Meinhard Miegel, einer der profiliertesten Sozialforscher Deutschlands, stellt unsere Gesellschaft auf den Prüfstand - das Gemeinwesen, die Wirtschaft, die Sozialsysteme. Sein Fazit: Von einer zukunftsorientierten Leistungsgesellschaft sind die Deutschen weit entfernt. Sie verdrängen ihre Wirklichkeit und wiegen sich in Wohlstandsillusionen. Dabei fordert der dramatische Wandel der Grundlagen unserer Gesellschaft ein rasches Umsteuern auf allen Ebenen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2002Ein selektives Gedächtnis
Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen - Meinhard Miegel klagt an
Meinhard Miegel: Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen. Propyläen-Verlag, Berlin 2002, 300 Seiten, 22 Euro.
Der pointierte, geradezu polemische Titel gibt den Tonfall des Buches vor. Der Bonner Wirtschaftswissenschaftler und Rentenfachmann Meinhard Miegel schreibt nicht wie einer, der vom Katheder herab doziert, sondern wie jemand, der in einer Gesprächsrunde mit seinen Thesen eine Diskussion anregen will, nötigenfalls durch Provokation. Die Beschreibung staatlicher Sozialleistungen beispielsweise liest sich bei Miegel so: "Die Herrschenden nehmen und geben den Beherrschten." Denn was der Sozialstaat einem einzelnen Bürger zukommen läßt, hat er vorher einem anderen abgenommen. Das Gewand staatlicher Fürsorge verkleidet gutgemeinte Bevormundung.
Die Perspektiven der Sozialpolitik schildert Miegel aus dem Blickwinkel der Demographie. Rückläufige Geburtenraten und schrumpfende Bevölkerung reduzieren auf Dauer das Wirtschaftswachstum des Landes. So trocknet allmählich die Basis für Steuereinkünfte aus, die man für die Dotierung von Rentenkassen braucht. Infolgedessen werden die Berufstätigen eines Tages beim Eintritt ins Pensionsalter leere Rentenkassen vorfinden.
Die mutmaßlichen Auswirkungen der Demographie auf die Ökonomie propagierte schon vor rund zwei Jahrhunderten der Engländer Thomas Malthus. Dieser kam zu dem Schluß, da Englands Bevölkerung schneller wachse als die Wirtschaft, seien Hungersnöte unausweichlich. Nun ist zwar alles ganz anders gekommen - aber was bei Demographen überlebt, ist der Pessimismus. Damals befürchtete man zu viele Menschen, heutzutage sollen es zu wenige sein. Thomas Malthus wie Meinhard Miegel machen ihre Rechnung freilich ohne den Wirt: Die Kraft einer Volkswirtschaft bemißt sich nicht danach, wie viele Menschen zu ihr beitragen, sondern danach, was sie hervorbringen. Die Herausforderung einer Volkswirtschaft besteht in der Steigerung der Produktivität.
Daher ist es mit Miegels Forderung, der Staat solle an seinen Ausgaben sparen, noch nicht getan. Ebenso wichtig sind Verbesserungen der Einnahmen. Wo sie herkommen können, zeigt das Beispiel der Vereinigten Staaten. Das amerikanische Bruttosozialprodukt hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren kaum erhöht - jedenfalls nicht nach Tonnage gerechnet. Die Zuwächse der amerikanischen Wertschöpfung liegen im Dienstleistungsgewerbe. Für den kalifornischen Arbeitsmarkt ist die Rüstungsindustrie längst nicht so wichtig wie Silicon Valley und Hollywood. Diese Jobmaschinen indes entstanden ganz ohne staatliche Zuschüsse. Nicht der Staat schafft eine dynamische Wirtschaft, sondern der Unternehmer.
Die Deutschen, tadelt Miegel, neigten im übrigen dazu, ihre Vergangenheit zu verklären. Dieses Gedächtnis sei allerdings ausgesprochen selektiv. Eine Arbeitnehmerfamilie mit vier Mitgliedern verfügte vor fünfzig Jahren nach Miegel über dieselbe Kaufkraft wie heutzutage ein alleinstehender Sozialhilfeempfänger. Die Deutschen wollten nicht wahrhaben, wie gut es ihnen geht, fühlten sich fremd angesichts der Veränderungen im eigenen Land, empfänden ohnehin weder Freude noch Neugier beim Ausblick auf die Zukunft. Deswegen würde es auch wenig nützen, wenn Deutschland seine Grenzen öffnete, um Einwanderer hereinzulassen.
Diese Skepsis, Deutsche würden den Sprung in eine multikulturelle Gesellschaft nicht schaffen, scheint kleinmütig. Wer in Deutschland auch nur einen Blick auf die Angebote von Reisebüros, die Speisekarten von Restaurants und sogar auf die Aufstellung von Fußballmannschaften wirft, erkennt mühelos, wie sehr der Multikulturalismus in Deutschland bereits Fuß gefaßt hat. Das Selbstverständnis der Deutschen - und dies kommt bei Miegels Analyse von Langzeittrends zu kurz - ist von jeher wandlungsfähig gewesen.
Gerade Zuwanderer gaben wichtige Impulse. Man muß nicht nur an den Alten Fritz und seine Hugenotten denken. Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit verdankt man nicht nur Ludwig Erhard und dem Marshallplan; ein entscheidender Produktivitätsschub ging auch von den entwurzelten Deutschen aus, die damals im Westen von neuem anfingen. Man vergißt zu leicht, daß die Bundesrepublik Konrad Adenauers rund 8 Millionen Zuwanderer assimilierte - und zwar mit Erfolg.
Meinhard Miegel begnügt sich nicht mit Information und Aufklärung, er heischt Zustimmung oder Widerspruch. Sein Buch ist kompakt und gut lesbar, und der Autor kommt seinem Leser entgegen, indem er an vielen Stellen seine Argumentation nicht mit Literaturhinweisen, sondern mit Beispielen belegt. Die Verwendung von Statistiken ist sparsam und prägnant. Der Leser dankt es, indem er schneller und leichter der Gedankenführung folgt. Deutschland leistet sich nach Miegels Erkenntnis ein luxuriöses Staatsschiff, das an der Rentenfinanzierung zerschellen wird. Der Autor will das Ruder herumreißen. Diesem Buch wünscht man möglichst viele Leser, bevor sie sich im Herbst auf den Weg in die Wahlkabine machen.
BENEDIKT KOEHLER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen - Meinhard Miegel klagt an
Meinhard Miegel: Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen. Propyläen-Verlag, Berlin 2002, 300 Seiten, 22 Euro.
Der pointierte, geradezu polemische Titel gibt den Tonfall des Buches vor. Der Bonner Wirtschaftswissenschaftler und Rentenfachmann Meinhard Miegel schreibt nicht wie einer, der vom Katheder herab doziert, sondern wie jemand, der in einer Gesprächsrunde mit seinen Thesen eine Diskussion anregen will, nötigenfalls durch Provokation. Die Beschreibung staatlicher Sozialleistungen beispielsweise liest sich bei Miegel so: "Die Herrschenden nehmen und geben den Beherrschten." Denn was der Sozialstaat einem einzelnen Bürger zukommen läßt, hat er vorher einem anderen abgenommen. Das Gewand staatlicher Fürsorge verkleidet gutgemeinte Bevormundung.
Die Perspektiven der Sozialpolitik schildert Miegel aus dem Blickwinkel der Demographie. Rückläufige Geburtenraten und schrumpfende Bevölkerung reduzieren auf Dauer das Wirtschaftswachstum des Landes. So trocknet allmählich die Basis für Steuereinkünfte aus, die man für die Dotierung von Rentenkassen braucht. Infolgedessen werden die Berufstätigen eines Tages beim Eintritt ins Pensionsalter leere Rentenkassen vorfinden.
Die mutmaßlichen Auswirkungen der Demographie auf die Ökonomie propagierte schon vor rund zwei Jahrhunderten der Engländer Thomas Malthus. Dieser kam zu dem Schluß, da Englands Bevölkerung schneller wachse als die Wirtschaft, seien Hungersnöte unausweichlich. Nun ist zwar alles ganz anders gekommen - aber was bei Demographen überlebt, ist der Pessimismus. Damals befürchtete man zu viele Menschen, heutzutage sollen es zu wenige sein. Thomas Malthus wie Meinhard Miegel machen ihre Rechnung freilich ohne den Wirt: Die Kraft einer Volkswirtschaft bemißt sich nicht danach, wie viele Menschen zu ihr beitragen, sondern danach, was sie hervorbringen. Die Herausforderung einer Volkswirtschaft besteht in der Steigerung der Produktivität.
Daher ist es mit Miegels Forderung, der Staat solle an seinen Ausgaben sparen, noch nicht getan. Ebenso wichtig sind Verbesserungen der Einnahmen. Wo sie herkommen können, zeigt das Beispiel der Vereinigten Staaten. Das amerikanische Bruttosozialprodukt hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren kaum erhöht - jedenfalls nicht nach Tonnage gerechnet. Die Zuwächse der amerikanischen Wertschöpfung liegen im Dienstleistungsgewerbe. Für den kalifornischen Arbeitsmarkt ist die Rüstungsindustrie längst nicht so wichtig wie Silicon Valley und Hollywood. Diese Jobmaschinen indes entstanden ganz ohne staatliche Zuschüsse. Nicht der Staat schafft eine dynamische Wirtschaft, sondern der Unternehmer.
Die Deutschen, tadelt Miegel, neigten im übrigen dazu, ihre Vergangenheit zu verklären. Dieses Gedächtnis sei allerdings ausgesprochen selektiv. Eine Arbeitnehmerfamilie mit vier Mitgliedern verfügte vor fünfzig Jahren nach Miegel über dieselbe Kaufkraft wie heutzutage ein alleinstehender Sozialhilfeempfänger. Die Deutschen wollten nicht wahrhaben, wie gut es ihnen geht, fühlten sich fremd angesichts der Veränderungen im eigenen Land, empfänden ohnehin weder Freude noch Neugier beim Ausblick auf die Zukunft. Deswegen würde es auch wenig nützen, wenn Deutschland seine Grenzen öffnete, um Einwanderer hereinzulassen.
Diese Skepsis, Deutsche würden den Sprung in eine multikulturelle Gesellschaft nicht schaffen, scheint kleinmütig. Wer in Deutschland auch nur einen Blick auf die Angebote von Reisebüros, die Speisekarten von Restaurants und sogar auf die Aufstellung von Fußballmannschaften wirft, erkennt mühelos, wie sehr der Multikulturalismus in Deutschland bereits Fuß gefaßt hat. Das Selbstverständnis der Deutschen - und dies kommt bei Miegels Analyse von Langzeittrends zu kurz - ist von jeher wandlungsfähig gewesen.
Gerade Zuwanderer gaben wichtige Impulse. Man muß nicht nur an den Alten Fritz und seine Hugenotten denken. Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit verdankt man nicht nur Ludwig Erhard und dem Marshallplan; ein entscheidender Produktivitätsschub ging auch von den entwurzelten Deutschen aus, die damals im Westen von neuem anfingen. Man vergißt zu leicht, daß die Bundesrepublik Konrad Adenauers rund 8 Millionen Zuwanderer assimilierte - und zwar mit Erfolg.
Meinhard Miegel begnügt sich nicht mit Information und Aufklärung, er heischt Zustimmung oder Widerspruch. Sein Buch ist kompakt und gut lesbar, und der Autor kommt seinem Leser entgegen, indem er an vielen Stellen seine Argumentation nicht mit Literaturhinweisen, sondern mit Beispielen belegt. Die Verwendung von Statistiken ist sparsam und prägnant. Der Leser dankt es, indem er schneller und leichter der Gedankenführung folgt. Deutschland leistet sich nach Miegels Erkenntnis ein luxuriöses Staatsschiff, das an der Rentenfinanzierung zerschellen wird. Der Autor will das Ruder herumreißen. Diesem Buch wünscht man möglichst viele Leser, bevor sie sich im Herbst auf den Weg in die Wahlkabine machen.
BENEDIKT KOEHLER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viele Illusionen, wenig Leistung
Die Deutschen geben sich noch immer Wohlstandsillusionen hin und sind von einer auf die Zukunft gerichteten Leistungsgesellschaft weit entfernt. Der renommierte Sozialforscher Meinhard Miegel liest dem Volk, vor allem aber seinen Politikern, die Leviten und fordert ein rasches Umsteuern auf allen Gebieten, um auf verändertem außenpolitischem, innenpolitischem und vor allem wirtschaftlichem Niveau ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht zu schaffen.
Der verklärte Blick zurück
Den Ernst der Lage haben viele schon erkannt, ihre Stimmen will aber keiner hören. Die derzeitige Diskussion um die Arbeitsmarktpolitik ist ein Indiz dafür, dass sich die Grundlagen unserer Gesellschaft dramatisch gewandelt haben. Es werden zu wenig Kinder geboren, die Bevölkerung wird immer älter, eine Dauerbeschäftigung für alle wird es nie wieder geben, das soziale Netz wird immer dünner, weil es einfach nicht mehr zu bezahlen ist. Miegels Beobachtung ist völlig richtig: Unbeirrt gelten den Westdeutschen die Erfahrungen der Aufbaujahre, den Ostdeutschen diejenigen der Planwirtschaft als Maßstab. Dieser verklärte Blick zurück erschwert die Sicht auf die dramatische Gegenwart und besonders auf die Notwendigkeit, eine Leistungsgesellschaft im Sinne des Wortes zu gestalten. Und Politik, so Miegel, habe die Aufgabe, dies deutlich zu benennen, Wahljahr hin oder her. (Roland Große Holtforth, literaturtest.de)
»Miegels neues Buch nennt die Kosten, die anfallen, wenn die Deutschen die Wirklichkeit weiter verdrängen, und er zeigt die Chancen, wenn sie neue Wege wagen.«
(DIE ZEIT)
»Miegel versucht uns den radikalen Rückbau des Sozialstaates auf die Sicherung eines Mindeststandards schmackhaft zu machen.«
(DIE WELT)
Die Deutschen geben sich noch immer Wohlstandsillusionen hin und sind von einer auf die Zukunft gerichteten Leistungsgesellschaft weit entfernt. Der renommierte Sozialforscher Meinhard Miegel liest dem Volk, vor allem aber seinen Politikern, die Leviten und fordert ein rasches Umsteuern auf allen Gebieten, um auf verändertem außenpolitischem, innenpolitischem und vor allem wirtschaftlichem Niveau ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht zu schaffen.
Der verklärte Blick zurück
Den Ernst der Lage haben viele schon erkannt, ihre Stimmen will aber keiner hören. Die derzeitige Diskussion um die Arbeitsmarktpolitik ist ein Indiz dafür, dass sich die Grundlagen unserer Gesellschaft dramatisch gewandelt haben. Es werden zu wenig Kinder geboren, die Bevölkerung wird immer älter, eine Dauerbeschäftigung für alle wird es nie wieder geben, das soziale Netz wird immer dünner, weil es einfach nicht mehr zu bezahlen ist. Miegels Beobachtung ist völlig richtig: Unbeirrt gelten den Westdeutschen die Erfahrungen der Aufbaujahre, den Ostdeutschen diejenigen der Planwirtschaft als Maßstab. Dieser verklärte Blick zurück erschwert die Sicht auf die dramatische Gegenwart und besonders auf die Notwendigkeit, eine Leistungsgesellschaft im Sinne des Wortes zu gestalten. Und Politik, so Miegel, habe die Aufgabe, dies deutlich zu benennen, Wahljahr hin oder her. (Roland Große Holtforth, literaturtest.de)
»Miegels neues Buch nennt die Kosten, die anfallen, wenn die Deutschen die Wirklichkeit weiter verdrängen, und er zeigt die Chancen, wenn sie neue Wege wagen.«
(DIE ZEIT)
»Miegel versucht uns den radikalen Rückbau des Sozialstaates auf die Sicherung eines Mindeststandards schmackhaft zu machen.«
(DIE WELT)