, ist so ganz anders als alles, was man bislang von ihm lesen konnte. Jürgen Klopp, der ihn eine halbe Saison lang trainiert hat, lässt nichts auf ihn kommen. Sein ehemaliger Schuldirektor schwärmt geradezu, was für ein netter und begabter Junge Kevin gewesen sei. Und sein Jugendtrainer Frank Friedrichs vergleicht ihn mit Mike Tyson: „Wenn Sie beobachten wollen, wie ein junger Mann zugrunde geht, dann geben sie ihm mit 18 Jahren fünfzig Millionen Dollar in die Hand. Und dann schauen Sie seinem Leben zu – der Rest kommt von alleine.“
Der Rest, das war Bling-Bling und sein Aggro-Stil, der Rauswurf aus der U21 und sein trotziges Anheuern bei der Nationalmannschaft von Ghana. Heute ist Kevin der umjubelte Star von AC Mailand, sagt aber mittlerweile gar nichts mehr, vielleicht auch, weil er einfach schon zu viel Falsches über sich lesen musste.
Womit wir bei der einzigen Schwäche dieses Buches wären. Kevin, der immer wieder den Kontakt zur eigenen Familie unterbrochen hat, wollte auch mit Michael Horeni nicht reden. Die beiden haben sich einmal getroffen, eine Stunde lang, in Mailand, im Restaurant. Davor und danach war Funkstille. Woher weiß Horeni dann aber, was Kevin den lieben langen Tag denkt, fühlt, meint? „Als Jérôme mit der U21 im Sommer den EM-Titel gewann, hat Kevin sich nicht bei ihm gemeldet, und er gratuliert seinem Bruder auch jetzt nicht, als ihn Löw zum ersten Mal in den Kader holt. (. . .) Er ist noch nicht so weit, dass er seinem Bruder sagen kann, dass er stolz auf ihn ist.“ Solcherlei seelische Ferndiagnosen stellt Horeni am laufenden Band. Jedes Mal macht er sich dabei ostentativ zum Anwalt des umstrittenen Mittelfeldspielers.
Das ist deshalb so schade, weil er vorher so schön herausarbeitet, wie grotesk überzeichnet solche Interpretationen sein können: Als Kevin für kurze Zeit bei Dortmund anheuert, wird jedes seiner Fouls als widerwärtige „Schweinerei“ (Beckenbauer) gebrandmarkt. Lothar Matthäus sagt, Kevin sei „der Fiesling der Bundesliga“ und Marcel Reif versteigt sich zu dem Satz: „Dieser Boateng ist nicht bekehrbar, nicht sozialisierbar.“ Als aber sein jüngerer Bruder in seinem ersten Spiel als Nationalspieler die gelb-rote Karte erhält und Löw direkt danach für ihn in die Bresche springt, schreiben die Zeitungen, Jérôme Boateng habe sich mit seinem Foul für Deutschland geopfert.
Heute Abend ist Halbfinale. Özil, Khedira, Jérôme Boateng und Klose – sie alle werden spielen, sie alle werden sich zur Not auch opfern, damit diese Internationalmannschaft ins Finale kommt. Nach der Lektüre dieses Buches hat man aber das Gefühl, dass da einer fehlt. Kevin Boateng ist der einzige Jugendnationalspieler, der zweimal die Fritz-Walter-Medaille erhielt und dann nicht Nationalspieler wurde.
ALEX RÜHLE
MICHAEL HORENI: Die Brüder Boateng. Drei deutsche Karrieren. Tropen Verlag, Stuttgart 2012. 268 Seiten, 18,95 Euro.
George (links) und seine Brüder Jérôme (im FC Bayern-Trikot) und Kevin. Fotos: Juri Reetz/Breuel-Bild, Werner Eifried/GES
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Ghana, Deutschland, Wedding: Michael Horeni erzählt die Geschichte der drei ungleichen Boateng-Brüder
Warum will man es immer wieder von Jérôme Boateng hören, dieses Bekenntnis zur Mannschaft, zu Deutschland, zum Teamgeist, zur sportlichen Wohlanständigkeit? Der Mann ist doch Fußballer und nicht Integrationsbeauftragter. Dennoch musste er sich in den vergangenen zwei Jahren ständig äußern, zur Integrationswilligkeit, zum neuen Geist der Nationalmannschaft und zu Berlin als Schmelztiegel. Und immer lauerte da im Reden seiner Gesprächspartner eine Art unsichtbarer Schatten, ein dunkler, böser anderer, der Jérôme sogar bis ins Bundespräsidialamt hinein begleitet: Als die Nationalspieler 2010 nach der WM in Südafrika von Christian Wulff ausgezeichnet werden, sagt Gerhard Delling bei der Präsentation von Jérôme Boateng nicht, wie phantastisch dieser gespielt hat, sondern: „Wir wissen ja alle, woher wir den Bruder kennen.“ Und ergänzt, Boateng habe sich gleich bei seinem ersten Länderspiel eine Rote Karte eingehandelt. So als sei das Wichtigste an Jérôme, dass er diesen schrecklichen Bruder habe und dass er selbst seine Gegner ja auch gerne foule.
Der Sportjournalist und FAZ-Redakteur Michael Horeni erzählt diese Anekdote in seiner Biographie über die „Brüder Boateng“. Und wie so oft in seinem Buch verwebt er diese eine kleine Geschichte überzeugend mit dem großen Ganzen, in dem Fall mit der grotesken Gleichzeitigkeit der allgemeinen Begeisterung über die neue „Internationalmannschaft“, wie Löws junger, multikultureller Kader bei Horeni heißt, und dem Erfolg von Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“. Wenige Tage nach der Auszeichnung muss Boateng sich in einem Interview zu Sarrazins Thesen äußern. Er sagt kluge, selbstbewusste Sätze: Nein, mit der Integration habe es keine Schwierigkeiten gegeben, ja, er sei froh darüber, deutscher Nationalspieler zu sein, sei aber auch stolz auf seine afrikanische Herkunft. Horeni ergänzt: „Jérôme fragt sich nur, warum er das immer wieder erklären muss.“
Ein Vater. Zwei Mütter. Drei Brüder. George, der Älteste, lebt heute als Hundezüchter in Berlin. Kevin, der zweite, galt nach seinem schweren Foul an Michael Ballack, kurz vor der WM 2010, als Inkarnation des Bösen, eine Art Darth Vader des Fußballs. Der Jüngste, der das Glück einer behüteten Kindheit in Wilmersdorf hatte, ist festes Mitglied der Nationalmannschaft, in der seine beiden großen Brüder vielleicht auch hätten spielen können, wenn, ja, wenn . . .
Horeni, der Politikwissenschaften studiert hat, erzählt die drei so unterschiedlichen Lebensgeschichten als symptomatische Fälle: Seine Tripelbiographie ist ein Buch über Berlin und die Kraft der Familienbande, über Bildungschancen und Integrationspolitik, über Meinungsmachermechanismen und die Geschichte der Nachwuchsarbeit im deutschen Fußball.
George, der 1982 geboren wurde, war angeblich der begabteste der drei. Zu seiner Zeit gab es aber noch keinerlei strukturiertes Jugendarbeit. Einer der Jugendtrainer, die Horeni interviewt hat, spricht von der alleingelassenen Generation, von all den jungen Talenten, um die sich außerhalb des Spielfelds niemand gekümmert hat.
George saß im Knast und klingt heute wie ein Kriegsveteran, der froh ist, überhaupt überlebt zu haben: „Kevin und ich haben immer so getan, als ob wir unseren Vater nicht brauchen würden, aber das stimmte natürlich nicht. Den Vater kann man nicht ersetzen. Und im Wedding weißt du, was dich erwartet, wenn du keinen hast, der dir den Weg zeigt.“
Kevin wollte ursprünglich gar nicht Fußballer, sondern Musiker oder Tänzer werden. Musiker? Das Monster?! Der tätowierte Gangsta-Kicker? Das Porträt, das Horeni von Kevin zeichnet, ist so ganz anders als alles, was man bislang von ihm lesen konnte. Jürgen Klopp, der ihn eine halbe Saison lang trainiert hat, lässt nichts auf ihn kommen. Sein ehemaliger Schuldirektor schwärmt geradezu, was für ein netter und begabter Junge Kevin gewesen sei. Und sein Jugendtrainer Frank Friedrichs vergleicht ihn mit Mike Tyson: „Wenn Sie beobachten wollen, wie ein junger Mann zugrunde geht, dann geben sie ihm mit 18 Jahren fünfzig Millionen Dollar in die Hand. Und dann schauen Sie seinem Leben zu – der Rest kommt von alleine.“
Der Rest, das war Bling-Bling und sein Aggro-Stil, der Rauswurf aus der U21 und sein trotziges Anheuern bei der Nationalmannschaft von Ghana. Heute ist Kevin der umjubelte Star von AC Mailand, sagt aber mittlerweile gar nichts mehr, vielleicht auch, weil er einfach schon zu viel Falsches über sich lesen musste.
Womit wir bei der einzigen Schwäche dieses Buches wären. Kevin, der immer wieder den Kontakt zur eigenen Familie unterbrochen hat, wollte auch mit Michael Horeni nicht reden. Die beiden haben sich einmal getroffen, eine Stunde lang, in Mailand, im Restaurant. Davor und danach war Funkstille. Woher weiß Horeni dann aber, was Kevin den lieben langen Tag denkt, fühlt, meint? „Als Jérôme mit der U21 im Sommer den EM-Titel gewann, hat Kevin sich nicht bei ihm gemeldet, und er gratuliert seinem Bruder auch jetzt nicht, als ihn Löw zum ersten Mal in den Kader holt. (. . .) Er ist noch nicht so weit, dass er seinem Bruder sagen kann, dass er stolz auf ihn ist.“ Solcherlei seelische Ferndiagnosen stellt Horeni am laufenden Band. Jedes Mal macht er sich dabei ostentativ zum Anwalt des umstrittenen Mittelfeldspielers.
Das ist deshalb so schade, weil er vorher so schön herausarbeitet, wie grotesk überzeichnet solche Interpretationen sein können: Als Kevin für kurze Zeit bei Dortmund anheuert, wird jedes seiner Fouls als widerwärtige „Schweinerei“ (Beckenbauer) gebrandmarkt. Lothar Matthäus sagt, Kevin sei „der Fiesling der Bundesliga“ und Marcel Reif versteigt sich zu dem Satz: „Dieser Boateng ist nicht bekehrbar, nicht sozialisierbar.“ Als aber sein jüngerer Bruder in seinem ersten Spiel als Nationalspieler die gelb-rote Karte erhält und Löw direkt danach für ihn in die Bresche springt, schreiben die Zeitungen, Jérôme Boateng habe sich mit seinem Foul für Deutschland geopfert.
Heute Abend ist Halbfinale. Özil, Khedira, Jérôme Boateng und Klose – sie alle werden spielen, sie alle werden sich zur Not auch opfern, damit diese Internationalmannschaft ins Finale kommt. Nach der Lektüre dieses Buches hat man aber das Gefühl, dass da einer fehlt. Kevin Boateng ist der einzige Jugendnationalspieler, der zweimal die Fritz-Walter-Medaille erhielt und dann nicht Nationalspieler wurde.
ALEX RÜHLE
MICHAEL HORENI: Die Brüder Boateng. Drei deutsche Karrieren. Tropen Verlag, Stuttgart 2012. 268 Seiten, 18,95 Euro.
George (links) und seine Brüder Jérôme (im FC Bayern-Trikot) und Kevin. Fotos: Juri Reetz/Breuel-Bild, Werner Eifried/GES
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