Während die Weltbevölkerung dramatisch zunimmt, geht die Bevölkerung in Deutschland und Europa seit einigen Jahrzehnten kontinuierlich zurück. Das hat weitreichende Auswirkungen auf die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen der europäischen Nationalstaaten, die bis heute nicht angemessen beachtet werden. Herwig Birg stellt nach einer demographischen Bestandsaufnahme die Szenarien und Simulationsrechnungen für das 21. Jahrhundert vor. Er erörtert auf dieser Grundlage die Folgen der demographischen Entwicklung insbesondere für das Renten- und Gesundheitssystem und wirft notwendige Fragen nach dem Verhältnis von Demographie, Politik und Ethik auf. Sein Buch ist eine unentbehrliche Einführung in eines der wichtigsten Themen der Zukunft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Fahrgäste, wir wollen Fahrgäste! Sollen diese Schubkarren denn ewig leerstehen?
Woher rührt das Unbehagen an der Demographie? Warum wird die Wissenschaft, die konkret und zuverlässig wie kaum eine andere über die gesellschaftliche Entwicklung informiert, von dieser Gesellschaft so systematisch ignoriert? Das ist die Frage, die Herwig Birg in seinem Buch "Die demographische Zeitenwende" immer wieder stellt. Daß er sie nicht beantworten kann, ist ihm, einem der lediglich vier Lehrstuhlinhaber dieses Fachs in Deutschland, kaum zu verübeln. Der Leser tut wohl besser daran, das eigene Herz zu ergründen.
Da sind zunächst die Ergebnisse, die die Beschäftigung mit der Bevölkerungswissenschaft so unersprießlich machen. Bei Birg findet man sie gebündelt und in deutlichen Worten erklärt: Im Laufe der nächsten hundert Jahre wird auf deutschem Boden die Einwohnerschaft auf ein Viertel, bestenfalls ein Drittel schrumpfen. Fast jeder zweite wird über sechzig sein, Altersversorgung und soziale Absicherung, wie wir sie kennen, wird es nicht mehr geben. Bei weiterer Zuwanderung wird zudem das eintreten, was bei rechten Politikern "Überfremdung" und bei Birg "Multiminoritätengesellschaft" heißt. An diesen Zahlen ist offenbar wenig zu rütteln; die demographische Entwicklung ist träge und von heute meßbaren Faktoren bis weit in die Zukunft determiniert. Auch ist nicht ersichtlich, wie man die durchschnittliche Kinderzahl einer Frau von derzeit 1,4 auf die erwünschten 2,1 erhöhen könnte. Mit der pessimistischen Tendenz allein ist freilich nicht erklärt, warum diese Befunde schöngeredet oder als bloße Meinungen abgetan werden.
Es liegt wohl auch an den Methoden der Demographie. Sie ist bekannt für weitreichende Prognosen, aus denen Verpflichtungen erwachsen, die tief in die Privatsphäre reichen. Dazu wimmelt es dort von Wörtern wie Volk oder Nation, die in anderen Gesellschaftswissenschaften ängstlich gemieden werden. Die Demographie fragt nach der Gesellschaft im einzelnen, nicht nach dem einzelnen in der Gesellschaft. Der Autor erklärt geduldig, warum niemand erschrecken muß, wenn von "Reproduktionsraten" oder "Humankapital" die Rede ist. Einige andere Kategorien werden leider auch von ihm allzu selbstverständlich gebraucht. Etwa die "Betagten": Wenn, wie Birg unterstellt, die Lebenserwartung kontinuierlich steigt, dann dürften auch die Sechzigjährigen des Jahres 2100 alles andere als tattrige Rentner sein. Noch problematischer erscheint der Begriff der "Zugewanderten", der nicht nur die Einwanderer, sondern auch ihre Nachkommen umfaßt und ihnen die Fähigkeit zur Integration mithin abspricht. Es wäre töricht, Birg deshalb mit rechten Ideen in Verbindung zu bringen, auch wenn seine etwas walserhaften Auslassungen über die deutsche Vergangenheit gewiß nicht zu den glücklichsten Teilen des Buchs gehören. Das Interesse des Verfassers an der Nation ist vermutlich kaum größer als das des Zoologen an einer aussterbenden Tierart. Seine polemische Energie richtet sich auf das Unvermögen, den Tatsachen ins Auge zu sehen, das sich in unserer Gesellschaft üblicherweise hinter linksliberalen Ideen verschanzt, aber ebensogut sozialdarwinistisch daherkommen könnte.
Birg verteidigt sein Fach und seinen Forschungsgegenstand: uns. Etwas Ähnliches wie die ökologische Weitsicht, die vor zwei Jahrzehnten einsetzte, fordert er auch für die Demographie. Das Desinteresse am Erhalt der eigenen Gesellschaft wird erst verständlich, wenn man liest, was für den Geburtenrückgang in den meisten Industrieländern verantwortlich ist: Empfängnisverhütung, die Renten- und Krankenversicherung, die Emanzipation der Frau sowie im weiteren Sinn Individualisierung, Bildung und Wohlstand - also just die gesellschaftlichen Errungenschaften, die uns am teuersten sind. Daß wir uns mit politischen Mitteln aus diesem Dilemma befreien könnten, hält Birg für nahezu ausgeschlossen. Es ist ja das Dilemma seines Fachs, nur darum so genau sein zu können, weil sein Gegenstand sich fast nicht beeinflussen läßt. Vielleicht liegt hier der Kern des Unbehagens an der Demographie: Sie zeigt, daß wir nicht mit unseren Schwächen, sondern mit unseren Stärken unsere Abschaffung betreiben.
MICHAEL ALLMAIER.
Herwig Birg: "Die demographische Zeitenwende". Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa. Verlag C.H. Beck, München 2001. 208 S., br., 24,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Woher rührt das Unbehagen an der Demographie? Warum wird die Wissenschaft, die konkret und zuverlässig wie kaum eine andere über die gesellschaftliche Entwicklung informiert, von dieser Gesellschaft so systematisch ignoriert? Das ist die Frage, die Herwig Birg in seinem Buch "Die demographische Zeitenwende" immer wieder stellt. Daß er sie nicht beantworten kann, ist ihm, einem der lediglich vier Lehrstuhlinhaber dieses Fachs in Deutschland, kaum zu verübeln. Der Leser tut wohl besser daran, das eigene Herz zu ergründen.
Da sind zunächst die Ergebnisse, die die Beschäftigung mit der Bevölkerungswissenschaft so unersprießlich machen. Bei Birg findet man sie gebündelt und in deutlichen Worten erklärt: Im Laufe der nächsten hundert Jahre wird auf deutschem Boden die Einwohnerschaft auf ein Viertel, bestenfalls ein Drittel schrumpfen. Fast jeder zweite wird über sechzig sein, Altersversorgung und soziale Absicherung, wie wir sie kennen, wird es nicht mehr geben. Bei weiterer Zuwanderung wird zudem das eintreten, was bei rechten Politikern "Überfremdung" und bei Birg "Multiminoritätengesellschaft" heißt. An diesen Zahlen ist offenbar wenig zu rütteln; die demographische Entwicklung ist träge und von heute meßbaren Faktoren bis weit in die Zukunft determiniert. Auch ist nicht ersichtlich, wie man die durchschnittliche Kinderzahl einer Frau von derzeit 1,4 auf die erwünschten 2,1 erhöhen könnte. Mit der pessimistischen Tendenz allein ist freilich nicht erklärt, warum diese Befunde schöngeredet oder als bloße Meinungen abgetan werden.
Es liegt wohl auch an den Methoden der Demographie. Sie ist bekannt für weitreichende Prognosen, aus denen Verpflichtungen erwachsen, die tief in die Privatsphäre reichen. Dazu wimmelt es dort von Wörtern wie Volk oder Nation, die in anderen Gesellschaftswissenschaften ängstlich gemieden werden. Die Demographie fragt nach der Gesellschaft im einzelnen, nicht nach dem einzelnen in der Gesellschaft. Der Autor erklärt geduldig, warum niemand erschrecken muß, wenn von "Reproduktionsraten" oder "Humankapital" die Rede ist. Einige andere Kategorien werden leider auch von ihm allzu selbstverständlich gebraucht. Etwa die "Betagten": Wenn, wie Birg unterstellt, die Lebenserwartung kontinuierlich steigt, dann dürften auch die Sechzigjährigen des Jahres 2100 alles andere als tattrige Rentner sein. Noch problematischer erscheint der Begriff der "Zugewanderten", der nicht nur die Einwanderer, sondern auch ihre Nachkommen umfaßt und ihnen die Fähigkeit zur Integration mithin abspricht. Es wäre töricht, Birg deshalb mit rechten Ideen in Verbindung zu bringen, auch wenn seine etwas walserhaften Auslassungen über die deutsche Vergangenheit gewiß nicht zu den glücklichsten Teilen des Buchs gehören. Das Interesse des Verfassers an der Nation ist vermutlich kaum größer als das des Zoologen an einer aussterbenden Tierart. Seine polemische Energie richtet sich auf das Unvermögen, den Tatsachen ins Auge zu sehen, das sich in unserer Gesellschaft üblicherweise hinter linksliberalen Ideen verschanzt, aber ebensogut sozialdarwinistisch daherkommen könnte.
Birg verteidigt sein Fach und seinen Forschungsgegenstand: uns. Etwas Ähnliches wie die ökologische Weitsicht, die vor zwei Jahrzehnten einsetzte, fordert er auch für die Demographie. Das Desinteresse am Erhalt der eigenen Gesellschaft wird erst verständlich, wenn man liest, was für den Geburtenrückgang in den meisten Industrieländern verantwortlich ist: Empfängnisverhütung, die Renten- und Krankenversicherung, die Emanzipation der Frau sowie im weiteren Sinn Individualisierung, Bildung und Wohlstand - also just die gesellschaftlichen Errungenschaften, die uns am teuersten sind. Daß wir uns mit politischen Mitteln aus diesem Dilemma befreien könnten, hält Birg für nahezu ausgeschlossen. Es ist ja das Dilemma seines Fachs, nur darum so genau sein zu können, weil sein Gegenstand sich fast nicht beeinflussen läßt. Vielleicht liegt hier der Kern des Unbehagens an der Demographie: Sie zeigt, daß wir nicht mit unseren Schwächen, sondern mit unseren Stärken unsere Abschaffung betreiben.
MICHAEL ALLMAIER.
Herwig Birg: "Die demographische Zeitenwende". Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa. Verlag C.H. Beck, München 2001. 208 S., br., 24,90 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Deutschen setzen kaum noch Kinder in die Welt. Das ist ein Problem, auf das seit Jahren Demografen und Sozialwissenschaftler hinweisen, denn ohne Nachwuchs wird es schwierig, das Solidarprinzip aufrecht zu erhalten. Zu dieser Problematik bespricht Christiane Ruoss das Buch "Die demokratische Zeitenwende" von Herwig Birg, Professor für Demografie und Direktor des "Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik" in Bielefeld. .Der Verfasser sieht die Zukunft der Deutschen eher pessimistisch, schreibt Ruoss. Der Geburtenrückgang führe zu einer Gefährdung der sozialen Sicherungssysteme und der Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft, eine Weltgesellschaft sei noch lange nicht in Sicht. Auch eine aktive Zuwanderungspolitik verspreche keine Hilfe, denn die meisten Zugewanderten hätten nicht die notwendigen Qualifikationen. Birg setze allein auf mehr Kinder, so die Rezensentin. Ob sie seinen Analysen und Schlussfolgerungen zustimmt, lässt sie allerdings offen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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