Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.11.1997Nachdenkliche Scheibenwischer
Ruhestand aus dem Katalog: Cees Noteboom unterwegs
Man muß nicht alles drucken, was ein anerkannter Schriftsteller schreibt. Man soll auch ihm die Freiheit zugestehen, sich weiterzubilden, Lockerungs- und Entspannungsübungen zu absolvieren, ohne daß gleich alle davon erfahren. Wir freuen uns, daß Cees Noteboom offenbar auf Schritt und Tritt beobachtet und notiert, und wir nehmen an, daß das einem Schriftsteller gut zu Gesicht steht: Er legt vielleicht einen Fundus an, eine Stoffsammlung, aus der er dann bei Bedarf Rohmaterial holt, um es später, sorgfältig behauen, einem Kunstwerk einzufügen.
Was wir aber nicht wollen, ist, in seinem unordentlichen Fundus herumzuirren und ständig über Sätze zu stolpern wie diesen: "Die Zeit heilt alle Wunden, und die Erinnerung kratzt sie wieder auf"; oder "Der Rhythmus meiner Scheibenwischer fördert die Nachdenklichkeit". Diese Nachdenklichkeit wiederum bringt dann immerhin auch Sätze von großer Klarheit zutage wie den von den "schwülstigen Überlegungen, die auch ich nie ganz lassen kann" - und es ist nicht einmal besonders boshaft, diese kokett gemeinte Phrase zum verborgenen Motto des ganzen Buches zu erklären. Denn sie beleuchtet Notebooms Verfahren: Herumwandern, beliebige Details aufsammeln und Sätze, manchmal sogar Lebensweisheiten drumherum ranken.
Warum nur dieser Noteboomsche Steinbruch, der Wort-Bruch, der nicht hält, was er verspricht, nämlich Geschichten vom und über das Reisen? Warum ein Buch voller Texte, die klingen wie die Abschrift von den Diktaphonen, die schrullige Personen ja wirklich vor Sehenswürdigkeiten zum Andenken besprechen? Wahrscheinlich, weil derzeit die Reisereportage mit irritierender Fiebrigkeit wiederentdeckt wird. Jahrzehntelang wurde sie, der letzte exotische Auslauf eines auf das Naheliegende und Aktuelle gezähmten Journalismus, in dessen gepflegte Ecken abgeschoben: in "Merian" und "Geo" und die Reiseteile jener wenigen Zeitungen, die sich so etwas noch leisten wollten. Dort gingen Menschen wie Christoph Ransmayr dieser ehrwürdigen, anachronistischen Kunst nach, Weltlegenden mit der ihnen gemäßen Langsamkeit zu bereisen und mit der ihnen gebührenden Aufmerksamkeit zu beschreiben.
Vielleicht gehört die Reisereportage genau da hin; vielleicht muß es ihr wahrer Liebhaber (wie der wahre Reisende) auf sich nehmen, all die abgelegenen Winkel zu kennen und regelmäßig aufzusuchen, um hie und da mit einer unvermuteten Ein-oder Fernsicht bei klarer Luft belohnt zu werden. Vielleicht ist es den Glanzstücken der Reisereportage am angemessensten, ausgeschnitten in Schuhkartons aufbewahrt zu werden. Nun, das ist den Verlegern egal: Sie graben die einschlägigen Magazine und die Schubladen der Schriftsteller um, um Texte vom Reisen auf einen Haufen zwischen Buchdeckel zu pressen - Pauschalarrangements für den Pantoffel-Fremden.
Begleitend setzen flinke Kulturinitiativen Preise aus für Reiseliteratur - vermutlich, weil es für alles andere schon welche gibt. In diesem Sog verlieh das Land Tirol im vergangenen Jahr einen solchen Preis an Noteboom, doch das war im Hinblick auf die vorliegenden Texte irreführend. Sie nämlich verdienen, wenn schon, einen Preis für labyrinthische Selbstreflexionen eines überpräsenten Ichs. Reisen also in das Innere von Cees Noteboom: in seine Belesenheit hinein, mitten durch seine Kunstkenntnis, dabei begleitet von seinen Assoziationsketten, die vom Reisen offenbar aufs verdaulichste angeregt worden sind.
Geschichten vom Reisen sind das aber nicht. In einer Welt, in der Definitionen so lange bestehenbleiben wie Grenzen, nämlich kurz, sollte doch zumindest noch gelten: Geschichten vom Reisen sind Geschichten von Räumen, die man bereist. Dort, in den Räumen, ist man vorerst fremd und daher arm an Geschichten. Diese Räume sind selten menschenleer, außer man schreibt über Wüsten oder Eismeere. Und die Geschichten der Menschen, die dort leben, helfen uns, die Räume zu verstehen. Und umgekehrt. So schrieb Ransmayr seine poetischen Reportagen: indem er akribisch die Lebensläufe, Lügen und Weisheiten der Einheimischen erforschte. Wie von selbst entstanden einem die Räume dazu, die unüberprüften der Phantasie oder die wiedererweckten der Erinnerung.
Cees Noteboom hingegen scheint niemals Menschen zu begegnen, denn er besucht am liebsten Museen. Dort spinnt er sein Wissen in die beliebigsten Richtungen weiter: "Gent ist für mich bis ins Innerste seiner mittelalterlichen Seele eine Stadt, eine Polis, hat aber zugleich etwas Ländliches." Anschließend kauft er immer einen Katalog: "Aber warum? Als Beweis, daß ich da war? Um, wenn ich alt und hilfebedürftig bin, anhand all dieser bis dahin vergilbten Druckerzeugnisse noch einmal zu leben?"
Armer Cees Noteboom. Das klingt nach einem Ruhestand aus dem Katalog, einsam, grau, blutleer wie diese Geschichten, die versprengt und auseinandergerissen Eingang finden werden in die diversen Anthologien der europäischen Regionen, die derzeit so fleißig zusammengestellt werden, obwohl - oder: weil? - doch Europa angeblich zusammenwächst. EVA MENASSE
Cees Noteboom: "Die Dame mit dem Einhorn". Europäische Reisen. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 302 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ruhestand aus dem Katalog: Cees Noteboom unterwegs
Man muß nicht alles drucken, was ein anerkannter Schriftsteller schreibt. Man soll auch ihm die Freiheit zugestehen, sich weiterzubilden, Lockerungs- und Entspannungsübungen zu absolvieren, ohne daß gleich alle davon erfahren. Wir freuen uns, daß Cees Noteboom offenbar auf Schritt und Tritt beobachtet und notiert, und wir nehmen an, daß das einem Schriftsteller gut zu Gesicht steht: Er legt vielleicht einen Fundus an, eine Stoffsammlung, aus der er dann bei Bedarf Rohmaterial holt, um es später, sorgfältig behauen, einem Kunstwerk einzufügen.
Was wir aber nicht wollen, ist, in seinem unordentlichen Fundus herumzuirren und ständig über Sätze zu stolpern wie diesen: "Die Zeit heilt alle Wunden, und die Erinnerung kratzt sie wieder auf"; oder "Der Rhythmus meiner Scheibenwischer fördert die Nachdenklichkeit". Diese Nachdenklichkeit wiederum bringt dann immerhin auch Sätze von großer Klarheit zutage wie den von den "schwülstigen Überlegungen, die auch ich nie ganz lassen kann" - und es ist nicht einmal besonders boshaft, diese kokett gemeinte Phrase zum verborgenen Motto des ganzen Buches zu erklären. Denn sie beleuchtet Notebooms Verfahren: Herumwandern, beliebige Details aufsammeln und Sätze, manchmal sogar Lebensweisheiten drumherum ranken.
Warum nur dieser Noteboomsche Steinbruch, der Wort-Bruch, der nicht hält, was er verspricht, nämlich Geschichten vom und über das Reisen? Warum ein Buch voller Texte, die klingen wie die Abschrift von den Diktaphonen, die schrullige Personen ja wirklich vor Sehenswürdigkeiten zum Andenken besprechen? Wahrscheinlich, weil derzeit die Reisereportage mit irritierender Fiebrigkeit wiederentdeckt wird. Jahrzehntelang wurde sie, der letzte exotische Auslauf eines auf das Naheliegende und Aktuelle gezähmten Journalismus, in dessen gepflegte Ecken abgeschoben: in "Merian" und "Geo" und die Reiseteile jener wenigen Zeitungen, die sich so etwas noch leisten wollten. Dort gingen Menschen wie Christoph Ransmayr dieser ehrwürdigen, anachronistischen Kunst nach, Weltlegenden mit der ihnen gemäßen Langsamkeit zu bereisen und mit der ihnen gebührenden Aufmerksamkeit zu beschreiben.
Vielleicht gehört die Reisereportage genau da hin; vielleicht muß es ihr wahrer Liebhaber (wie der wahre Reisende) auf sich nehmen, all die abgelegenen Winkel zu kennen und regelmäßig aufzusuchen, um hie und da mit einer unvermuteten Ein-oder Fernsicht bei klarer Luft belohnt zu werden. Vielleicht ist es den Glanzstücken der Reisereportage am angemessensten, ausgeschnitten in Schuhkartons aufbewahrt zu werden. Nun, das ist den Verlegern egal: Sie graben die einschlägigen Magazine und die Schubladen der Schriftsteller um, um Texte vom Reisen auf einen Haufen zwischen Buchdeckel zu pressen - Pauschalarrangements für den Pantoffel-Fremden.
Begleitend setzen flinke Kulturinitiativen Preise aus für Reiseliteratur - vermutlich, weil es für alles andere schon welche gibt. In diesem Sog verlieh das Land Tirol im vergangenen Jahr einen solchen Preis an Noteboom, doch das war im Hinblick auf die vorliegenden Texte irreführend. Sie nämlich verdienen, wenn schon, einen Preis für labyrinthische Selbstreflexionen eines überpräsenten Ichs. Reisen also in das Innere von Cees Noteboom: in seine Belesenheit hinein, mitten durch seine Kunstkenntnis, dabei begleitet von seinen Assoziationsketten, die vom Reisen offenbar aufs verdaulichste angeregt worden sind.
Geschichten vom Reisen sind das aber nicht. In einer Welt, in der Definitionen so lange bestehenbleiben wie Grenzen, nämlich kurz, sollte doch zumindest noch gelten: Geschichten vom Reisen sind Geschichten von Räumen, die man bereist. Dort, in den Räumen, ist man vorerst fremd und daher arm an Geschichten. Diese Räume sind selten menschenleer, außer man schreibt über Wüsten oder Eismeere. Und die Geschichten der Menschen, die dort leben, helfen uns, die Räume zu verstehen. Und umgekehrt. So schrieb Ransmayr seine poetischen Reportagen: indem er akribisch die Lebensläufe, Lügen und Weisheiten der Einheimischen erforschte. Wie von selbst entstanden einem die Räume dazu, die unüberprüften der Phantasie oder die wiedererweckten der Erinnerung.
Cees Noteboom hingegen scheint niemals Menschen zu begegnen, denn er besucht am liebsten Museen. Dort spinnt er sein Wissen in die beliebigsten Richtungen weiter: "Gent ist für mich bis ins Innerste seiner mittelalterlichen Seele eine Stadt, eine Polis, hat aber zugleich etwas Ländliches." Anschließend kauft er immer einen Katalog: "Aber warum? Als Beweis, daß ich da war? Um, wenn ich alt und hilfebedürftig bin, anhand all dieser bis dahin vergilbten Druckerzeugnisse noch einmal zu leben?"
Armer Cees Noteboom. Das klingt nach einem Ruhestand aus dem Katalog, einsam, grau, blutleer wie diese Geschichten, die versprengt und auseinandergerissen Eingang finden werden in die diversen Anthologien der europäischen Regionen, die derzeit so fleißig zusammengestellt werden, obwohl - oder: weil? - doch Europa angeblich zusammenwächst. EVA MENASSE
Cees Noteboom: "Die Dame mit dem Einhorn". Europäische Reisen. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 302 S., geb., 48,- DM.
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