Die Brüder Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) und Alexandervon Humboldt (1769 - 1859) haben Geschichte geschrieben - als Philosoph, Sprachforscher und preußischer Staatsmann der Ältere, als Naturforscher, Schriftsteller und Weltreisender der Jüngere. Jeder leistete auf seinen Gebieten Herausragendes. Vor allem Alexanders Leben und Werk sind in jüngster Zeit wieder neu in den Blickpunkt geraten: durch die Neuausgabe seines monumentalen Buches "Kosmos" und durch Daniel Kehlmanns Roman "Die Vermessung der Welt". Die Brüder Humboldt waren einander zeitlebens sehr verbunden, dabei aber grundverschieden in Temperament und Interessenlage.
Bestsellerautor Manfred Geier schildert in seiner Doppelbiographie das Wirken der beiden Brüder und entwirft zugleich ein Bild der Epoche, in der sie lebten: Groß geworden im Zeitalter der Aufklärung, nahmen sie teil am Höhenflug der Klassik, um schließlich einen wissenschaftlichen Universalismus zu entwerfen, der hochgradig aktuell ist. Das Buch erscheint rechtzeitig zum 150. Todestag Alexander von Humboldts am 6. Mai 2009.
Bestsellerautor Manfred Geier schildert in seiner Doppelbiographie das Wirken der beiden Brüder und entwirft zugleich ein Bild der Epoche, in der sie lebten: Groß geworden im Zeitalter der Aufklärung, nahmen sie teil am Höhenflug der Klassik, um schließlich einen wissenschaftlichen Universalismus zu entwerfen, der hochgradig aktuell ist. Das Buch erscheint rechtzeitig zum 150. Todestag Alexander von Humboldts am 6. Mai 2009.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2009Unter Brüdern
Wer über die Aufklärung und die Epoche des Idealismus schreibt, darf über die Sinnenwelt und das Triebschicksal ihrer Protagonisten nicht schweigen: Manfred Geier porträtiert in einer so schlanken wie gehaltvollen Doppelbiographie Wilhelm und Alexander von Humboldt Von Jens Bisky
Wilhelm und Alexander von Humboldt gehören zu den liebsten Schaupuppen des neubürgerlich gestimmten Zeitgeistes, wobei jeder an ihnen jene Eigenschaften entdecken kann, die er besonders schätzt. Da steht dann der viel gereiste, abenteuerlustige Naturforscher Alexander gegen den ernsthaften Schreibtischmenschen und Sprachphilosophen Wilhelm, der Kosmopolit gegen den Preußen. Dem Schematismus hat der zwei Jahre ältere Wilhelm kräftig vorgearbeitet. Alexander schien ihm am nächsten verwandt und doch völlig fremd: „So war es von Kindheit an zwischen uns. Immer der schneidenste Gegensatz und dabei doch ein sehr enges Zusammenhalten.” Sie seien „wie zwei entgegengesetzte Pole”: der eine versenkte sich ins Innere, den anderen treibe es ins Äußere; der eine lebe in Ideen, der andere forsche in der Wirklichkeit; der eine bilde die eigene Persönlichkeit in ihrer Besonderheit, der andere beobachte die natürlichen Dinge in ihrem ganzheitlichen Zusammenhang; der eine kultiviere die innere Würde, den anderen dränge es nach äußerer Anerkennung.
Es nimmt sehr für den Biographen Manfred Geier ein, dass er diese Selbst- und Spiegelbilder referiert, ohne sich ihnen blind zu überlassen. Er versteht die Selbstdeutungen als Moment in der Bildungsgeschichte der Brüder, als Ferment auch ihrer Selbstfindung. Beide in einem Buch gleichberechtigt zu porträtieren, scheint ein naheliegender Einfall, aber man sollte die Schwierigkeiten nicht unterschätzen, die einem solchen Vorhaben entgegenstehen. Ihre Sternstunden durchlebten die Brüder getrennt voneinander: Alexander seine Forschungsreise nach Amerika, Wilhelm die Monate der Bildungsreform und Universitätsgründung in Berlin. Da sie einander weiterhin Briefe schrieben, lässt sich dieses Manko kaschieren.
Ungemach aber droht dem Biographen durch die schlichte Fülle des Materials. Beide waren Vielschreiber, beide hatten weit gestreute Interessen und waren auf ihren Spezialgebieten über die Maßen ins Detail verliebt. Und weder Wilhelm noch Alexander kann man verstehen, ohne ihre vielfältigen Kontakte, Freundschaften, Korrespondenzen zu bedenken. Sie waren im gebildeten Europa bestens vernetzt. Und das seit Kindertagen, – als Gottlob Johann Christian Kunth zu ihrem Erzieher bestellt wurde –, und weit über die Jahre der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege hinweg. Im Todesjahr Wilhelms nahm die erste Eisenbahn in Deutschland ihren Betrieb auf, Alexander hat noch den Märzgefallenen von 1848 die Ehre erwiesen. Als er starb, hatte die Regentschaft Wilhelms, der später Kaiser des Reiches werden sollte, bereits begonnen. Kurz: die Gefahr, sich im Gewirr der Zeitläufte oder den Bergwerken des Überlieferten zu verlieren ist im Falle der Brüder Humboldt groß.
Manfred Geier, dem wir bereits einen konzentrierten Wegweiser durch „Kants Welt” (2003) verdanken, ist es auch diesmal gelungen, das Wesentliche auszuwählen und auf gut 300 Seiten so darzustellen, dass der Leser erhält, was er von einer biographischen Erzählung erwarten darf. Er gewinnt einen Einblick in die Lebenswelt der Humboldts und zugleich einen Schlüssel zum Verständnis ihrer Werke.
Einsam und eingezwängt fühlten sich die Kinder Humboldt auf Schloss Tegel, „Schloss Langeweil”, und das obwohl sie nach den Maßstäben der Zeit privilegiert aufwuchsen. Kunth hat sie ohne harte Strafen erzogen, aber doch ständig kontrolliert. Der Vater starb 1779, die Mutter scheint von besonderer Kälte gewesen zu sein. Immerhin unternahm sie alles, um ihren Söhnen eine standesgemäße Ausbildung zukommen zu lassen und sie für den Staatsdienst vorzubereiten. Ab 1785 nahmen sie am Berliner Leben teil, kamen bald ins Haus von Marcus und Henriette Herz und damit ins Zentrum aufgeklärter Geselligkeit. Man las und diskutierte die Berlinischen Monatsschrift, in der eben damals die Frage, was Aufklärung sei, verhandelt wurde und die sich bald durch das Wöllnersche Religionsedikt herausgefordert sah. Kunth führte seinen Zöglingen die besten Lehrer und Spezialisten zu: den Geheimen Kriegsrat Christian Wilhelm Dohm, berühmt durch seine Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden”, oder Johann Jakob Engel, der ihnen das Philosophieren als Tätigkeit im sokratischen Sinne vermittelte.
Indem Geier die Berliner Erfahrungen der Humboldts rekonstruiert, später zeigt, was sie in Göttingen bei Lichtenberg und dem Zoologen Blumenbach lernten, ausführlich von ihrer Freundschaft mit Georg Forster erzählt, liefert er zugleich eine kleine Geschichte der Aufklärung. Aber er reduziert den Entwicklungsgang seiner Helden nicht aufs Geistige. Mit der gleichen konzentrierten Genauigkeit zeichnet er ihre ihre erotischen Wünsche und Erfahrungen nach, ihr Triebschicksal. Das verleiht dem Buch Farbigkeit und ist darüber hinaus wichtig, will man die intellektuelle Biographie der Humboldts verstehen. Die Kultur der Sinne und die Kultivierung der Sinnlichkeit gehören zur Aufklärung wie zum Idealismus, und nur ihr Zerrbild erhält, wer davon diskret schweigt.
Wilhelm erscheint da durchaus als „ein Mensch mit grober Sinnlichkeit”, mit stark entwickeltem Interesse an „Wollust, Liebe, Weiberfreundschaft”. Einmal erblickt er am Rhein ein ziemlich hässliches und starkes Mädchen: „Es ist unbegreiflich, wie anziehend für mich solch ein anblik und ieder anblik angestrengter körperkraft bei weibern – vorzüglich niedrigeren standes – ist. Es wird mir beinah unmöglich, meine augen wegzuwenden, und nichts reizt so stark iede wollüstige begier in mir.” Zur Befriedigung der Fleischeslust nimmt Wilhelm gern die Dienste von Prostituierten in Anspruch. Er ist ein Mann der Bücher und des Geistes und doch von „natürlicher Geilheit” getrieben.
Mit der Trennung will er sich nicht abfinden und so entwickelt er eine ästhetische Weltdeutung und entschließt sich, Caroline von Dacheröden zu heiraten. Er erstrebe, so Geier, „die ästhetische Verfeinerung seiner groben Sinnlichkeit durch eine geliebte Frau, in der das sinnlich Schöne harmonisch mit dem sittlich Schönen zusammenspielt”. Das Motiv wird man noch in den Schriften des Bildungsreformers wiedererkennen. Die Lösung des Bruders kann für Alexander keine sein. „Ein verheiratheter Mensch”, meint er, sei „immer ein verlorener Mensch”. Männer begehrend und liebend, hat er in seiner Jugend mehrfach versucht, sich über seine Neigungen Klarheit zu verschaffen, enge Freundschaften geschlossen, am innigsten wohl mit Reinhard von Haeften, dem er 1796 mitteilte: „Meine Liebe zu Dir ist nicht Freundschaft, Brunderliebe allein, es ist Ehrerbietung, kindliche Dankbarkeit, Ergebung in Deinen Willen, als meinem höchsten Geseze.” Empfindung, Genuss und Freude werden für ihn zum „eigentlichen Zweck” des Lebens.
Man findet eine deutliche Spur des unterschiedlichen Empfindens der beiden Brüder an klassischer Stelle, in den „Horen”. Wilhelms Aufsatz „Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur” und die Betrachtung „Über die männliche und weibliche Form” sind Versuche, ein Bild des Ganzen zu gewinnen. Alexander steuert zu Schillers Zeitschrift die Erzählung „Die Lebenskraft oder der rhodische Genius” bei, in der es um die Enträtselung zweier Gemälde geht. Geier deutet die Erzählung als „Bild einer sexualpathologischen Abwehr”: „Nur sexuell voneinander getrennt können die unterschiedenen Geschlechter am Leben bleiben, während die sexuelle Vereinigung ihren Tod bedeutet.”
Bis ins klassische Jena, an die Seite Goethes und Schillers hat Manfred Geier die Bildungsgeschichte der Brüder strikt parallel erzählt und gezeigt, wie sie, gemeinsam aufgewachsen und erzogen, beide von der Aufklärung und der Begegnung mit Georg Forster geprägt, auf ähnliche Krisen reagierend, ihren Weg bestimmten. Und man kann Spuren dieser Gemeinsamkeit in den großen Projekten zur „Vermessung der Welt”, in Alexanders Naturbeschreibungen wie in Wilhelms Sprachstudien finden.
Zwei Drittel des Buches sind den prägenden Jahren bis 1799, bis zur Abreise Alexanders aus Europa gewidmet. Das ist gerechtfertigt, erschließt sich doch vieles Spätere auf diese Weise leicht. Aber die Gewichtung ist auch ein Problem dieser Biographie. Manches wird nur gestreift oder allzu summarisch behandelt. Dazu gehören etwa die römischen Jahre Wilhelms, der als preußischer Gesandter in der ewigen Stadt eine republikanische Künstlergeselligkeit kennenlernt, von der man gern glauben möchte, dass sie sein Universitätsmodell mit anregte.
Großartig gelingt es Geier dann wieder, den Konflikt um Alexanders „Französischwerden” zu erhellen. Aber über Wilhelms Kunstpolitik – er hat etwa die Karriere des Bildhauers Rauch entscheidend gefördert – erfährt man kaum etwas, wenig über das Antikenbild, so gut wie nichts über den Wiener Kongress und viel zu knapp wird das Verhältnis Alexanders zu den Hohenzollern berührt. Dabei diente er bis ans Lebensende dem preußischen König als Kammerherr. Der Umbau von Schloss Tegel zur klassizistischen Trutzburg eines Privatgelehrten wird erwähnt, nicht gewürdigt. Die „einsamen Studien der Sprache” Wilhelms waren so einsam nicht, wenn man seine umfangreiche Korrespondenz hierüber bedenkt. Ein Wort über Wilhelm als Dichter vermisst man ebenso wie eine einlässliche Behandlung der Kritik späterer Naturwissenschaftler an Alexanders Wirken. Dessen politische Stellung in seinen letzten Lebensjahren wäre eine eigene Untersuchung wert.
Diese Leerstellen sind der Preis, den Geier für die konzise, knappe Darstellung in Kauf genommen hat. Sein kluges Buch bietet die bisher beste Einführung in Leben und Werk der Humboldts. Auch Kennern dürfte es neue Einsichten und Anregungen vermitteln. Für folgende Auflagen wünscht man sich dennoch ein elftes, abschließendes Kapitel.
Manfred Geier
Die Brüder Humboldt
Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009. 350 Seiten, 19,90 Euro.
Zwischen grober Sinnlichkeit und der Vernunft vermittelt der ästhetische Sinn, auch im Leben.
Alexander von Humboldt (oben) mit Wilhelm von Humboldt, Jugendbildnisse, Fotografien von C. Ewald in Kassel Archiv Friedrich/Interfoto
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Wer über die Aufklärung und die Epoche des Idealismus schreibt, darf über die Sinnenwelt und das Triebschicksal ihrer Protagonisten nicht schweigen: Manfred Geier porträtiert in einer so schlanken wie gehaltvollen Doppelbiographie Wilhelm und Alexander von Humboldt Von Jens Bisky
Wilhelm und Alexander von Humboldt gehören zu den liebsten Schaupuppen des neubürgerlich gestimmten Zeitgeistes, wobei jeder an ihnen jene Eigenschaften entdecken kann, die er besonders schätzt. Da steht dann der viel gereiste, abenteuerlustige Naturforscher Alexander gegen den ernsthaften Schreibtischmenschen und Sprachphilosophen Wilhelm, der Kosmopolit gegen den Preußen. Dem Schematismus hat der zwei Jahre ältere Wilhelm kräftig vorgearbeitet. Alexander schien ihm am nächsten verwandt und doch völlig fremd: „So war es von Kindheit an zwischen uns. Immer der schneidenste Gegensatz und dabei doch ein sehr enges Zusammenhalten.” Sie seien „wie zwei entgegengesetzte Pole”: der eine versenkte sich ins Innere, den anderen treibe es ins Äußere; der eine lebe in Ideen, der andere forsche in der Wirklichkeit; der eine bilde die eigene Persönlichkeit in ihrer Besonderheit, der andere beobachte die natürlichen Dinge in ihrem ganzheitlichen Zusammenhang; der eine kultiviere die innere Würde, den anderen dränge es nach äußerer Anerkennung.
Es nimmt sehr für den Biographen Manfred Geier ein, dass er diese Selbst- und Spiegelbilder referiert, ohne sich ihnen blind zu überlassen. Er versteht die Selbstdeutungen als Moment in der Bildungsgeschichte der Brüder, als Ferment auch ihrer Selbstfindung. Beide in einem Buch gleichberechtigt zu porträtieren, scheint ein naheliegender Einfall, aber man sollte die Schwierigkeiten nicht unterschätzen, die einem solchen Vorhaben entgegenstehen. Ihre Sternstunden durchlebten die Brüder getrennt voneinander: Alexander seine Forschungsreise nach Amerika, Wilhelm die Monate der Bildungsreform und Universitätsgründung in Berlin. Da sie einander weiterhin Briefe schrieben, lässt sich dieses Manko kaschieren.
Ungemach aber droht dem Biographen durch die schlichte Fülle des Materials. Beide waren Vielschreiber, beide hatten weit gestreute Interessen und waren auf ihren Spezialgebieten über die Maßen ins Detail verliebt. Und weder Wilhelm noch Alexander kann man verstehen, ohne ihre vielfältigen Kontakte, Freundschaften, Korrespondenzen zu bedenken. Sie waren im gebildeten Europa bestens vernetzt. Und das seit Kindertagen, – als Gottlob Johann Christian Kunth zu ihrem Erzieher bestellt wurde –, und weit über die Jahre der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege hinweg. Im Todesjahr Wilhelms nahm die erste Eisenbahn in Deutschland ihren Betrieb auf, Alexander hat noch den Märzgefallenen von 1848 die Ehre erwiesen. Als er starb, hatte die Regentschaft Wilhelms, der später Kaiser des Reiches werden sollte, bereits begonnen. Kurz: die Gefahr, sich im Gewirr der Zeitläufte oder den Bergwerken des Überlieferten zu verlieren ist im Falle der Brüder Humboldt groß.
Manfred Geier, dem wir bereits einen konzentrierten Wegweiser durch „Kants Welt” (2003) verdanken, ist es auch diesmal gelungen, das Wesentliche auszuwählen und auf gut 300 Seiten so darzustellen, dass der Leser erhält, was er von einer biographischen Erzählung erwarten darf. Er gewinnt einen Einblick in die Lebenswelt der Humboldts und zugleich einen Schlüssel zum Verständnis ihrer Werke.
Einsam und eingezwängt fühlten sich die Kinder Humboldt auf Schloss Tegel, „Schloss Langeweil”, und das obwohl sie nach den Maßstäben der Zeit privilegiert aufwuchsen. Kunth hat sie ohne harte Strafen erzogen, aber doch ständig kontrolliert. Der Vater starb 1779, die Mutter scheint von besonderer Kälte gewesen zu sein. Immerhin unternahm sie alles, um ihren Söhnen eine standesgemäße Ausbildung zukommen zu lassen und sie für den Staatsdienst vorzubereiten. Ab 1785 nahmen sie am Berliner Leben teil, kamen bald ins Haus von Marcus und Henriette Herz und damit ins Zentrum aufgeklärter Geselligkeit. Man las und diskutierte die Berlinischen Monatsschrift, in der eben damals die Frage, was Aufklärung sei, verhandelt wurde und die sich bald durch das Wöllnersche Religionsedikt herausgefordert sah. Kunth führte seinen Zöglingen die besten Lehrer und Spezialisten zu: den Geheimen Kriegsrat Christian Wilhelm Dohm, berühmt durch seine Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden”, oder Johann Jakob Engel, der ihnen das Philosophieren als Tätigkeit im sokratischen Sinne vermittelte.
Indem Geier die Berliner Erfahrungen der Humboldts rekonstruiert, später zeigt, was sie in Göttingen bei Lichtenberg und dem Zoologen Blumenbach lernten, ausführlich von ihrer Freundschaft mit Georg Forster erzählt, liefert er zugleich eine kleine Geschichte der Aufklärung. Aber er reduziert den Entwicklungsgang seiner Helden nicht aufs Geistige. Mit der gleichen konzentrierten Genauigkeit zeichnet er ihre ihre erotischen Wünsche und Erfahrungen nach, ihr Triebschicksal. Das verleiht dem Buch Farbigkeit und ist darüber hinaus wichtig, will man die intellektuelle Biographie der Humboldts verstehen. Die Kultur der Sinne und die Kultivierung der Sinnlichkeit gehören zur Aufklärung wie zum Idealismus, und nur ihr Zerrbild erhält, wer davon diskret schweigt.
Wilhelm erscheint da durchaus als „ein Mensch mit grober Sinnlichkeit”, mit stark entwickeltem Interesse an „Wollust, Liebe, Weiberfreundschaft”. Einmal erblickt er am Rhein ein ziemlich hässliches und starkes Mädchen: „Es ist unbegreiflich, wie anziehend für mich solch ein anblik und ieder anblik angestrengter körperkraft bei weibern – vorzüglich niedrigeren standes – ist. Es wird mir beinah unmöglich, meine augen wegzuwenden, und nichts reizt so stark iede wollüstige begier in mir.” Zur Befriedigung der Fleischeslust nimmt Wilhelm gern die Dienste von Prostituierten in Anspruch. Er ist ein Mann der Bücher und des Geistes und doch von „natürlicher Geilheit” getrieben.
Mit der Trennung will er sich nicht abfinden und so entwickelt er eine ästhetische Weltdeutung und entschließt sich, Caroline von Dacheröden zu heiraten. Er erstrebe, so Geier, „die ästhetische Verfeinerung seiner groben Sinnlichkeit durch eine geliebte Frau, in der das sinnlich Schöne harmonisch mit dem sittlich Schönen zusammenspielt”. Das Motiv wird man noch in den Schriften des Bildungsreformers wiedererkennen. Die Lösung des Bruders kann für Alexander keine sein. „Ein verheiratheter Mensch”, meint er, sei „immer ein verlorener Mensch”. Männer begehrend und liebend, hat er in seiner Jugend mehrfach versucht, sich über seine Neigungen Klarheit zu verschaffen, enge Freundschaften geschlossen, am innigsten wohl mit Reinhard von Haeften, dem er 1796 mitteilte: „Meine Liebe zu Dir ist nicht Freundschaft, Brunderliebe allein, es ist Ehrerbietung, kindliche Dankbarkeit, Ergebung in Deinen Willen, als meinem höchsten Geseze.” Empfindung, Genuss und Freude werden für ihn zum „eigentlichen Zweck” des Lebens.
Man findet eine deutliche Spur des unterschiedlichen Empfindens der beiden Brüder an klassischer Stelle, in den „Horen”. Wilhelms Aufsatz „Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur” und die Betrachtung „Über die männliche und weibliche Form” sind Versuche, ein Bild des Ganzen zu gewinnen. Alexander steuert zu Schillers Zeitschrift die Erzählung „Die Lebenskraft oder der rhodische Genius” bei, in der es um die Enträtselung zweier Gemälde geht. Geier deutet die Erzählung als „Bild einer sexualpathologischen Abwehr”: „Nur sexuell voneinander getrennt können die unterschiedenen Geschlechter am Leben bleiben, während die sexuelle Vereinigung ihren Tod bedeutet.”
Bis ins klassische Jena, an die Seite Goethes und Schillers hat Manfred Geier die Bildungsgeschichte der Brüder strikt parallel erzählt und gezeigt, wie sie, gemeinsam aufgewachsen und erzogen, beide von der Aufklärung und der Begegnung mit Georg Forster geprägt, auf ähnliche Krisen reagierend, ihren Weg bestimmten. Und man kann Spuren dieser Gemeinsamkeit in den großen Projekten zur „Vermessung der Welt”, in Alexanders Naturbeschreibungen wie in Wilhelms Sprachstudien finden.
Zwei Drittel des Buches sind den prägenden Jahren bis 1799, bis zur Abreise Alexanders aus Europa gewidmet. Das ist gerechtfertigt, erschließt sich doch vieles Spätere auf diese Weise leicht. Aber die Gewichtung ist auch ein Problem dieser Biographie. Manches wird nur gestreift oder allzu summarisch behandelt. Dazu gehören etwa die römischen Jahre Wilhelms, der als preußischer Gesandter in der ewigen Stadt eine republikanische Künstlergeselligkeit kennenlernt, von der man gern glauben möchte, dass sie sein Universitätsmodell mit anregte.
Großartig gelingt es Geier dann wieder, den Konflikt um Alexanders „Französischwerden” zu erhellen. Aber über Wilhelms Kunstpolitik – er hat etwa die Karriere des Bildhauers Rauch entscheidend gefördert – erfährt man kaum etwas, wenig über das Antikenbild, so gut wie nichts über den Wiener Kongress und viel zu knapp wird das Verhältnis Alexanders zu den Hohenzollern berührt. Dabei diente er bis ans Lebensende dem preußischen König als Kammerherr. Der Umbau von Schloss Tegel zur klassizistischen Trutzburg eines Privatgelehrten wird erwähnt, nicht gewürdigt. Die „einsamen Studien der Sprache” Wilhelms waren so einsam nicht, wenn man seine umfangreiche Korrespondenz hierüber bedenkt. Ein Wort über Wilhelm als Dichter vermisst man ebenso wie eine einlässliche Behandlung der Kritik späterer Naturwissenschaftler an Alexanders Wirken. Dessen politische Stellung in seinen letzten Lebensjahren wäre eine eigene Untersuchung wert.
Diese Leerstellen sind der Preis, den Geier für die konzise, knappe Darstellung in Kauf genommen hat. Sein kluges Buch bietet die bisher beste Einführung in Leben und Werk der Humboldts. Auch Kennern dürfte es neue Einsichten und Anregungen vermitteln. Für folgende Auflagen wünscht man sich dennoch ein elftes, abschließendes Kapitel.
Manfred Geier
Die Brüder Humboldt
Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009. 350 Seiten, 19,90 Euro.
Zwischen grober Sinnlichkeit und der Vernunft vermittelt der ästhetische Sinn, auch im Leben.
Alexander von Humboldt (oben) mit Wilhelm von Humboldt, Jugendbildnisse, Fotografien von C. Ewald in Kassel Archiv Friedrich/Interfoto
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.2009Ein Auge auf Himmel und Erde
Wer war der Universalgelehrte Alexander von Humboldt? Zum 6. Mai, dem 150. Todestag, klärt eine Reihe von Büchern über seine Bedeutung auf.
Heute gehört es zu den unzweideutigen Ruhmestiteln Alexander von Humboldts, dass er sich ohne jeden Vorbehalt gegen die Sklaverei ausgesprochen hat. Spätere Übersetzer und Bearbeiter seines Reisewerkes haben die Deutlichkeit seiner Formulierungen oft abgemildert oder diese ganz unterschlagen. Sein Blick auf die Sklaverei war bestimmt vom menschenrechtlichen Pathos der Anfänge der Französischen Revolution, die er in Paris erlebt hatte.
So schrieb er in seiner südamerikanischen Reise: "Die Menschenliebe besteht nicht darin, ,ein wenig Stockfisch mehr und ein paar Peitschenhiebe weniger' zu geben. Eine wahre Hebung der geknechteten Klasse muss sich auf die ganze moralische und physische Stellung des Menschen erstrecken."
Weniger pathosgeladen, aber doch nicht weniger deutlich hat Humboldt zu einer Zeit, als er damit allein stand, Gefahren und Risiken bemerkt und beschworen, die wir heute als ökologische bezeichnen. Der Raubbau an der unberührten Natur stand ihm ebenso vor Augen wie die Klimaänderungen durch menschliche Eingriffe in den Wasserhaushalt der Natur.
Manche der Gedanken, die uns heute gleichsam unmittelbar anspringen, sind in seinem monumentalen Lebenswerk eher verborgen geblieben, als dass sie die Leser auf neue Wege gelockt hätten. Dem Echo bei seinen deutschen Bewunderern hat er durch seinen wissenschaftlichen Ehrgeiz und seine Großzügigkeit in gewisser Weise selbst im Wege gestanden. Wie er die große Expedition "in die Äquinoktialgegenden" aus seinem eigenen Vermögen finanziert hatte, so auch ihre Auswertung in dreißig Bänden.
Die Ausgabe war, vor allem durch die aufwendigen Abbildungswerke, für bürgerliche Budgets unerschwinglich. Dass Humboldt sie in der Wissenschaftsmetropole Paris erscheinen ließ, natürlich auf Französisch, hing zweifellos mit der Erwartung zusammen, dass sie sich nur hier und für ein Weltpublikum "rechnen" würde.
Der Zug ins Große, der den meisten wissenschaftlichen Unternehmungen Humboldts eigen ist, stellte sich ihrer populären Wirkung entgegen. So begann die unselige Folge der Übersetzungen, Bearbeitungen und Auszüge, die weit bis ins zwanzigste Jahrhundert das Bild des Schriftstellers in ein ungewisses Licht rückte, überhaupt den Zugang zum authentischen Humboldt verstellte. Es ist eine traurige Chronik bis in die jüngste Zeit, die der Potsdamer Romanist Ottmar Ette detailliert nachzeichnet, wobei sich nach seinen Ermittlungen noch bis in die jüngste Zeit handwerkliche Mängel der Übersetzungen mit absichtlichen inhaltlichen Entstellungen verbinden.
In seinem abschließenden, großen Werk "Kosmos" hat Humboldt in seinen späten Lebensjahren für diese Kommunikationsmängel Abhilfe zu schaffen gesucht, indem er in seinen immens erfolgreichen Berliner Vorträgen und Vorlesungen den direkten Zugang zum Publikum suchte und offenbar in einer damals beispiellosen Weise auch fand. Bei Erscheinen des ersten der fünf Bände dieses "Entwurfs einer physischen Weltbeschreibung" war der Autor fünfundsiebzig Jahre alt. Er erlebte den Abschluss der Publikation seiner Summa (1845 bis 1862) nicht mehr.
War es, wie das Echo vermuten lässt, ein zeitgemäßes Werk, das einer neuen wissenschaftlichen Stimmung entgegenkam? In Humboldts Todesjahr fällt die Veröffentlichung von Darwins "Origin of Species", Auftakt einer neuen wissenschaftlichen Mode, deren Vorbereitung in Darwins Frühwerk Alexander von Humboldt mit genauer Witterung für das Genie ihres Autors schon zur Kenntnis genommen hatte, wie umgekehrt Darwin in ihm einen unvergleichlichen Reiseschriftsteller verehrte, an dessen Schriften er sich für seinen Bericht über die Expedition der "Beagle" schulte.
So ist Humboldts "Kosmos" (publiziert in den Jahren zwischen 1845 und 1862) genau auf der Grenzlinie zweier wissenschaftlicher Perioden lokalisiert. Während Humboldt so etwas wie eine "totale" Beschreibung der Natur, von "Himmel und Erde" (wie er das griechische "kosmos" wiederzugeben liebte) anstrebte, die mit der Fülle der Naturanschauung schließlich in ein unmittelbares Naturerleben der Zuhörer münden sollte, war Darwins Horizont keineswegs geringer, wurde aber an einem strikteren Leitfaden erschlossen, dem Mechanismus der Auslese.
Das romantische Erbe Humboldts, das die Natur als Landschaft zu vergegenwärtigen suchte, versetzte sein Unternehmen demgegenüber eher in die Nachbarschaft ästhetischer Naturbetrachtung, so ungeheuer die schiere Masse des empirisch erschlossenen Stoffes sein mochte. In der Architektonik seines "Kosmos" zeichnet sich Humboldts Zwischenstellung zwischen zwei wissenschaftlichen Epochen deutlich ab. Dass das romantische Erbe noch einmal wiederbelebt werden konnte, möchte man als Kompensation des anstürmenden neuen Zeitalters der Empirie auffassen, dessen Heros Alexander von Humboldt in seiner rastlosen Sammelleidenschaft zugleich gewesen ist.
So kann das Werk Alexander von Humboldts in dem guten Sinne als überholt gelten, dass es neue Wege des Wissens erschlossen hat, dass diese aber nicht mehr nach seiner Anleitung begangen werden. So wird sein Werk schon seit langem in erster Linie als ein wissenschaftliches Dokument und in Verbindung mit seinen ästhetischen Qualitäten angeeignet. Vor allem aber ist es Humboldts intellektuelles Temperament, sein Unternehmungsgeist, der über den Abstand der Zeiten unvermindert fesselnd wirkt.
Humboldtianer haben sich seit je mehr gewünscht. So will Ottmar Ette, der vor Jahren eine deutsche Ausgabe von Humboldts "Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents" herausbrachte, weit mehr, als heute der Beschäftigung mit Humboldts Forschungen zugetraut wird. Ette hat beobachtet, dass das Werk des Reisenden durchsetzt ist mit methodischen Vorstößen, mit theoretischen Entwürfen, mit Forschungsstrategien, die alle auf der Ebene des empirischen Handwerks verbleiben, ohne von ihrem Verfasser zu einer Methodenlehre integriert worden zu sein.
Dies kann andererseits als ein Glücksfall angesehen werden. Denn auf diese Weise haben sich die theoretischen Inspirationen Humboldts unverbogen erhalten. Der heutige Interpret seiner Werke kann sie als Fragmente herauslösen und, wie Otmar Ette, mit Erstaunen feststellen, wie "modern" Alexander von Humboldt ist: ein global und in vielen Perspektiven denkender und vergleichender Forscher, der unser Zeitgenosse sein könnte.
Seine Reise nach Zentralasien, die er 1829 im Auftrag des russischen Zaren unternahm und die Alexander von Humboldt mit Hilfe mehrerer Mitarbeiter umfangreich dokumentiert hat - Oliver Lubrich hat jetzt zum Jubiläum eine opulente Neuausgabe des mehr als tausend Seiten umfassenden Werks vorgelegt -, ist ein Musterbeispiel für die Gabe dieses Reisenden, überall neue Wissenschaftszweige zu begründen. Hier ist der reisende Gelehrte, der mit Postkutschen achtzehntausend Kilometer bis an die chinesische Grenze zurücklegte, ein Spezialist, der in atemberaubendem Tempo die für ihn wichtigen Informationen zusammenklaubt. Er selbst hat es gesehen, dass dies nichts mehr für Leser von Reiseberichten war, sondern eher für Prospektoren und Klimatologen.
Im Unterschied zum Anschauungsreichtum der südamerikanischen Expedition ist die asiatische, die ihr Pendant sein wollte, ein drastisches Beispiel für den Zerfall der Anschauung, nicht nur durch das Tempo der Kutschfahrten, sondern auch durch die weit gestreuten Kenntnisse, die gewonnen werden sollten. Sie konnten schon damals nur noch arbeitsteilig gesammelt werden. Ging es Alexander von Humboldt darum, die "unvergänglichen Züge zu bezeichnen, durch welche es der Natur gefallen, den Boden, die Klimate und die Erzeugnisse mannigfaltig zu verändern", so geschah dies, wie er selbst erkannte, um den Preis der Reize, die sonst die Reiseerzählungen vermittelten.
Die Reiseform des Wissens schien in dem Augenblick zu zerbrechen, in dem die Welt in ganz neuer Weise zugänglich geworden war. Dass Alexander von Humboldt von diesem Zeitpunkt an nach einer mehr oder weniger literarischen Form der Verdichtung von Natureindrücken sucht, die zu seinem "Kosmos" führen werden, unterstreicht nur die Panik, die von dieser Auflösung der Reiseerzählung ausgegangen ist. Die Wissenschaft war nurmehr die abstrakte Klammer, die die auseinanderstrebenden Erkenntnisse zusammenhielt. Man kann sich diese Spannung von Wissenschaft und Anschauung des Ganzen nicht intensiv genug vorstellen.
Dass es sich um ein Generationsschicksal handelt, das Alexander von Humboldt mit seinem älteren Bruder Wilhelm auf verschiedenen Wegen - die Unterscheidung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft erfasst dies nicht angemessen - teilte, wird deutlich, wenn man die Doppelbiographie studiert, die Manfred Geier dem Brüderpaar gewidmet hat. Abweichend in der Ähnlichkeit, ähnlich im Abweichenden, so könnte man beider Lebensgeschichten charakterisieren: eine tiefe Prägung durchs achtzehnte Jahrhundert, zwei Arten eines erfrischenden Kosmopolitismus, radikale Versuchungen und liberale Antworten, in unterschiedlichem Maße Entfremdung gegenüber ihrer Herkunft und dem preußischen Milieu, einzelgängerischer Ehrgeiz und Staatstätigkeit.
Vielleicht kamen die beiden Brüder in ihren Spannungen und Gemeinsamkeiten ihrem eigenen Wesen näher als in ihrer isolierten Selbstdarstellung. Es ist, als führte jede eine gleichwertige Seinsmöglichkeit in Gestalt des Bruders mit sich. Der Stubengelehrte Wilhelm von Humboldt wird, angeregt durch die Reisen des Bruders Alexander, nicht weniger als dieser zu einem Forscher mit weltweitem Horizont, der die Sprachen erforscht, die der Bruder hat direkt vernehmen können.
Der brillante Einfall der Doppelbiographie hat, so möchte man hoffen, das Tor aufgestoßen zu einer neuen Betrachtung dieses nachromantischen Generationsschicksals.
HENNING RITTER
Ottmar Ette: "Alexander von Humboldt und die Globalisierung". Das Mobile des Wissens. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2009. 476 S., geb., 24,80 [Euro].
Manfred Geier: "Die Brüder Humboldt". Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009. 349 S., Abb. auf Tafeln, geb., 19,90 [Euro].
Alexander von Humboldt: "Zentral-Asien". Das Reisewerk zur Expedition von 1829. Nach der Übersetzung Wilhelm Mahlmanns aus dem Jahr 1844 neu bearbeitet und herausgegeben von Oliver Lubrich. Mit einer Auswahl aus Alexander von Humboldts Reisebriefen und Gustav Roses Reisebericht. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. CCVIII, 923 S., geb., 78,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer war der Universalgelehrte Alexander von Humboldt? Zum 6. Mai, dem 150. Todestag, klärt eine Reihe von Büchern über seine Bedeutung auf.
Heute gehört es zu den unzweideutigen Ruhmestiteln Alexander von Humboldts, dass er sich ohne jeden Vorbehalt gegen die Sklaverei ausgesprochen hat. Spätere Übersetzer und Bearbeiter seines Reisewerkes haben die Deutlichkeit seiner Formulierungen oft abgemildert oder diese ganz unterschlagen. Sein Blick auf die Sklaverei war bestimmt vom menschenrechtlichen Pathos der Anfänge der Französischen Revolution, die er in Paris erlebt hatte.
So schrieb er in seiner südamerikanischen Reise: "Die Menschenliebe besteht nicht darin, ,ein wenig Stockfisch mehr und ein paar Peitschenhiebe weniger' zu geben. Eine wahre Hebung der geknechteten Klasse muss sich auf die ganze moralische und physische Stellung des Menschen erstrecken."
Weniger pathosgeladen, aber doch nicht weniger deutlich hat Humboldt zu einer Zeit, als er damit allein stand, Gefahren und Risiken bemerkt und beschworen, die wir heute als ökologische bezeichnen. Der Raubbau an der unberührten Natur stand ihm ebenso vor Augen wie die Klimaänderungen durch menschliche Eingriffe in den Wasserhaushalt der Natur.
Manche der Gedanken, die uns heute gleichsam unmittelbar anspringen, sind in seinem monumentalen Lebenswerk eher verborgen geblieben, als dass sie die Leser auf neue Wege gelockt hätten. Dem Echo bei seinen deutschen Bewunderern hat er durch seinen wissenschaftlichen Ehrgeiz und seine Großzügigkeit in gewisser Weise selbst im Wege gestanden. Wie er die große Expedition "in die Äquinoktialgegenden" aus seinem eigenen Vermögen finanziert hatte, so auch ihre Auswertung in dreißig Bänden.
Die Ausgabe war, vor allem durch die aufwendigen Abbildungswerke, für bürgerliche Budgets unerschwinglich. Dass Humboldt sie in der Wissenschaftsmetropole Paris erscheinen ließ, natürlich auf Französisch, hing zweifellos mit der Erwartung zusammen, dass sie sich nur hier und für ein Weltpublikum "rechnen" würde.
Der Zug ins Große, der den meisten wissenschaftlichen Unternehmungen Humboldts eigen ist, stellte sich ihrer populären Wirkung entgegen. So begann die unselige Folge der Übersetzungen, Bearbeitungen und Auszüge, die weit bis ins zwanzigste Jahrhundert das Bild des Schriftstellers in ein ungewisses Licht rückte, überhaupt den Zugang zum authentischen Humboldt verstellte. Es ist eine traurige Chronik bis in die jüngste Zeit, die der Potsdamer Romanist Ottmar Ette detailliert nachzeichnet, wobei sich nach seinen Ermittlungen noch bis in die jüngste Zeit handwerkliche Mängel der Übersetzungen mit absichtlichen inhaltlichen Entstellungen verbinden.
In seinem abschließenden, großen Werk "Kosmos" hat Humboldt in seinen späten Lebensjahren für diese Kommunikationsmängel Abhilfe zu schaffen gesucht, indem er in seinen immens erfolgreichen Berliner Vorträgen und Vorlesungen den direkten Zugang zum Publikum suchte und offenbar in einer damals beispiellosen Weise auch fand. Bei Erscheinen des ersten der fünf Bände dieses "Entwurfs einer physischen Weltbeschreibung" war der Autor fünfundsiebzig Jahre alt. Er erlebte den Abschluss der Publikation seiner Summa (1845 bis 1862) nicht mehr.
War es, wie das Echo vermuten lässt, ein zeitgemäßes Werk, das einer neuen wissenschaftlichen Stimmung entgegenkam? In Humboldts Todesjahr fällt die Veröffentlichung von Darwins "Origin of Species", Auftakt einer neuen wissenschaftlichen Mode, deren Vorbereitung in Darwins Frühwerk Alexander von Humboldt mit genauer Witterung für das Genie ihres Autors schon zur Kenntnis genommen hatte, wie umgekehrt Darwin in ihm einen unvergleichlichen Reiseschriftsteller verehrte, an dessen Schriften er sich für seinen Bericht über die Expedition der "Beagle" schulte.
So ist Humboldts "Kosmos" (publiziert in den Jahren zwischen 1845 und 1862) genau auf der Grenzlinie zweier wissenschaftlicher Perioden lokalisiert. Während Humboldt so etwas wie eine "totale" Beschreibung der Natur, von "Himmel und Erde" (wie er das griechische "kosmos" wiederzugeben liebte) anstrebte, die mit der Fülle der Naturanschauung schließlich in ein unmittelbares Naturerleben der Zuhörer münden sollte, war Darwins Horizont keineswegs geringer, wurde aber an einem strikteren Leitfaden erschlossen, dem Mechanismus der Auslese.
Das romantische Erbe Humboldts, das die Natur als Landschaft zu vergegenwärtigen suchte, versetzte sein Unternehmen demgegenüber eher in die Nachbarschaft ästhetischer Naturbetrachtung, so ungeheuer die schiere Masse des empirisch erschlossenen Stoffes sein mochte. In der Architektonik seines "Kosmos" zeichnet sich Humboldts Zwischenstellung zwischen zwei wissenschaftlichen Epochen deutlich ab. Dass das romantische Erbe noch einmal wiederbelebt werden konnte, möchte man als Kompensation des anstürmenden neuen Zeitalters der Empirie auffassen, dessen Heros Alexander von Humboldt in seiner rastlosen Sammelleidenschaft zugleich gewesen ist.
So kann das Werk Alexander von Humboldts in dem guten Sinne als überholt gelten, dass es neue Wege des Wissens erschlossen hat, dass diese aber nicht mehr nach seiner Anleitung begangen werden. So wird sein Werk schon seit langem in erster Linie als ein wissenschaftliches Dokument und in Verbindung mit seinen ästhetischen Qualitäten angeeignet. Vor allem aber ist es Humboldts intellektuelles Temperament, sein Unternehmungsgeist, der über den Abstand der Zeiten unvermindert fesselnd wirkt.
Humboldtianer haben sich seit je mehr gewünscht. So will Ottmar Ette, der vor Jahren eine deutsche Ausgabe von Humboldts "Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents" herausbrachte, weit mehr, als heute der Beschäftigung mit Humboldts Forschungen zugetraut wird. Ette hat beobachtet, dass das Werk des Reisenden durchsetzt ist mit methodischen Vorstößen, mit theoretischen Entwürfen, mit Forschungsstrategien, die alle auf der Ebene des empirischen Handwerks verbleiben, ohne von ihrem Verfasser zu einer Methodenlehre integriert worden zu sein.
Dies kann andererseits als ein Glücksfall angesehen werden. Denn auf diese Weise haben sich die theoretischen Inspirationen Humboldts unverbogen erhalten. Der heutige Interpret seiner Werke kann sie als Fragmente herauslösen und, wie Otmar Ette, mit Erstaunen feststellen, wie "modern" Alexander von Humboldt ist: ein global und in vielen Perspektiven denkender und vergleichender Forscher, der unser Zeitgenosse sein könnte.
Seine Reise nach Zentralasien, die er 1829 im Auftrag des russischen Zaren unternahm und die Alexander von Humboldt mit Hilfe mehrerer Mitarbeiter umfangreich dokumentiert hat - Oliver Lubrich hat jetzt zum Jubiläum eine opulente Neuausgabe des mehr als tausend Seiten umfassenden Werks vorgelegt -, ist ein Musterbeispiel für die Gabe dieses Reisenden, überall neue Wissenschaftszweige zu begründen. Hier ist der reisende Gelehrte, der mit Postkutschen achtzehntausend Kilometer bis an die chinesische Grenze zurücklegte, ein Spezialist, der in atemberaubendem Tempo die für ihn wichtigen Informationen zusammenklaubt. Er selbst hat es gesehen, dass dies nichts mehr für Leser von Reiseberichten war, sondern eher für Prospektoren und Klimatologen.
Im Unterschied zum Anschauungsreichtum der südamerikanischen Expedition ist die asiatische, die ihr Pendant sein wollte, ein drastisches Beispiel für den Zerfall der Anschauung, nicht nur durch das Tempo der Kutschfahrten, sondern auch durch die weit gestreuten Kenntnisse, die gewonnen werden sollten. Sie konnten schon damals nur noch arbeitsteilig gesammelt werden. Ging es Alexander von Humboldt darum, die "unvergänglichen Züge zu bezeichnen, durch welche es der Natur gefallen, den Boden, die Klimate und die Erzeugnisse mannigfaltig zu verändern", so geschah dies, wie er selbst erkannte, um den Preis der Reize, die sonst die Reiseerzählungen vermittelten.
Die Reiseform des Wissens schien in dem Augenblick zu zerbrechen, in dem die Welt in ganz neuer Weise zugänglich geworden war. Dass Alexander von Humboldt von diesem Zeitpunkt an nach einer mehr oder weniger literarischen Form der Verdichtung von Natureindrücken sucht, die zu seinem "Kosmos" führen werden, unterstreicht nur die Panik, die von dieser Auflösung der Reiseerzählung ausgegangen ist. Die Wissenschaft war nurmehr die abstrakte Klammer, die die auseinanderstrebenden Erkenntnisse zusammenhielt. Man kann sich diese Spannung von Wissenschaft und Anschauung des Ganzen nicht intensiv genug vorstellen.
Dass es sich um ein Generationsschicksal handelt, das Alexander von Humboldt mit seinem älteren Bruder Wilhelm auf verschiedenen Wegen - die Unterscheidung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft erfasst dies nicht angemessen - teilte, wird deutlich, wenn man die Doppelbiographie studiert, die Manfred Geier dem Brüderpaar gewidmet hat. Abweichend in der Ähnlichkeit, ähnlich im Abweichenden, so könnte man beider Lebensgeschichten charakterisieren: eine tiefe Prägung durchs achtzehnte Jahrhundert, zwei Arten eines erfrischenden Kosmopolitismus, radikale Versuchungen und liberale Antworten, in unterschiedlichem Maße Entfremdung gegenüber ihrer Herkunft und dem preußischen Milieu, einzelgängerischer Ehrgeiz und Staatstätigkeit.
Vielleicht kamen die beiden Brüder in ihren Spannungen und Gemeinsamkeiten ihrem eigenen Wesen näher als in ihrer isolierten Selbstdarstellung. Es ist, als führte jede eine gleichwertige Seinsmöglichkeit in Gestalt des Bruders mit sich. Der Stubengelehrte Wilhelm von Humboldt wird, angeregt durch die Reisen des Bruders Alexander, nicht weniger als dieser zu einem Forscher mit weltweitem Horizont, der die Sprachen erforscht, die der Bruder hat direkt vernehmen können.
Der brillante Einfall der Doppelbiographie hat, so möchte man hoffen, das Tor aufgestoßen zu einer neuen Betrachtung dieses nachromantischen Generationsschicksals.
HENNING RITTER
Ottmar Ette: "Alexander von Humboldt und die Globalisierung". Das Mobile des Wissens. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2009. 476 S., geb., 24,80 [Euro].
Manfred Geier: "Die Brüder Humboldt". Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009. 349 S., Abb. auf Tafeln, geb., 19,90 [Euro].
Alexander von Humboldt: "Zentral-Asien". Das Reisewerk zur Expedition von 1829. Nach der Übersetzung Wilhelm Mahlmanns aus dem Jahr 1844 neu bearbeitet und herausgegeben von Oliver Lubrich. Mit einer Auswahl aus Alexander von Humboldts Reisebriefen und Gustav Roses Reisebericht. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. CCVIII, 923 S., geb., 78,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit Beifall begrüßt Jens Bisky diese Doppelbiografie der Brüder Humboldt, die Manfred Geier vorgelegt hat. Das Buch scheint ihm die bislang "beste Einführung in Leben und Werk" der Humboldts trotz der Schwierigkeiten, die ein solches Unterfangen mit sich bringt: erstens weil die Brüder Alexander und Wilhelm ihre Sternstunden getrennt erlebten - der eine auf seiner Amerikareise, der andere bei der Bildungsreform und der Universitätsgründung in Berlin - , zweitens wegen der enormen Materialfülle. Nichtsdestoweniger ist es Geier zur Freude des Rezensenten gelungen, das Wesentliche auf gut 300 Seiten zu sagen, einen Einblick in die Lebenswelt der Brüder zu geben und einen Schlüssel zum Verständnis ihrer Werke. Bisky weiß es zu schätzen, wie Geier die Bildungsgeschichte der Humboldts mit der Geschichte der Aufklärung verknüpft und sogar ihre erotischen Wünsche und Erfahrungen einbringt. Allerdings bleibt manchen in seinen Augen nur summarisch behandelt. Das scheint ihm der Preis für den geringen Umfang und die bündige Darstellung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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