Geschichte produziert Bilder, Bilder machen Geschichte. Denken wir an deutsche Geschichte der letzten 75 Jahre, so stürzt kaleidoskopartig eine Bilderwelle über uns zusammen: Von den grauen Trümmerbildern der Nachkriegszeit und der betonten Bescheidenheit der Bonner Republik über die schrille Buntheit der 60er- und 70er-Jahre bis zur neu gestalteten Berliner Hauptstadt und der Diversität unseres heutigen Landes. Ohne die medialen Bilder zu begreifen, können wir auch unsere Geschichte nicht verstehen. In drei großen Blöcken schreibt Gerhard Paul, Altmeister der Visual History, die Bildgeschichte der letzten 75 Jahre: Bonner Republik - Berliner Republik - Ampelrepublik. Was sind die Bilder, die unsere Geschichte repräsentieren? Wie präsentierte sich die deutsche Politik, die sich wandelnde Gesellschaft? Was prägte unser visuelles Gedächtnis? Als Gerhard Pauls opus magnum erscheint zum 75. Jahrestag ihrer Gründung die umfassende Bildgeschichte der Bundesrepublik.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Gerhard Paul hat als Flensburger Professor lange zu "Visual History" geforscht, weiß Rezensent Johan Schloemann, in diesem mit vielen Bildern ausgestatteten Band setzt er sich mit der "Macht des einzelnen Bildes" auseinander. Schloemann überzeugen eher die Passagen, in denen es um schockierende und ins kollektive Gedächtnis eingebrannte Bilder zum Beispiel von der RAF geht. Je näher Paul der Gegenwart kommt, desto beliebiger und "diffuser" scheinen dem Kritiker die Bilder - zwar erörtert der Autor selbst diesen "Medienwandel", trotzdem steht die Statik des Mediums Buch zur zunehmenden Flüchtigkeit der Bilder schon arg im Kontrast. Pauls Kritik an politischer Korrektheit kann der Kritiker nicht ganz ernst nehmen, nichtsdestotrotz sieht er hier ein "imposantes Kompendium" mit vielen klugen Analysen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.12.2023Kaleidoskop der Bildermacht
Briefmarken und Buttons nicht zu vergessen: Gerhard Paul ordnet mehr als fünfhundert Abbildungen zu einer visuellen Geschichte der Bundesrepublik.
Vor dem Schreibtisch hatte man eine schwarz-rot-goldene Flagge drapiert, und genau in der Tischmitte war ein von zwei goldenen Engeln gehaltenes Tintenfass aus dem Kölner Ratssilber aufgestellt worden. Scheinwerfer waren im Saal verteilt, um den Raum auszuleuchten. Die Unterzeichnung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 war eine perfekte Medieninszenierung, Fotografen und Kameraleute sollten beste Bedingungen für ihre Arbeit vorfinden, um den politisch bedeutsamen Augenblick im Bild für die Nachwelt festzuhalten.
Gerhard Paul stellt eine Fotografie dieses Tages, aufgenommen von der Düsseldorfer Fotografien Erna Wagner-Hehmke, an den Anfang seiner visuellen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Die Aufnahme entstand im Auftrag der nordrhein-westfälischen Landesregierung, die jedem Mitglied des Parlamentarischen Rates nach Abschluss der Beratungen ein eigenes, individuell gestaltetes Fotoalbum überreichen wollte, um in der damals noch ausstehenden Hauptstadtfrage Sympathien für den landeseigenen Kandidaten, die Stadt Bonn, zu wecken. Indem Paul, lange Jahre Professor für Geschichte an der Universität Flensburg und Pionier der "Visual History" im deutschsprachigen Raum, das Auftragsfoto von der Grundgesetz-Unterzeichnung an den Beginn stellt, wird deutlich, wie sehr Bilder und Politik in der bundesrepublikanischen Geschichte von Anfang an verwoben sind.
Dies gilt für den gesamten Zeitraum des letzten Dreivierteljahrhunderts, den Paul in den Blick nimmt. Die Bilddistributoren ändern sich rasant von der Kino-Wochenschau, dem Heimatfilm und der Illustrierten über das Fernsehen hin zum Internet und Smartphone, doch der Befund bleibt: Bilder sind nie statisch, und sie entstehen immer in einem Kontext, sie sind "aktive Medien, die Einstellungen verstärken, mitprägen oder sogar (wie etwa 2020 im Fall der verhängnisvollen 'Bilder von Bergamo') eigene Handlungswelten erzeugen". Paul demonstriert diese unterschiedlichen Bildwirkungen anschaulich, virtuos und anregend an zahlreichen, teils überraschenden Beispielen, wie dem Atom-Ei von Garching oder dem "Video-Auge" der Berliner Verkehrsgesellschaft. Sein Fotoalbum der Bundesrepublik legt auch unerwartete Zusammenhänge offen. So ist die bundesdeutsche Bilderwelt bis heute von vielen Kontinuitäten geprägt, deren Ursprünge oft noch vor 1949 liegen.
Auch wenn die Dreiteilung seiner Darstellung in "Bonner Republik" (bis 1989), "Berliner Republik" und "Ampelrepublik" (ab 2021) nicht wirklich zu überzeugen vermag, weil die politischen Zäsuren eben nicht mit bildpolitischen oder -technischen Einschnitten korrespondieren (und ob die "Ampelrepublik" wirklich ein eigenes Bildprogramm entwickeln wird, das sich signifikant von dem der "Berliner Republik" unterscheidet, bleibt abzuwarten), ist das, was Paul in seinem Kaleidoskop der letzten 75 Jahre zusammengetragen hat, beachtenswert: Neben der dominierenden Pressefotografie - darunter vor allem "Spiegel"-Titelbilder - geht es auch um Architektur und bildende Kunst, um Film- und Wahlplakate, um Briefmarken und Ansteckbuttons, um Infografiken und Piktogramme.
Irritierend bleibt, dass der Autor an keiner Stelle bildethische Fragen diskutiert, wie sie nicht erst seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 virulent geworden sind. Die Chronistenpflicht mag es gebieten, auch die erzwungenen Entführungsfotos von Hanns Martin Schleyer und Peter Lorenz in eine Geschichte der Bundesrepublik aufzunehmen. Dennoch wäre es angebracht gewesen, auf das Dilemma einzugehen, vor dem jeder steht, der mit einem Wiederabdruck dieser Bilder unfreiwillig deren Propagandazweck perpetuiert. Gerade dann, wenn man wie Paul mit Blick auf den Terror der Siebzigerjahre zu der Einschätzung kommt: "Das Bild (...) war zur Waffe geworden."
Pauls mehr als fünfhundert Abbildungen umfassendes Werk, dessen Stärke vor allem die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik sind, weniger die Darstellung der jüngsten Vergangenheit, beginnt mit dem Grundgesetz und endet mit ebendiesem. Allerdings wohnt der letzten Abbildung nichts mehr von der feierlichen Atmosphäre des 23. Mai 1949 inne. Ganz im Gegenteil: Sie zeigt, wie Mitglieder der Letzten Generation in orangefarbenen Warnwesten am 4. März 2023 das Grundgesetz-Denkmal des israelischen Künstlers Dani Karavan im Berliner Regierungsviertel mit schwarzer Farbe übergießen und Plakate mit der Aufschrift "Erdöl oder Grundrechte" entrollen. Paul sieht die bildbewussten Aktionen der Klimaaktivisten, ihren "eschatologischen Protest" und "religiösen Eifer", ihre "bilderstürmerischen Attacken" und die "Selbstinszenierung als Märtyrer" in einer visuellen Traditionslinie mit der Studentenbewegung der Sechzigerjahre und mit der RAF: "Und wie damals waren es die Mainstreammedien, die die Bilder des Protests massenhaft popularisierten, da sie sich ihrer Ästhetik nicht entziehen konnten."
Da dem Band leider ein zusammenfassendes und bilanzierendes Schlusskapitel fehlt, wirkt dieser Satz, wie ein - vielleicht ungewolltes - kritisches Fazit zur ambivalenten visuellen Rolle der Leitmedien in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, als Produzenten und Multiplikatoren von Bildern, die aus deren Historie nicht mehr wegzudenken sind. Denn mit Paul und seinem Werk ließe sich der berühmte Eingangssatz aus Niklas Luhmanns "Realität der Massenmedien" aus dem Jahr 1995 getrost abwandeln: "Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch Bilder." RENÉ SCHLOTT
Gerhard Paul: "Die Bundesrepublik". Eine visuelle Geschichte.
wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2023.
672 S., Abb., geb.,
60,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Briefmarken und Buttons nicht zu vergessen: Gerhard Paul ordnet mehr als fünfhundert Abbildungen zu einer visuellen Geschichte der Bundesrepublik.
Vor dem Schreibtisch hatte man eine schwarz-rot-goldene Flagge drapiert, und genau in der Tischmitte war ein von zwei goldenen Engeln gehaltenes Tintenfass aus dem Kölner Ratssilber aufgestellt worden. Scheinwerfer waren im Saal verteilt, um den Raum auszuleuchten. Die Unterzeichnung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 war eine perfekte Medieninszenierung, Fotografen und Kameraleute sollten beste Bedingungen für ihre Arbeit vorfinden, um den politisch bedeutsamen Augenblick im Bild für die Nachwelt festzuhalten.
Gerhard Paul stellt eine Fotografie dieses Tages, aufgenommen von der Düsseldorfer Fotografien Erna Wagner-Hehmke, an den Anfang seiner visuellen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Die Aufnahme entstand im Auftrag der nordrhein-westfälischen Landesregierung, die jedem Mitglied des Parlamentarischen Rates nach Abschluss der Beratungen ein eigenes, individuell gestaltetes Fotoalbum überreichen wollte, um in der damals noch ausstehenden Hauptstadtfrage Sympathien für den landeseigenen Kandidaten, die Stadt Bonn, zu wecken. Indem Paul, lange Jahre Professor für Geschichte an der Universität Flensburg und Pionier der "Visual History" im deutschsprachigen Raum, das Auftragsfoto von der Grundgesetz-Unterzeichnung an den Beginn stellt, wird deutlich, wie sehr Bilder und Politik in der bundesrepublikanischen Geschichte von Anfang an verwoben sind.
Dies gilt für den gesamten Zeitraum des letzten Dreivierteljahrhunderts, den Paul in den Blick nimmt. Die Bilddistributoren ändern sich rasant von der Kino-Wochenschau, dem Heimatfilm und der Illustrierten über das Fernsehen hin zum Internet und Smartphone, doch der Befund bleibt: Bilder sind nie statisch, und sie entstehen immer in einem Kontext, sie sind "aktive Medien, die Einstellungen verstärken, mitprägen oder sogar (wie etwa 2020 im Fall der verhängnisvollen 'Bilder von Bergamo') eigene Handlungswelten erzeugen". Paul demonstriert diese unterschiedlichen Bildwirkungen anschaulich, virtuos und anregend an zahlreichen, teils überraschenden Beispielen, wie dem Atom-Ei von Garching oder dem "Video-Auge" der Berliner Verkehrsgesellschaft. Sein Fotoalbum der Bundesrepublik legt auch unerwartete Zusammenhänge offen. So ist die bundesdeutsche Bilderwelt bis heute von vielen Kontinuitäten geprägt, deren Ursprünge oft noch vor 1949 liegen.
Auch wenn die Dreiteilung seiner Darstellung in "Bonner Republik" (bis 1989), "Berliner Republik" und "Ampelrepublik" (ab 2021) nicht wirklich zu überzeugen vermag, weil die politischen Zäsuren eben nicht mit bildpolitischen oder -technischen Einschnitten korrespondieren (und ob die "Ampelrepublik" wirklich ein eigenes Bildprogramm entwickeln wird, das sich signifikant von dem der "Berliner Republik" unterscheidet, bleibt abzuwarten), ist das, was Paul in seinem Kaleidoskop der letzten 75 Jahre zusammengetragen hat, beachtenswert: Neben der dominierenden Pressefotografie - darunter vor allem "Spiegel"-Titelbilder - geht es auch um Architektur und bildende Kunst, um Film- und Wahlplakate, um Briefmarken und Ansteckbuttons, um Infografiken und Piktogramme.
Irritierend bleibt, dass der Autor an keiner Stelle bildethische Fragen diskutiert, wie sie nicht erst seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 virulent geworden sind. Die Chronistenpflicht mag es gebieten, auch die erzwungenen Entführungsfotos von Hanns Martin Schleyer und Peter Lorenz in eine Geschichte der Bundesrepublik aufzunehmen. Dennoch wäre es angebracht gewesen, auf das Dilemma einzugehen, vor dem jeder steht, der mit einem Wiederabdruck dieser Bilder unfreiwillig deren Propagandazweck perpetuiert. Gerade dann, wenn man wie Paul mit Blick auf den Terror der Siebzigerjahre zu der Einschätzung kommt: "Das Bild (...) war zur Waffe geworden."
Pauls mehr als fünfhundert Abbildungen umfassendes Werk, dessen Stärke vor allem die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik sind, weniger die Darstellung der jüngsten Vergangenheit, beginnt mit dem Grundgesetz und endet mit ebendiesem. Allerdings wohnt der letzten Abbildung nichts mehr von der feierlichen Atmosphäre des 23. Mai 1949 inne. Ganz im Gegenteil: Sie zeigt, wie Mitglieder der Letzten Generation in orangefarbenen Warnwesten am 4. März 2023 das Grundgesetz-Denkmal des israelischen Künstlers Dani Karavan im Berliner Regierungsviertel mit schwarzer Farbe übergießen und Plakate mit der Aufschrift "Erdöl oder Grundrechte" entrollen. Paul sieht die bildbewussten Aktionen der Klimaaktivisten, ihren "eschatologischen Protest" und "religiösen Eifer", ihre "bilderstürmerischen Attacken" und die "Selbstinszenierung als Märtyrer" in einer visuellen Traditionslinie mit der Studentenbewegung der Sechzigerjahre und mit der RAF: "Und wie damals waren es die Mainstreammedien, die die Bilder des Protests massenhaft popularisierten, da sie sich ihrer Ästhetik nicht entziehen konnten."
Da dem Band leider ein zusammenfassendes und bilanzierendes Schlusskapitel fehlt, wirkt dieser Satz, wie ein - vielleicht ungewolltes - kritisches Fazit zur ambivalenten visuellen Rolle der Leitmedien in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, als Produzenten und Multiplikatoren von Bildern, die aus deren Historie nicht mehr wegzudenken sind. Denn mit Paul und seinem Werk ließe sich der berühmte Eingangssatz aus Niklas Luhmanns "Realität der Massenmedien" aus dem Jahr 1995 getrost abwandeln: "Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch Bilder." RENÉ SCHLOTT
Gerhard Paul: "Die Bundesrepublik". Eine visuelle Geschichte.
wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2023.
672 S., Abb., geb.,
60,- Euro.
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