Wie fanden Deutsche und Italiener nach 1945 einen Draht zur repräsentativen Demokratie? Das Buch geht dieser Frage erstmals in einer historischen Perspektive nach, die Wählerinnen und Wähler in ihren Deutungen und Wahrnehmungen einfängt. Dazu zoomt es in die städtischen Alltagswelten der Bundesrepublik und Italiens hinein, wo Politik beobachtet, präsentiert und debattiert wurde. Vor allem im Wahlkampf trafen hier Wähler und Parteien aufeinander und verhandelten die Frage, was gute politische Repräsentation ausmachte. Durch die Linse direkter politischer Kommunikation untersucht das Buch die Beziehungen zwischen dem demokratischen Souverän und seinen Vertretern. Es erzählt von den Erwartungen an die Volksvertreter, vom Blick der parlamentarischen Eliten auf das Wahlvolk und vom Grad der Nähe, die sich zwischen ihnen aufbauen, die aber auch wieder abnehmen konnte.
Von der Nachkriegsdekade durch die Zeiten des Booms bis in die 1970er Jahre geht das Buch den Konjunkturen der Verständigung zwischen Wählern und Gewählten nach. Es fragt nach den sozialen und politischen Faktoren erfolgreicher Kommunikation und nach den Bedingungen, unter denen Deutsche und Italiener der repräsentativen Demokratie etwas abgewinnen konnten. Die Bedeutung des Lokalen in der Mediengesellschaft wird dabei ebenso herausgestrichen wie das partizipative Verständnis postfaschistischer Wähler, die weitaus früher als gemeinhin angenommen selbstbewusst den Parteien und Parlamentariern gegenübertraten.
Im Vergleich deutscher und italienischer Städte und ihrer politischen Kommunikationskultur lässt sich zudem erklären, was Italien und die Bundesrepublik zu spezifischen Demokratien werden ließ. Die Studie zeigt so auf, welch unterschiedliche Auswirkungen die Erfahrungen von Krieg und Diktatur, sozialem Wandel und Protest, Konsumgesellschaft und Krisenwahrnehmungen auf das Funktionieren repräsentativer Demokratien haben konnten. Zugleich entwirft sie die Ära einer grenzüberschreitend nach gewissen Prinzipien funktionierenden "Demokratie der Wähler", die Ende der 1970er Jahre an ihr Ende kam.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Von der Nachkriegsdekade durch die Zeiten des Booms bis in die 1970er Jahre geht das Buch den Konjunkturen der Verständigung zwischen Wählern und Gewählten nach. Es fragt nach den sozialen und politischen Faktoren erfolgreicher Kommunikation und nach den Bedingungen, unter denen Deutsche und Italiener der repräsentativen Demokratie etwas abgewinnen konnten. Die Bedeutung des Lokalen in der Mediengesellschaft wird dabei ebenso herausgestrichen wie das partizipative Verständnis postfaschistischer Wähler, die weitaus früher als gemeinhin angenommen selbstbewusst den Parteien und Parlamentariern gegenübertraten.
Im Vergleich deutscher und italienischer Städte und ihrer politischen Kommunikationskultur lässt sich zudem erklären, was Italien und die Bundesrepublik zu spezifischen Demokratien werden ließ. Die Studie zeigt so auf, welch unterschiedliche Auswirkungen die Erfahrungen von Krieg und Diktatur, sozialem Wandel und Protest, Konsumgesellschaft und Krisenwahrnehmungen auf das Funktionieren repräsentativer Demokratien haben konnten. Zugleich entwirft sie die Ära einer grenzüberschreitend nach gewissen Prinzipien funktionierenden "Demokratie der Wähler", die Ende der 1970er Jahre an ihr Ende kam.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2020Wie wir wurden, was wir sind
Interessante Vergleiche zwischen den "fernen Nachbarn" Deutschland und Italien nach 1945
"Ferne Nachbarn" oder "Gleich und doch anders" sind gängige Beschreibungsmuster, wenn von Deutschland und Italien die Rede ist. Während ein Golo Mann noch mit Pathos von den "Schicksalsschwestern" Italien und Deutschland sprechen konnte, ist die jüngere Geschichtsschreibung nüchterner geworden. Allerdings bleibt sie unentschieden zwischen der Feststellung einer "parallelen Geschichte" auf der einen Seite, die Deutsche und Italiener miteinander verbindet und in vielerlei Hinsicht ähnlich und vergleichbar macht, und auf der anderen Seite der Behauptung von "Sonderwegen" hüben wie drüben, mit je ganz einzigartigen, unverwechselbaren Merkmalen des historischen Verlaufs in den beiden Ländern, so dass eigentlich nur Etappen von deren engeren oder distanzierteren Beziehungen rekonstruiert werden können, ohne komparatistischen Zugriff.
Derweil favorisiert die italienische Geschichtsschreibung Modelle, die zur Betonung der Unvergleichbarkeit der eigenen nationalen Geschichte tendieren, und zwar nicht zu deren Glorifizierung, eher im Gegenteil: um aus den Tiefen der Geschichte die Schwächen und Krisen der italienischen Gegenwartsgesellschaft herzuleiten.
Der Vergleich im Allgemeinen und zwischen nationalen Kulturen im Besonderen bleibt für Historiker ein schwieriges Geschäft, aber was er an Erkenntnisgewinn ermöglicht, beweist Claudia Gatzkas Studie über Italien und die Bundesrepublik in den ersten gut drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Historikerin legt für diese Epoche eine Parallel- und Vergleichsgeschichte zwischen den beiden politischen Kulturen nördlich und südlich der Alpen vor, wobei ihr Ausgangspunkt die Frage nach dem Hineinwachsen der bundesdeutschen und der italienischen Bevölkerung in die parlamentarische Demokratie nach den Jahren von Diktatur und Krieg ist, konkret: nach der Art und Weise, wie in den beiden Ländern die Demokratie als Idee und als Praxis ankam, wie sie real erfahren und in politischer Kommunikation angewandt und erlebt wurde.
Gatzka beabsichtigt nicht, zwei populäre Narrative mit Quellenmaterial zu unterfüttern, welche die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte in einem bisweilen teleologischen Verständnis als "Erfolgsgeschichte" der Demokratisierung präsentieren und umgekehrt die italienische Nachkriegsgeschichte als eine Dauer-Krisen-Geschichte mit absteigender Kurve schildern. Vielmehr interessiert sie sich für das konkrete Erleben und Einüben eines neuen Systems und neuer Werte, und daher schaut sie auf einen wichtigen Raum, in dem sich solche Lern- und Anwendungsprozesse verdichtet abspielten: auf die Stadt.
Hamburg und Bologna sowie Ulm und Bari sind ihre Hauptschauplätze, jeweils genügend ähnlich, um als exemplarische Fallstudien untersucht werden zu können, genügend unterschiedlich, um markante deutsch-italienische Differenzen im Umgang mit dem Neuen sichtbar zu machen. Die Autorin fragt, wie demokratische Politik im "postfaschistischen Alltag" vermittelt und repräsentiert wurde, und der Begriff "postfaschistisch" (was "postnationalsozialistisch" einschließt) weist darauf hin, dass sie sich der Hauptströmung der gegenwärtigen Geschichtsschreibung anschließt, welche die Kontinuitäten zwischen Faschismus beziehungsweise Nationalsozialismus und italienischer beziehungsweise deutscher Nachkriegsgesellschaft betont, während sie den Topos vom radikalen Neuanfang 1945, von einer "Stunde null", ad acta gelegt hat. Tatsächlich kann die Autorin im deutsch-italienischen Vergleich zeigen, dass bestimmte, von den Diktaturen geerbte Muster nachhaltig weiterwirkten, man denke an die Mobilisierung der Massen, an die zentrale Rolle des "Volkes" ("popolo") zur Legitimierung politischer Macht oder an die Vorstellung von "Ordnung" als einer vorrangigen Qualität des Gemeinwesens.
Gatzkas Untersuchung geht das Wagnis ein, die Mikroanalyse politischer Alltagskommunikation im kommunalen Raum mit dem großen Tableau der beiden Nationalgeschichten zu kombinieren. Sie tut dies in begriffsstarker, gut lesbarer Wissenschaftsprosa. Ihr Buch ist so reich an episodischen Erzählungen, dass man manchmal den roten Faden verliert. Wer durchhält, wird mit einer Gesamtgeschichte Italiens und Westdeutschlands belohnt: zwischen Wiederaufbau, Wirtschaftsaufschwung, Konsumgesellschaft und dem, was Ende der 1960er Jahre und in den siebziger Jahren zahlreiche Zeitgenossen, speziell in Italien, als "Krise" der Demokratie interpretierten, wobei eigentlich die Krise der traditionellen Parteien gemeint war.
Denn dies ist eine der zentralen Thesen der Studie: Die Überpolitisierung der Diktaturen hatte die Bevölkerungen in Italien und in Deutschland (West) durchaus nicht per se allergisch gegen alles Politische gemacht - wohl aber kam es nach dem Krieg darauf an, Politik neu zu kodieren. In der Bundesrepublik hieß das, die Wiederherstellung eines geordneten städtischen Lebens als eher "unpolitisch" darzustellen, jedenfalls unideologisch, sachorientiert; in Italien kehrte Politik als Spektakel mit Unterhaltungswert auf die Piazza zurück, nun aber nicht mehr durchchoreographiert wie unter Mussolini. Letztlich prämierte der Souverän in beiden Ländern, so Gatzka, die "dienstbare Demokratie", in der Parteien und Politiker glaubhaft machen konnten, die Bürger nicht erziehen, sondern ihnen dienen und nützlich sein zu wollen. Dies gelang zunächst den beiden großen Parteien in Italien, der Democrazia Cristiana und dem Partito Comunista, besser als SPD und CDU. Aber sie taten sich schwerer als diese mit der Anpassung an das Vordringen von Markt- und Konsumlogiken im politischen Feld. In Klammern gesagt: Das war dann später Silvio Berlusconis Erfolgsrezept. Die Piazza büßte ihren Reiz als Ort politischer Versammlungen und Kundgebungen ein. Je weniger es gelang, die Italiener für die hergebrachten Formen der Mobilisierung und Partizipation zu gewinnen, desto größer erschien der Verlust an Legitimität des politischen Systems und seiner Akteure. Vielleicht denken wir deswegen heute mit so viel Nostalgie an Don Camillo und Peppone.
CHRISTIANE LIERMANN.
Claudia C. Gatzka: Die Demokratie der Wähler. Stadtgesellschaft und politische Kommunikation in Italien und der Bundesrepublik 1944-1979.
Droste Verlag, Düsseldorf 2019. 616 S., 68,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Interessante Vergleiche zwischen den "fernen Nachbarn" Deutschland und Italien nach 1945
"Ferne Nachbarn" oder "Gleich und doch anders" sind gängige Beschreibungsmuster, wenn von Deutschland und Italien die Rede ist. Während ein Golo Mann noch mit Pathos von den "Schicksalsschwestern" Italien und Deutschland sprechen konnte, ist die jüngere Geschichtsschreibung nüchterner geworden. Allerdings bleibt sie unentschieden zwischen der Feststellung einer "parallelen Geschichte" auf der einen Seite, die Deutsche und Italiener miteinander verbindet und in vielerlei Hinsicht ähnlich und vergleichbar macht, und auf der anderen Seite der Behauptung von "Sonderwegen" hüben wie drüben, mit je ganz einzigartigen, unverwechselbaren Merkmalen des historischen Verlaufs in den beiden Ländern, so dass eigentlich nur Etappen von deren engeren oder distanzierteren Beziehungen rekonstruiert werden können, ohne komparatistischen Zugriff.
Derweil favorisiert die italienische Geschichtsschreibung Modelle, die zur Betonung der Unvergleichbarkeit der eigenen nationalen Geschichte tendieren, und zwar nicht zu deren Glorifizierung, eher im Gegenteil: um aus den Tiefen der Geschichte die Schwächen und Krisen der italienischen Gegenwartsgesellschaft herzuleiten.
Der Vergleich im Allgemeinen und zwischen nationalen Kulturen im Besonderen bleibt für Historiker ein schwieriges Geschäft, aber was er an Erkenntnisgewinn ermöglicht, beweist Claudia Gatzkas Studie über Italien und die Bundesrepublik in den ersten gut drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Historikerin legt für diese Epoche eine Parallel- und Vergleichsgeschichte zwischen den beiden politischen Kulturen nördlich und südlich der Alpen vor, wobei ihr Ausgangspunkt die Frage nach dem Hineinwachsen der bundesdeutschen und der italienischen Bevölkerung in die parlamentarische Demokratie nach den Jahren von Diktatur und Krieg ist, konkret: nach der Art und Weise, wie in den beiden Ländern die Demokratie als Idee und als Praxis ankam, wie sie real erfahren und in politischer Kommunikation angewandt und erlebt wurde.
Gatzka beabsichtigt nicht, zwei populäre Narrative mit Quellenmaterial zu unterfüttern, welche die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte in einem bisweilen teleologischen Verständnis als "Erfolgsgeschichte" der Demokratisierung präsentieren und umgekehrt die italienische Nachkriegsgeschichte als eine Dauer-Krisen-Geschichte mit absteigender Kurve schildern. Vielmehr interessiert sie sich für das konkrete Erleben und Einüben eines neuen Systems und neuer Werte, und daher schaut sie auf einen wichtigen Raum, in dem sich solche Lern- und Anwendungsprozesse verdichtet abspielten: auf die Stadt.
Hamburg und Bologna sowie Ulm und Bari sind ihre Hauptschauplätze, jeweils genügend ähnlich, um als exemplarische Fallstudien untersucht werden zu können, genügend unterschiedlich, um markante deutsch-italienische Differenzen im Umgang mit dem Neuen sichtbar zu machen. Die Autorin fragt, wie demokratische Politik im "postfaschistischen Alltag" vermittelt und repräsentiert wurde, und der Begriff "postfaschistisch" (was "postnationalsozialistisch" einschließt) weist darauf hin, dass sie sich der Hauptströmung der gegenwärtigen Geschichtsschreibung anschließt, welche die Kontinuitäten zwischen Faschismus beziehungsweise Nationalsozialismus und italienischer beziehungsweise deutscher Nachkriegsgesellschaft betont, während sie den Topos vom radikalen Neuanfang 1945, von einer "Stunde null", ad acta gelegt hat. Tatsächlich kann die Autorin im deutsch-italienischen Vergleich zeigen, dass bestimmte, von den Diktaturen geerbte Muster nachhaltig weiterwirkten, man denke an die Mobilisierung der Massen, an die zentrale Rolle des "Volkes" ("popolo") zur Legitimierung politischer Macht oder an die Vorstellung von "Ordnung" als einer vorrangigen Qualität des Gemeinwesens.
Gatzkas Untersuchung geht das Wagnis ein, die Mikroanalyse politischer Alltagskommunikation im kommunalen Raum mit dem großen Tableau der beiden Nationalgeschichten zu kombinieren. Sie tut dies in begriffsstarker, gut lesbarer Wissenschaftsprosa. Ihr Buch ist so reich an episodischen Erzählungen, dass man manchmal den roten Faden verliert. Wer durchhält, wird mit einer Gesamtgeschichte Italiens und Westdeutschlands belohnt: zwischen Wiederaufbau, Wirtschaftsaufschwung, Konsumgesellschaft und dem, was Ende der 1960er Jahre und in den siebziger Jahren zahlreiche Zeitgenossen, speziell in Italien, als "Krise" der Demokratie interpretierten, wobei eigentlich die Krise der traditionellen Parteien gemeint war.
Denn dies ist eine der zentralen Thesen der Studie: Die Überpolitisierung der Diktaturen hatte die Bevölkerungen in Italien und in Deutschland (West) durchaus nicht per se allergisch gegen alles Politische gemacht - wohl aber kam es nach dem Krieg darauf an, Politik neu zu kodieren. In der Bundesrepublik hieß das, die Wiederherstellung eines geordneten städtischen Lebens als eher "unpolitisch" darzustellen, jedenfalls unideologisch, sachorientiert; in Italien kehrte Politik als Spektakel mit Unterhaltungswert auf die Piazza zurück, nun aber nicht mehr durchchoreographiert wie unter Mussolini. Letztlich prämierte der Souverän in beiden Ländern, so Gatzka, die "dienstbare Demokratie", in der Parteien und Politiker glaubhaft machen konnten, die Bürger nicht erziehen, sondern ihnen dienen und nützlich sein zu wollen. Dies gelang zunächst den beiden großen Parteien in Italien, der Democrazia Cristiana und dem Partito Comunista, besser als SPD und CDU. Aber sie taten sich schwerer als diese mit der Anpassung an das Vordringen von Markt- und Konsumlogiken im politischen Feld. In Klammern gesagt: Das war dann später Silvio Berlusconis Erfolgsrezept. Die Piazza büßte ihren Reiz als Ort politischer Versammlungen und Kundgebungen ein. Je weniger es gelang, die Italiener für die hergebrachten Formen der Mobilisierung und Partizipation zu gewinnen, desto größer erschien der Verlust an Legitimität des politischen Systems und seiner Akteure. Vielleicht denken wir deswegen heute mit so viel Nostalgie an Don Camillo und Peppone.
CHRISTIANE LIERMANN.
Claudia C. Gatzka: Die Demokratie der Wähler. Stadtgesellschaft und politische Kommunikation in Italien und der Bundesrepublik 1944-1979.
Droste Verlag, Düsseldorf 2019. 616 S., 68,- [Euro].
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