Die Denunziantin ist der erste und bislang unveroffentlichte Roman von Brigitte Reimann. Als sie ihn im Herbst 1952 beginnt, ist sie gerade neunzehn Jahre alt. Im Mittelpunkt des Jugendromans steht eine kompromisslos ihren sozialistischen Überzeugungen folgende Abiturientin, die in vielerlei Hinsicht nach dem Bild der Autorin modelliert ist. Reimann geht es darum zu zeigen, wie bedroht die damals noch im Entstehen begriffene sozialistische DDRGesellschaft ist und wie entschlossen darum allen destabilisierenden Kräften entgegengetreten werden muss.Die Lektoren verschiedener DDRVerlage forderten von Brigitte Reimann immer neue Überarbeitungen des Textes, bis die Autorin nach sechs Jahren und vier Fassungen resignierte und von der Veroffentlichung des Romans Abstand nahm.Als entschlossenes Plädoyer für die Verteidigung des sozialistischen Aufbaus in der jungen DDR bildet Die Denunziantin den extremen Gegenpol zu Reimanns letztem Buch Franziska Linkerhand, in dem sie - 20 Jahre später - ihrem zunehmenden Zweifel am Gelingen des sozialistischen Wegs der DDR überzeugend Ausdruck verleiht.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Tilman Spreckelsen widmet dem aus dem Nachlass der großen DDR-Autorin Brigitte Reimann herausgegebenen Roman "Die Denunziantin" eine ausführliche Rezension. Zunächst ordnet er den Text biografisch ein: Reimann habe ihn in einer Lebensphase verfasst, deren Selbstzeugnisse sie später vernichtet habe, weshalb der Rezensent ihn besonders "vielversprechend" findet. Vier Fassungen habe die Autorin angefertigt, erschienen sei jetzt die erste mit ausführlichen Verweisen auf die drei folgenden. Sie sei entstanden, als die Autorin erst neunzehn war. Die Protagonistin ist in einem ähnlichen Alter, erfahren wir, sie macht gerade ihr Abitur. Der Vater ist Opfer des Nationalsozialismus geworden, die Mutter bestens im DDR-Regime integriert, der Freund Klaus ein bürgerlicher Querulant, der den Staat zu stürzen versucht, fasst Spreckelsen zusammen. Das klinge zwar zunächst nach purer Ideologie, doch ebenjene werde in dem Kampf der Schülerin Eva mit ihrem Schuldirektor um die gesellschaftspolitischen Verfehlungen ihres Lehrers ein Stück weit in Frage gestellt. Eva würde zur Denunziantin, wenn sie sich über den Lehrer beschwere, der letztendlich den Arbeiter- und Bauernstatt verlässt. In der Protagonistin sieht der Rezensent auch Züge der Autorin, die sich ebenfalls mit Ideologien und Widersprüchen im Staat herumschlagen musste. Ein beeindruckendes Zeitdokument, auch und gerade durch die vielen Erläuterungen, wie sich die Geschichte mit ihren politischen Überzeugungen im Laufe der verschiedenen Fassungen verändert hat und dadurch, "wie der anfängliche Glaube an den Sozialismus immer stärker mit Erfahrungen kollidiert."
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2022Der Lehrer muss weg
Siebzig Jahre nach seiner Entstehung erscheint Brigitte Reimanns Roman "Die Denunziantin" aus dem Nachlass: Es ist der Roman einer überzeugten Kommunistin, die eine Schülerin in den Kampf gegen einen reaktionären Pädagogen schickt. Und ein einzigartiges biographisches Zeugnis.
Von Tilman Spreckelsen
Sie wollte ein neues Leben anfangen, jetzt, nachdem sie mit Daniel, diesem "jungen und schönen Menschen mit herrlichen Augen, mit mageren nervösen Händen" verheiratet war, "eine Begegnung wie keine andere zuvor". Dafür sollte endlich Schluss sein mit den "schmutzigsten und unglücklichsten Kapiteln" ihres Lebens, findet die Sechsundzwanzigjährige: "Meine Ehebrüche und widerwärtigen Betrugsmanöver, Dekadenz und Überdruss, verlorene Illusionen, quälerische Nächte über Büchern, die nie erschienen sind; Wochen und Monate in ständiger Besoffenheit, das Erwachen in fremden Betten", kurz: "Morast, Irrwege, Irrtümer, billige Betäubungen". Also wirft sie am 11. und 12. November 1959 Briefe, Fotos und zwanzig Tagebuchhefte ins Feuer. Und spart dann doch die neueren, seit Sommer 1955 geführten Hefte aus.
Gut eineinhalb Jahre waren Brigitte Reimann und Daniel Siegfried Pitschmann zur Zeit des Autodafés schon zusammen. Beide hatten dafür ihre früheren Ehepartner verlassen. Sie waren Schriftsteller auf der Suche nach Öffentlichkeit, jeder von ihnen stieß mit seinen literarischen Projekten in den Verlagen auf Widerstände. Nun schrieben sie gemeinsam ein Hörspiel und warteten darauf, von Halle nach Hoyerswerda umzuziehen, wo sie am Leben der Arbeiter teilnehmen und zugleich Schreibworkshops mit ihnen abhalten sollten. Ihre Liebes- und Ehegeschichte, die nur wenige Jahre Bestand haben sollte, ist durch einen intensiven Briefwechsel, durch die währenddessen entstandenen Werke beider Autoren und durch Brigitte Reimanns berühmt gewordenes Tagebuch für heutige Leser lebendig und sehr plastisch geworden.
Die Jahre zuvor, diejenigen, deren Tagebuchnotate Reimann dem Feuer übergeben hatte, sind es weit weniger. Auch deshalb ist das Erscheinen von Reimanns erstem Roman, "Die Denunziantin", den Kristina Sella jetzt aus dem Nachlass herausgegeben hat, so vielversprechend - eines jener "Bücher, die nie erschienen sind", und unter ihnen wohl das wichtigste: Reimann schrieb über die Jahre insgesamt vier Fassungen, bis sie den Plan Anfang 1957 endgültig aufgab. Es ist die erste dieser vier Versionen des Romans, die nun ediert worden ist, gemeinsam mit einem umfangreichen Ausblick auf die übrigen drei.
Entstanden ist sie im Winterhalbjahr 1952/53; Reimann war neunzehn. Sie blickt darin zurück auf das Frühjahr 1951, in dem sie ihr Abitur ablegte. Damals lebte sie mit ihren Eltern - der Vater, ein ehemaliger Bankkaufmann, war erst 1947 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt - und drei jüngeren Geschwistern in der Kleinstadt Burg bei Magdeburg, war 1949 in die FDJ eingetreten und engagierte sich in ihrer Schule in einer Laienspielgruppe, für die sie Stücke schrieb und inszenierte.
Auch Eva Hennig, das Mädchen, aus dessen Perspektive die Autorin in ihrem Roman erzählt, steht als Schülerin kurz vor dem Abitur und leitet eine Theatergruppe. Ihre Mutter ist Funktionärin im staatsnahen "Demokratischen Frauenbund Deutschlands", der Vater ist von den Nationalsozialisten ermordet worden.
Sein Bild steht in Evas Zimmer, der tote Vater wird von seiner Tochter als Held verehrt. Und Evas gleichaltriger Freund Klaus, dessen bürgerlicher Vater offenbar in krumme Geschäfte verwickelt ist, schneidet in Evas Augen gegen den Märtyrer gar nicht gut ab: "Nein", denkt sie, "der Klaus ist nicht der Typ, der für seine Idee sterben würde. Vielleicht hätte er nicht einmal die Kraft, für sie zu leben."
Klaus wird den Roman über Gelegenheit bekommen, diese Meinung der Siebzehnjährigen zu bestätigen, wie überhaupt die neunzehnjährige Autorin oft genug die Ansichten ihrer Protagonistin teilt. So setzt der Roman am 19. Februar 1951 mit einer Szene ein, die wenig Zweifel daran lässt, dass Klaus nicht der Richtige für Eva ist. Auf einer romantischen Fahrt nach Berlin, die das Paar auch über die Sektorengrenze hinweg führt, betätigt sich Klaus - wohl im Auftrag seines Vaters - als Schieber, und er benutzt Eva, die damit nicht einverstanden ist, sogar zur Tarnung seiner Machenschaften. Kein Wunder, dass Evas Mutter, zu der sie ein ausgezeichnetes Verhältnis hat, ihr erklärt, dass Klaus nicht zu ihr passt, weil er anders ist und denkt als sie. Eva hat das "tief im Inneren" auch schon gedacht, schließlich ist der Freund des literaturversessenen Mädchens wenig an Literatur und umso mehr an Fußball interessiert, verwechselt schon mal Griechen und Römer und findet das nicht weiter tragisch. Ihre Mutter hofft gar, dass Klaus mal ein schwerer Schlag trifft, damit er geläutert werde. Gegen Ende des Romans erfüllt ihr die Autorin den Wunsch sogar, nur von einer Läuterung des unglücklichen Jungen kann keine Rede sein.
So ideologisch gefestigt erscheint der Roman über lange Strecken, und dass er das gerade nicht ist, trotz der spürbaren Mühe der jungen Autorin, macht aus heutiger Sicht seinen eigentümlichen Reiz aus - und war möglicherweise der eigentliche Grund für das Unbehagen derjenigen, die ihn verlegen sollten.
Offensichtlich ist, dass eine beispielhafte Geschichte erzählt wird, eine, in der eine anfänglich unklare Situation positiv aufgelöst wird und sich am Beispiel einer couragierten Person viele andere aus ihren Irrtümern befreien. Diese Person ist Eva, die von ihren Klassenkameraden "überfortschrittlich" und "150%ig" genannt wird, aber genau deshalb einen mächtigen Feind besiegt, der es schlecht mit ihr und ihren Mitschülern, ja eigentlich mit der ganzen neuen Gesellschaft meint, die sich gerade formiert.
Diesen Feind findet die der Schule gerade entwachsene Autorin naturgemäß genau dort. Studienrat Dr. Sehnig unterrichtet Evas Klasse unter anderem in Englisch. Wegen seines Charismas hängen die Schüler an seinen Lippen, auch wenn er ihnen rät, einen Schlussstrich unter die Zeit des Nationalsozialismus zu ziehen und lieber nach vorn zu schauen, oder den einstigen Widerstand der Kommunisten gegen Hitler als sinnlos abtut - abends blickt Eva dann auf das Foto in ihrem Zimmer und seufzt: "Oh,Vati, Vati! Und auch für diesen Mann dort bist du gefallen -".
Sie belässt es nicht bei solchen Klagen. Nach einem heftigen Streit mit Sehnig stürmt sie aus der Klasse und sucht den Direktor auf, einen alten Mitstreiter ihres Vaters, und erklärt ihm, warum Sehnig es nicht verdient habe, Lehrer zu sein. "Der Lehrer soll doch auch seine Schüler gesellschaftspolitisch fördern und im Sinne unserer neuen Gesellschaft erziehen", findet sie, wobei sie selbst weiß, dass sie sich "phrasenhaft" anhört. Der Direktor hat zwar "als Mensch" Bedenken, Eva zuzustimmen, als Schulleiter aber gibt er ihr unbedingt recht.
Das ist eine gruselige Stelle, diejenige, die das im Roman so tapfer verteidigte gesellschaftliche Konstrukt am gründlichsten entlarvt. Denn entweder stützt sich das unbedingte Urteil des Direktors auf eigene Anschauung, dann fragt man sich, warum er nicht längst schon "als Schulleiter" dagegen vorgegangen ist. Oder er verlässt sich bei einer derart wichtigen Sache ausschließlich auf den Bericht der Schülerin - dann ist er als Direktor selbst eine krasse Fehlbesetzung. Der weitere Verlauf der sofort gegen Sehning eingeleiteten Untersuchung gibt dann dasselbe Bild ab: Einzelne Mitglieder der Kommission sind von vornherein überzeugt, dass der Lehrer schuldig ist, und suchen nur noch nach Beweisen dafür. Die Tatsache jedenfalls, dass die Klasse ihn verteidigt, macht ihn nur noch verdächtiger - es sei ein weiterer Beweis dafür, wie geschickt er sich die Klasse hörig gemacht habe. Während die Kommission zugleich weiß, dass "in diesem Mädchen die verkörperte Jugend, der Geist des Fortschritts vor ihnen stand und Ausweg aus seinen Zweifeln suchte, mehr noch: Hilfe von ihnen forderte gegen das Alte, Reaktionäre, das sich dem Neuen in den Weg zu stellen versuchte".
So ist es ein mittleres Wunder, dass Sehning die Untersuchung vorerst übersteht, da ihm partout nichts nachzuweisen ist. Eva gilt als "Denunziantin", was dem Roman seinen Titel gibt, sie ist in der Klasse weitgehend isoliert, während ihr eine Handvoll Freunde bleibt, mit denen sie das Laientheaterstück um einen tapferen Widerstandskämpfer inszeniert, das Sehning unbedingt verhindern wollte. Am Ende schlägt die Stimmung um, weil die anderen Schüler Evas Arbeit für das Kollektiv anerkennen, und der nun seinerseits isolierte Lehrer verlässt die junge Republik und deren Ideale, um eine Stelle in Hamburg anzutreten. Eva aber kommt mit dem hübschen Georg zusammen, der ihr politisches Engagement anfangs noch abgelehnt hatte, nun aber schätzt. Gemeinsam wollen sie zum Studium nach (Ost-)Berlin gehen.
Hat sie gewonnen, hat mit ihr der selbst ernannte "Geist des Fortschritts" über "das Alte, Reaktionäre" gesiegt? Falls das von der Autorin so intendiert sein sollte, wofür vieles spricht, dann ist der Text bisweilen klüger als sie. Wenn Lehrer Sehning etwa anhand von "König Lear" von "unabwendbarem Schicksal" spricht, dann klingt das für Eva "lebensfern und entmutigend", was eine interessante Kombination darstellt: Ist seine Haltung "lebensfern", dann widerspricht sie den Erfahrungen und kann so kaum "entmutigend" sein. Und wenn Evas weise Mutter zu einem Kulturprogramm, das Eva ausarbeiten soll, warnend sagt, sie ziele allzu sehr auf plakative Wirkung - "du willst blenden" -, dann steht ein Vorwurf im Raum, den man getrost auf den autobiographisch grundierten Roman der jungen Autorin anwenden kann. Oder zumindest auf die Deklamationen ihrer Heldin, die nach einem Streit mit Klaus denkt: "Hatte sie wirklich einmal schlechte Laune gehabt? Wegen solcher Lappalien . . . Es gab Größeres - Pflichten. Es gab Schöneres - eine Zukunft."
Reimann jedenfalls hatte damals schon aus relativer Nähe beobachten können, wie ungerecht der neue Staat seine Bürger behandeln konnte. Einer ihrer Mitschüler war von einem Moment auf den anderen von Staats wegen verschwunden, schreibt sie 1950 an eine Freundin im Westen: "Da ist in mir 'was kaputtgegangen. Ein Glaube, wenn Du es so nennen willst. Warum befleckt man eine große Sache mit - vielleicht mit dem Blut eines halben Kindes?" Später machte sie Erfahrungen mit der Stasi, als kurzzeitige Mitarbeiterin ebenso wie als langjähriges Objekt einer Überwachung, die das Abhören ihres Telefons einschloss.
Die verschiedenen Fassungen der "Denunziantin" gerieten derweil auf der Oberfläche immer staatskonformer und zugleich immer aufgesetzter und hoffnungsloser. Die Vorstellung jedenfalls, Andersdenkende auch in der nächsten Umgebung, in einer Liebesbeziehung etwa, durch beharrliche Überzeugungsarbeit ins sozialistische Boot zu holen, zerbröselte der Autorin wie ihrer Figur. "Wie oft hatten sie von ihrer gemeinsamen Zukunft geträumt; wie oft hatte Eva sich ausgemalt, wie sie Klaus zu einem anderen Menschen machen würde", gibt die Autorin Evas Gedanken in einer Krise mit Klaus wieder, den sein Umgang und vor allem seine Erziehung so verkorkst hätten. Und Reimann selbst hält 1958 in einem Brief an Pietschmann eine Begegnung mit dem frisch von ihr geschiedenen Maschinenschlosser Günter Domnik fest, mit dem sie sich "nicht einmal in politischen Fragen" hätte verständigen können - "fünf Jahre pädagogischer Versuche sind spurlos an ihm vorübergegangen", schreibt sie über das Zusammenleben, und man bekommt hier beinahe Mitleid mit ihrem ersten Ehemann.
An der "Denunziantin", die sie erst beim Mitteldeutschen Verlag und dann im Verlag Neues Leben unterbringen wollte, verlor sie die Lust. Vielleicht auch, weil sie inzwischen in anderen Büchern und dann in ihrem großen, Fragment gebliebenen Roman "Franziska Linkerhand" eine Form gefunden hatte, um darzustellen, wie der anfängliche Glaube an den Sozialismus immer stärker mit Erfahrungen kollidiert, die mit ihm nicht in eins zu bringen sind.
Der letzte Satz des Romanmanuskripts um eine junge Architektin, die in den für den sozialistischen "neuen Menschen" entworfenen Städten auch das Unmenschliche erkennt, lautet bekanntlich: "Fr. hatte den Zweikampf verloren, noch ehe sie ihn antrat." Diese Erfahrung hat Eva noch vor sich.
Brigitte Reimann: "Die Denunziantin". Roman.
Hrsg. von Kristina Stella. Grafiken von Jens Lay. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2022. 377 S., br., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Siebzig Jahre nach seiner Entstehung erscheint Brigitte Reimanns Roman "Die Denunziantin" aus dem Nachlass: Es ist der Roman einer überzeugten Kommunistin, die eine Schülerin in den Kampf gegen einen reaktionären Pädagogen schickt. Und ein einzigartiges biographisches Zeugnis.
Von Tilman Spreckelsen
Sie wollte ein neues Leben anfangen, jetzt, nachdem sie mit Daniel, diesem "jungen und schönen Menschen mit herrlichen Augen, mit mageren nervösen Händen" verheiratet war, "eine Begegnung wie keine andere zuvor". Dafür sollte endlich Schluss sein mit den "schmutzigsten und unglücklichsten Kapiteln" ihres Lebens, findet die Sechsundzwanzigjährige: "Meine Ehebrüche und widerwärtigen Betrugsmanöver, Dekadenz und Überdruss, verlorene Illusionen, quälerische Nächte über Büchern, die nie erschienen sind; Wochen und Monate in ständiger Besoffenheit, das Erwachen in fremden Betten", kurz: "Morast, Irrwege, Irrtümer, billige Betäubungen". Also wirft sie am 11. und 12. November 1959 Briefe, Fotos und zwanzig Tagebuchhefte ins Feuer. Und spart dann doch die neueren, seit Sommer 1955 geführten Hefte aus.
Gut eineinhalb Jahre waren Brigitte Reimann und Daniel Siegfried Pitschmann zur Zeit des Autodafés schon zusammen. Beide hatten dafür ihre früheren Ehepartner verlassen. Sie waren Schriftsteller auf der Suche nach Öffentlichkeit, jeder von ihnen stieß mit seinen literarischen Projekten in den Verlagen auf Widerstände. Nun schrieben sie gemeinsam ein Hörspiel und warteten darauf, von Halle nach Hoyerswerda umzuziehen, wo sie am Leben der Arbeiter teilnehmen und zugleich Schreibworkshops mit ihnen abhalten sollten. Ihre Liebes- und Ehegeschichte, die nur wenige Jahre Bestand haben sollte, ist durch einen intensiven Briefwechsel, durch die währenddessen entstandenen Werke beider Autoren und durch Brigitte Reimanns berühmt gewordenes Tagebuch für heutige Leser lebendig und sehr plastisch geworden.
Die Jahre zuvor, diejenigen, deren Tagebuchnotate Reimann dem Feuer übergeben hatte, sind es weit weniger. Auch deshalb ist das Erscheinen von Reimanns erstem Roman, "Die Denunziantin", den Kristina Sella jetzt aus dem Nachlass herausgegeben hat, so vielversprechend - eines jener "Bücher, die nie erschienen sind", und unter ihnen wohl das wichtigste: Reimann schrieb über die Jahre insgesamt vier Fassungen, bis sie den Plan Anfang 1957 endgültig aufgab. Es ist die erste dieser vier Versionen des Romans, die nun ediert worden ist, gemeinsam mit einem umfangreichen Ausblick auf die übrigen drei.
Entstanden ist sie im Winterhalbjahr 1952/53; Reimann war neunzehn. Sie blickt darin zurück auf das Frühjahr 1951, in dem sie ihr Abitur ablegte. Damals lebte sie mit ihren Eltern - der Vater, ein ehemaliger Bankkaufmann, war erst 1947 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt - und drei jüngeren Geschwistern in der Kleinstadt Burg bei Magdeburg, war 1949 in die FDJ eingetreten und engagierte sich in ihrer Schule in einer Laienspielgruppe, für die sie Stücke schrieb und inszenierte.
Auch Eva Hennig, das Mädchen, aus dessen Perspektive die Autorin in ihrem Roman erzählt, steht als Schülerin kurz vor dem Abitur und leitet eine Theatergruppe. Ihre Mutter ist Funktionärin im staatsnahen "Demokratischen Frauenbund Deutschlands", der Vater ist von den Nationalsozialisten ermordet worden.
Sein Bild steht in Evas Zimmer, der tote Vater wird von seiner Tochter als Held verehrt. Und Evas gleichaltriger Freund Klaus, dessen bürgerlicher Vater offenbar in krumme Geschäfte verwickelt ist, schneidet in Evas Augen gegen den Märtyrer gar nicht gut ab: "Nein", denkt sie, "der Klaus ist nicht der Typ, der für seine Idee sterben würde. Vielleicht hätte er nicht einmal die Kraft, für sie zu leben."
Klaus wird den Roman über Gelegenheit bekommen, diese Meinung der Siebzehnjährigen zu bestätigen, wie überhaupt die neunzehnjährige Autorin oft genug die Ansichten ihrer Protagonistin teilt. So setzt der Roman am 19. Februar 1951 mit einer Szene ein, die wenig Zweifel daran lässt, dass Klaus nicht der Richtige für Eva ist. Auf einer romantischen Fahrt nach Berlin, die das Paar auch über die Sektorengrenze hinweg führt, betätigt sich Klaus - wohl im Auftrag seines Vaters - als Schieber, und er benutzt Eva, die damit nicht einverstanden ist, sogar zur Tarnung seiner Machenschaften. Kein Wunder, dass Evas Mutter, zu der sie ein ausgezeichnetes Verhältnis hat, ihr erklärt, dass Klaus nicht zu ihr passt, weil er anders ist und denkt als sie. Eva hat das "tief im Inneren" auch schon gedacht, schließlich ist der Freund des literaturversessenen Mädchens wenig an Literatur und umso mehr an Fußball interessiert, verwechselt schon mal Griechen und Römer und findet das nicht weiter tragisch. Ihre Mutter hofft gar, dass Klaus mal ein schwerer Schlag trifft, damit er geläutert werde. Gegen Ende des Romans erfüllt ihr die Autorin den Wunsch sogar, nur von einer Läuterung des unglücklichen Jungen kann keine Rede sein.
So ideologisch gefestigt erscheint der Roman über lange Strecken, und dass er das gerade nicht ist, trotz der spürbaren Mühe der jungen Autorin, macht aus heutiger Sicht seinen eigentümlichen Reiz aus - und war möglicherweise der eigentliche Grund für das Unbehagen derjenigen, die ihn verlegen sollten.
Offensichtlich ist, dass eine beispielhafte Geschichte erzählt wird, eine, in der eine anfänglich unklare Situation positiv aufgelöst wird und sich am Beispiel einer couragierten Person viele andere aus ihren Irrtümern befreien. Diese Person ist Eva, die von ihren Klassenkameraden "überfortschrittlich" und "150%ig" genannt wird, aber genau deshalb einen mächtigen Feind besiegt, der es schlecht mit ihr und ihren Mitschülern, ja eigentlich mit der ganzen neuen Gesellschaft meint, die sich gerade formiert.
Diesen Feind findet die der Schule gerade entwachsene Autorin naturgemäß genau dort. Studienrat Dr. Sehnig unterrichtet Evas Klasse unter anderem in Englisch. Wegen seines Charismas hängen die Schüler an seinen Lippen, auch wenn er ihnen rät, einen Schlussstrich unter die Zeit des Nationalsozialismus zu ziehen und lieber nach vorn zu schauen, oder den einstigen Widerstand der Kommunisten gegen Hitler als sinnlos abtut - abends blickt Eva dann auf das Foto in ihrem Zimmer und seufzt: "Oh,Vati, Vati! Und auch für diesen Mann dort bist du gefallen -".
Sie belässt es nicht bei solchen Klagen. Nach einem heftigen Streit mit Sehnig stürmt sie aus der Klasse und sucht den Direktor auf, einen alten Mitstreiter ihres Vaters, und erklärt ihm, warum Sehnig es nicht verdient habe, Lehrer zu sein. "Der Lehrer soll doch auch seine Schüler gesellschaftspolitisch fördern und im Sinne unserer neuen Gesellschaft erziehen", findet sie, wobei sie selbst weiß, dass sie sich "phrasenhaft" anhört. Der Direktor hat zwar "als Mensch" Bedenken, Eva zuzustimmen, als Schulleiter aber gibt er ihr unbedingt recht.
Das ist eine gruselige Stelle, diejenige, die das im Roman so tapfer verteidigte gesellschaftliche Konstrukt am gründlichsten entlarvt. Denn entweder stützt sich das unbedingte Urteil des Direktors auf eigene Anschauung, dann fragt man sich, warum er nicht längst schon "als Schulleiter" dagegen vorgegangen ist. Oder er verlässt sich bei einer derart wichtigen Sache ausschließlich auf den Bericht der Schülerin - dann ist er als Direktor selbst eine krasse Fehlbesetzung. Der weitere Verlauf der sofort gegen Sehning eingeleiteten Untersuchung gibt dann dasselbe Bild ab: Einzelne Mitglieder der Kommission sind von vornherein überzeugt, dass der Lehrer schuldig ist, und suchen nur noch nach Beweisen dafür. Die Tatsache jedenfalls, dass die Klasse ihn verteidigt, macht ihn nur noch verdächtiger - es sei ein weiterer Beweis dafür, wie geschickt er sich die Klasse hörig gemacht habe. Während die Kommission zugleich weiß, dass "in diesem Mädchen die verkörperte Jugend, der Geist des Fortschritts vor ihnen stand und Ausweg aus seinen Zweifeln suchte, mehr noch: Hilfe von ihnen forderte gegen das Alte, Reaktionäre, das sich dem Neuen in den Weg zu stellen versuchte".
So ist es ein mittleres Wunder, dass Sehning die Untersuchung vorerst übersteht, da ihm partout nichts nachzuweisen ist. Eva gilt als "Denunziantin", was dem Roman seinen Titel gibt, sie ist in der Klasse weitgehend isoliert, während ihr eine Handvoll Freunde bleibt, mit denen sie das Laientheaterstück um einen tapferen Widerstandskämpfer inszeniert, das Sehning unbedingt verhindern wollte. Am Ende schlägt die Stimmung um, weil die anderen Schüler Evas Arbeit für das Kollektiv anerkennen, und der nun seinerseits isolierte Lehrer verlässt die junge Republik und deren Ideale, um eine Stelle in Hamburg anzutreten. Eva aber kommt mit dem hübschen Georg zusammen, der ihr politisches Engagement anfangs noch abgelehnt hatte, nun aber schätzt. Gemeinsam wollen sie zum Studium nach (Ost-)Berlin gehen.
Hat sie gewonnen, hat mit ihr der selbst ernannte "Geist des Fortschritts" über "das Alte, Reaktionäre" gesiegt? Falls das von der Autorin so intendiert sein sollte, wofür vieles spricht, dann ist der Text bisweilen klüger als sie. Wenn Lehrer Sehning etwa anhand von "König Lear" von "unabwendbarem Schicksal" spricht, dann klingt das für Eva "lebensfern und entmutigend", was eine interessante Kombination darstellt: Ist seine Haltung "lebensfern", dann widerspricht sie den Erfahrungen und kann so kaum "entmutigend" sein. Und wenn Evas weise Mutter zu einem Kulturprogramm, das Eva ausarbeiten soll, warnend sagt, sie ziele allzu sehr auf plakative Wirkung - "du willst blenden" -, dann steht ein Vorwurf im Raum, den man getrost auf den autobiographisch grundierten Roman der jungen Autorin anwenden kann. Oder zumindest auf die Deklamationen ihrer Heldin, die nach einem Streit mit Klaus denkt: "Hatte sie wirklich einmal schlechte Laune gehabt? Wegen solcher Lappalien . . . Es gab Größeres - Pflichten. Es gab Schöneres - eine Zukunft."
Reimann jedenfalls hatte damals schon aus relativer Nähe beobachten können, wie ungerecht der neue Staat seine Bürger behandeln konnte. Einer ihrer Mitschüler war von einem Moment auf den anderen von Staats wegen verschwunden, schreibt sie 1950 an eine Freundin im Westen: "Da ist in mir 'was kaputtgegangen. Ein Glaube, wenn Du es so nennen willst. Warum befleckt man eine große Sache mit - vielleicht mit dem Blut eines halben Kindes?" Später machte sie Erfahrungen mit der Stasi, als kurzzeitige Mitarbeiterin ebenso wie als langjähriges Objekt einer Überwachung, die das Abhören ihres Telefons einschloss.
Die verschiedenen Fassungen der "Denunziantin" gerieten derweil auf der Oberfläche immer staatskonformer und zugleich immer aufgesetzter und hoffnungsloser. Die Vorstellung jedenfalls, Andersdenkende auch in der nächsten Umgebung, in einer Liebesbeziehung etwa, durch beharrliche Überzeugungsarbeit ins sozialistische Boot zu holen, zerbröselte der Autorin wie ihrer Figur. "Wie oft hatten sie von ihrer gemeinsamen Zukunft geträumt; wie oft hatte Eva sich ausgemalt, wie sie Klaus zu einem anderen Menschen machen würde", gibt die Autorin Evas Gedanken in einer Krise mit Klaus wieder, den sein Umgang und vor allem seine Erziehung so verkorkst hätten. Und Reimann selbst hält 1958 in einem Brief an Pietschmann eine Begegnung mit dem frisch von ihr geschiedenen Maschinenschlosser Günter Domnik fest, mit dem sie sich "nicht einmal in politischen Fragen" hätte verständigen können - "fünf Jahre pädagogischer Versuche sind spurlos an ihm vorübergegangen", schreibt sie über das Zusammenleben, und man bekommt hier beinahe Mitleid mit ihrem ersten Ehemann.
An der "Denunziantin", die sie erst beim Mitteldeutschen Verlag und dann im Verlag Neues Leben unterbringen wollte, verlor sie die Lust. Vielleicht auch, weil sie inzwischen in anderen Büchern und dann in ihrem großen, Fragment gebliebenen Roman "Franziska Linkerhand" eine Form gefunden hatte, um darzustellen, wie der anfängliche Glaube an den Sozialismus immer stärker mit Erfahrungen kollidiert, die mit ihm nicht in eins zu bringen sind.
Der letzte Satz des Romanmanuskripts um eine junge Architektin, die in den für den sozialistischen "neuen Menschen" entworfenen Städten auch das Unmenschliche erkennt, lautet bekanntlich: "Fr. hatte den Zweikampf verloren, noch ehe sie ihn antrat." Diese Erfahrung hat Eva noch vor sich.
Brigitte Reimann: "Die Denunziantin". Roman.
Hrsg. von Kristina Stella. Grafiken von Jens Lay. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2022. 377 S., br., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main