Die Informationen des Ministeriums für Staatssicherheit beleuchten wesentliche Vorgänge des Jahres 1964: Die ersten Passierscheinabkommen ermöglichten es der Westberliner Bevölkerung, ihre Verwandten in Ostberlin nach dem Bau der Mauer wieder zu besuchen. Ab November wurde DDR-Rentnern auch der umgekehrte Weg wieder gestattet. Das MfS beobachtete den reibungslosen Verlauf der von vielen Seiten beargwöhnten Experimente misstrauisch, ebenso wie das letzte gesamtdeutsche Treffen von Jugendlichen, das die FDJ zu Pfingsten in Ostberlin veranstaltete. In der detaillierten Berichterstattung der ZAIG spiegeln sich die Befürchtungen des MfS ebenso wie die Kontroversen zwischen Bonn und Westberlin über Möglichkeiten, Reichweite und Folgen dieser deutsch-deutschen Kontakte. Während die Rückkehr der überwiegenden Zahl der Rentner von ihren Westreisen die eifersüchtig gegen Bonner Ansprüche verteidigte Souveränität des ostdeutschen Regimes zu bestätigen schien, wurde zugleich mit der ganzen Macht der Geheimpolizei versucht, Oppositionelle wie Robert Havemann oder Heinz Brandt zu isolieren und zum Schweigen zu verdammen. Weitere MfS-Informationen geben Auskunft über die der Stasi als sicherheitsrelevant erscheinenden Vorgänge aus allen Bereichen des Lebens in der DDR.
Der Bearbeiter:
Dr. Bernd Florath ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Bildung und Forschung des BStU in Berlin.
Der Bearbeiter:
Dr. Bernd Florath ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Bildung und Forschung des BStU in Berlin.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.2018Die oberflächliche Ruhe des Jahres drei
Die DDR im Jahre 1964 - Was die Berichterstatter des Ministeriums für Staatssicherheit nach oben meldeten
Ein weiterer der seit rund zehn Jahren im Auftrag des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR herausgegebenen Bände zur Stimmung der DDR-Bevölkerung liegt vor, dieses Mal für das Jahr 1964. Er basiert auf den geheimen Berichten der knapp zehn Jahre zuvor eingerichteten "Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe" des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Lektüre der im typischen Stasi-Apparatschik-Deutsch verfassten Dokumente ist eine ebenso deprimierende wie ermüdende Angelegenheit. Erfreulicherweise wird die Dokumentation jedoch durch eine instruktive Einleitung des Bearbeiters Bernd Florath ergänzt. Diese ermöglicht die Einordnung der Geheimdienst-Berichte in den Gesamtzusammenhang der Politik des "zweiten deutschen Staates".
Das Jahr 1964 gilt als recht ereignislos und spielt auch in der kollektiven Erinnerung kaum eine Rolle. Die DDR befand sich im dritten Jahr nach dem Mauerbau in einer merkwürdigen Lage: An der innerdeutschen Grenze stand der angebliche "antifaschistische Schutzwall". Die meisten Menschen auf dem Territorium der DDR begannen, sich mangels Ausreise- und Fluchtalternativen wohl oder übel in ihrem eingemauerten Staat einzurichten und zu arrangieren. Traumatische Ereignisse wie der Arbeiter- und Volksaufstand von 1953 und die Zeiten der Massenflucht 1960/61 gehörten scheinbar der Vergangenheit an. Die Stasi hatte leichtes Spiel, durch Schönfärberei der Staatsspitze zu bestätigen, dass sie nicht viel zu befürchten hatte.
Einerseits hatte die Mauer der SED-Diktatur Sicherheit verschafft. Andererseits wurden gerade vor dem Hintergrund dieses für das Regime erfreulichen Zustandes deutliche Rufe innerhalb und außerhalb der SED nach einer Überwindung der "Sklerose" des Marxismus laut. Beispielsweise löste das auflagenstarke Buch "Spur der Steine", ein Epos aus der Feder von Erik Neutsch über den wenig heroischen Alltag in einem ostdeutschen Chemiekombinat, ebenso heftige Debatten aus wie die Unbotmäßigkeiten eines jungen Liedermachers namens Wolf Biermann. Vor allem bei missliebigen Oppositionellen und Querköpfen wie Robert Havemann und Heinz Brandt griff der Stasi-Apparat rigoros durch, um diese zu "isolieren".
Havemann geriet aufgrund seiner Vorlesungen an der Ost-Berliner Humboldt-Universität immer stärker ins Visier der Staatssicherheit. Die Berichterstatter des Ministeriums waren sich allerdings anfangs angesichts des enormen Echos, das die Thesen Havemanns auch in Parteikreisen hatten, eine Zeitlang noch nicht sicher, ob sie diesen auch der "revisionistischen Abweichung" beschuldigen sollten. Eines der Stimmungsbilder stellte fest: "Die Mehrheit der Studenten sieht in der Linie der Havemann-Vorlesungen einen konsequenten Kampf gegen Dogmatismus und Enge." Angesichts des "Anwachsens des Oppositionsgeistes", von dem ihm die Stasi berichtete, griff Ulbricht schließlich zur Notbremse. Es folgten Parteiausschluss und Entlassung des Ordinarius.
Der ehemalige Widerstandskämpfer Brandt, der unter anderem für das "Ostbüro der SPD" in West-Berlin berichtet hatte, war 1961 von Stasiagenten in die DDR entführt und dort wegen angeblicher Spionage zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Seine Abschiebung in den Westen im Jahr 1964 wurde von Walter Ulbricht als Zeichen der Großzügigkeit verkauft. In Wirklichkeit markierte sie den Beginn des Austausches von politischen Gefangenen gegen begehrte westliche Waren und harte Devisen. Und sie war eine politische Bankrotterklärung. Als Chruschtschow 1961 die Abschiebung unliebsamer Gemüter empfohlen hatte, hatte Ulbricht im Gespräch mit dem sowjetischen Diktator noch geantwortet: "Natürlich haben wir kein Sibirien, man muss diese Leute ins Arbeitslager schicken." Im Übrigen aber habe er "die Aufgabe zu überzeugen". Von dieser Hoffnung war 1964 keine Rede mehr, ein weiteres Eingeständnis, dass es der SED nicht gelang, die Menschen von der Aufbauarbeit in der DDR zu überzeugen.
Von besonderer Bedeutung war das erste Passierscheinabkommen, das seit dem Jahreswechsel 1963/64 den West-Berlinern ermöglichte, erstmals seit dem Mauerbau wieder Verwandte im Ostteil der Stadt zu besuchen. Rentnern war es nach einer strengen Überprüfung seit dem November 1964 im Gegenzug erlaubt, nach West-Berlin zu reisen. Die Rentner wurden von der Stasi misstrauisch begleitet und überwacht, ebenso wie die Heranwachsenden - kein Wunder, denn in der Vergleichsgesellschaft der Bundesrepublik entwickelte sich zur gleichen Zeit eine neue Jugendkultur, die den spießigen SED-Funktionären ausgesprochen suspekt war und deren Übergreifen auf die DDR es zu verhindern galt. Zahlreiche negative Begleiterscheinungen der sozialistischen Planwirtschaft beschäftigten die Stasi in ihren Berichten, von Baumängeln bis zu fehlenden medizinischen Präparaten. Erhellend sind die Berichte über die überwiegend polnischen Vertragsarbeiter. Diese in Baracken kasernierten und häufig frustrierten jungen Männer waren bisweilen in alkoholisiertem Zustand in Schlägereien mit der einheimischen Bevölkerung verwickelt. Da jedoch offiziell die "Völkerfreundschaft" propagiert wurde, durfte die Stasi nicht nach tieferen Ursachen fragen. Ihre Berichte schwankten, und dies gilt im Grunde genommen für alle im Band dokumentierten Vorgänge, "zwischen Hilflosigkeit und detailvergessener Verweigerung der Ursachenanalyse".
JOACHIM SCHOLTYSECK.
Bernd Florath (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung. 1964.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017. 320 S., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die DDR im Jahre 1964 - Was die Berichterstatter des Ministeriums für Staatssicherheit nach oben meldeten
Ein weiterer der seit rund zehn Jahren im Auftrag des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR herausgegebenen Bände zur Stimmung der DDR-Bevölkerung liegt vor, dieses Mal für das Jahr 1964. Er basiert auf den geheimen Berichten der knapp zehn Jahre zuvor eingerichteten "Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe" des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Lektüre der im typischen Stasi-Apparatschik-Deutsch verfassten Dokumente ist eine ebenso deprimierende wie ermüdende Angelegenheit. Erfreulicherweise wird die Dokumentation jedoch durch eine instruktive Einleitung des Bearbeiters Bernd Florath ergänzt. Diese ermöglicht die Einordnung der Geheimdienst-Berichte in den Gesamtzusammenhang der Politik des "zweiten deutschen Staates".
Das Jahr 1964 gilt als recht ereignislos und spielt auch in der kollektiven Erinnerung kaum eine Rolle. Die DDR befand sich im dritten Jahr nach dem Mauerbau in einer merkwürdigen Lage: An der innerdeutschen Grenze stand der angebliche "antifaschistische Schutzwall". Die meisten Menschen auf dem Territorium der DDR begannen, sich mangels Ausreise- und Fluchtalternativen wohl oder übel in ihrem eingemauerten Staat einzurichten und zu arrangieren. Traumatische Ereignisse wie der Arbeiter- und Volksaufstand von 1953 und die Zeiten der Massenflucht 1960/61 gehörten scheinbar der Vergangenheit an. Die Stasi hatte leichtes Spiel, durch Schönfärberei der Staatsspitze zu bestätigen, dass sie nicht viel zu befürchten hatte.
Einerseits hatte die Mauer der SED-Diktatur Sicherheit verschafft. Andererseits wurden gerade vor dem Hintergrund dieses für das Regime erfreulichen Zustandes deutliche Rufe innerhalb und außerhalb der SED nach einer Überwindung der "Sklerose" des Marxismus laut. Beispielsweise löste das auflagenstarke Buch "Spur der Steine", ein Epos aus der Feder von Erik Neutsch über den wenig heroischen Alltag in einem ostdeutschen Chemiekombinat, ebenso heftige Debatten aus wie die Unbotmäßigkeiten eines jungen Liedermachers namens Wolf Biermann. Vor allem bei missliebigen Oppositionellen und Querköpfen wie Robert Havemann und Heinz Brandt griff der Stasi-Apparat rigoros durch, um diese zu "isolieren".
Havemann geriet aufgrund seiner Vorlesungen an der Ost-Berliner Humboldt-Universität immer stärker ins Visier der Staatssicherheit. Die Berichterstatter des Ministeriums waren sich allerdings anfangs angesichts des enormen Echos, das die Thesen Havemanns auch in Parteikreisen hatten, eine Zeitlang noch nicht sicher, ob sie diesen auch der "revisionistischen Abweichung" beschuldigen sollten. Eines der Stimmungsbilder stellte fest: "Die Mehrheit der Studenten sieht in der Linie der Havemann-Vorlesungen einen konsequenten Kampf gegen Dogmatismus und Enge." Angesichts des "Anwachsens des Oppositionsgeistes", von dem ihm die Stasi berichtete, griff Ulbricht schließlich zur Notbremse. Es folgten Parteiausschluss und Entlassung des Ordinarius.
Der ehemalige Widerstandskämpfer Brandt, der unter anderem für das "Ostbüro der SPD" in West-Berlin berichtet hatte, war 1961 von Stasiagenten in die DDR entführt und dort wegen angeblicher Spionage zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Seine Abschiebung in den Westen im Jahr 1964 wurde von Walter Ulbricht als Zeichen der Großzügigkeit verkauft. In Wirklichkeit markierte sie den Beginn des Austausches von politischen Gefangenen gegen begehrte westliche Waren und harte Devisen. Und sie war eine politische Bankrotterklärung. Als Chruschtschow 1961 die Abschiebung unliebsamer Gemüter empfohlen hatte, hatte Ulbricht im Gespräch mit dem sowjetischen Diktator noch geantwortet: "Natürlich haben wir kein Sibirien, man muss diese Leute ins Arbeitslager schicken." Im Übrigen aber habe er "die Aufgabe zu überzeugen". Von dieser Hoffnung war 1964 keine Rede mehr, ein weiteres Eingeständnis, dass es der SED nicht gelang, die Menschen von der Aufbauarbeit in der DDR zu überzeugen.
Von besonderer Bedeutung war das erste Passierscheinabkommen, das seit dem Jahreswechsel 1963/64 den West-Berlinern ermöglichte, erstmals seit dem Mauerbau wieder Verwandte im Ostteil der Stadt zu besuchen. Rentnern war es nach einer strengen Überprüfung seit dem November 1964 im Gegenzug erlaubt, nach West-Berlin zu reisen. Die Rentner wurden von der Stasi misstrauisch begleitet und überwacht, ebenso wie die Heranwachsenden - kein Wunder, denn in der Vergleichsgesellschaft der Bundesrepublik entwickelte sich zur gleichen Zeit eine neue Jugendkultur, die den spießigen SED-Funktionären ausgesprochen suspekt war und deren Übergreifen auf die DDR es zu verhindern galt. Zahlreiche negative Begleiterscheinungen der sozialistischen Planwirtschaft beschäftigten die Stasi in ihren Berichten, von Baumängeln bis zu fehlenden medizinischen Präparaten. Erhellend sind die Berichte über die überwiegend polnischen Vertragsarbeiter. Diese in Baracken kasernierten und häufig frustrierten jungen Männer waren bisweilen in alkoholisiertem Zustand in Schlägereien mit der einheimischen Bevölkerung verwickelt. Da jedoch offiziell die "Völkerfreundschaft" propagiert wurde, durfte die Stasi nicht nach tieferen Ursachen fragen. Ihre Berichte schwankten, und dies gilt im Grunde genommen für alle im Band dokumentierten Vorgänge, "zwischen Hilflosigkeit und detailvergessener Verweigerung der Ursachenanalyse".
JOACHIM SCHOLTYSECK.
Bernd Florath (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung. 1964.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017. 320 S., 30,- [Euro].
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