Detektivarbeit ist kein Kinderspiel. Der neunjährige Jai schaut zu viele Polizei-Dokus, denkt, er sei klüger als seine Freundin Pari (obwohl sie immer die besten Noten bekommt) und hält sich für einen besseren Anführer als Faiz (obwohl Faiz derjenige mit zwei älteren Brüdern und einem echten Job ist). Als ein Junge aus ihrer Klasse verschwindet, beschließt Jai, sein Fernsehwissen zu nutzen, um ihn zu finden. Mit Pari und Faiz an seiner Seite wagt er sich in den verwinkelten Bhoot-Basar und dann weiter hinaus in die verbotenen Viertel der Stadt. Doch mehr und mehr Kinder verschwinden, und die Dinge in der Nachbarschaft werden kompliziert ...
"Die Detektive vom Bhoot-Basar" erzählt von den Farben und Widersprüchen des heutigen Indien, von sozialen und religiösen Spannungen, Korruption und Ungerechtigkeit, vor allem aber von der unbesiegbaren Vitalität dreier Kinder, von deren Wagemut, Unschuld und überbordender Phantasie.
Ein literarisches Debüt von besonderer emotionaler Tiefe, schon vor dem Erscheinen viele Male ausgezeichnet und bislang in 16 Sprachen übersetzt. Deepa Anappara bringt einen wahren Kriminalfall und eine mitreißende Coming-of-Age-Story zusammen mit der Magie einer großen Erzählung. Ein seltenes Glück.
"Die Detektive vom Bhoot-Basar" erzählt von den Farben und Widersprüchen des heutigen Indien, von sozialen und religiösen Spannungen, Korruption und Ungerechtigkeit, vor allem aber von der unbesiegbaren Vitalität dreier Kinder, von deren Wagemut, Unschuld und überbordender Phantasie.
Ein literarisches Debüt von besonderer emotionaler Tiefe, schon vor dem Erscheinen viele Male ausgezeichnet und bislang in 16 Sprachen übersetzt. Deepa Anappara bringt einen wahren Kriminalfall und eine mitreißende Coming-of-Age-Story zusammen mit der Magie einer großen Erzählung. Ein seltenes Glück.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2020Kein Fall nur für jugendliche Ermittler
"Die Detektive vom Bhoot-Basar" ist eine als Krimi verkleidete politische Milieustudie zu Indien
Seit siebzehn Jahren und 1300 Folgen läuft im indischen Fernsehen die Sendung "Crime Patrol". Deren Reality-Format funktioniert so: Reale Fälle von Brandstiftung, Raub und Kidnapping aus Indien werden mit niedrigem Budget und wackeliger Kamera nachgestellt. Dazwischen läuft der Moderator Anup Sari von links oder rechts ins Bild und philosophiert dabei über die Essenz des Bösen oder die Conditio humana. Einmal geht es um eine Gruppenvergewaltigung in einem Bus 2012 in Delhi, die weltweit Schlagzeilen machte. Die Folge sprengte bei ihrer Ausstrahlung die nationalen Einschaltquotenrekorde. True crime ist eben nicht erst seit Streaming und Podcasts in Mode.
Folge 48 von "Crime Patrol" behandelte ebenfalls einen Fall, den fast jeder in Indien kennt: eine Reihe von Kindesentführungen in einem Armenviertel. Sie ereigneten sich 2006 in der Industrieplanstadt Noida in Nordindien und bilden auch die Grundlage für den Debütroman "Die Detektive vom Bhoot-Basar" von Deepa Anappara. Auf den ersten Seiten liest sich das Buch noch wie ein Detektivabenteuer: Drei Kinder versuchen auf eigene Faust Hinweise über Verbleib der Verschleppten zu finden. Aber das ist nur ein Trick der Autorin, um die Lesenden tief in die Gänge des Bhoot-Basars zu führen und dann ein detailverliebtes Gemälde der Lebenswelt der ärmsten Klasse Indiens zu präsentieren.
Die Geschichte wird aus der Sicht des sechsjährigen Jai erzählt. Zu Beginn leidet er an den gleichen Problemen, an denen fast alle Schulkinder seines Alters leiden: Der Vater versteckt die Fernbedienung, wenn er seine Lieblingsserien schauen möchte, im Dunkeln hat er Angst, dass ein böser Dschinn ihn fressen könnte, und zum Unterricht geht er nur widerwillig. Gerne wäre Jai ein Meisterdetektiv, wie Byomkesh Bakshi, Sherlock Holmes oder die ehrenwerten Polizeiermittler aus dem Fernsehen. Als ein Mitschüler eines Tages verschwindet, beschließt Jai, mit seinen Freunden die Ermittlung selbst zu übernehmen.
Bestechend ist, wie die TKKG-Kinderermittlerwelt immer wieder auf die harte Erwachsenenrealität prallt: Anders als in Kinderhörspielen wie "Die drei ???" kooperieren die Erwachsenen nicht, wenn Viertklässler versuchen, sie zu befragen, meistens werden sie fortgejagt. Und ein Happy Ending ist auch nicht in Sicht: Im Bhoot-Basar passieren Verbrechen jenseits kindlicher Vorstellungskraft.
Jais Familie lebt in einem Basti. Die Viertel aus selbstgebauten Hütten an den Rändern von Metropolen haben oft kein fließendes Wasser. Hier wohnen Menschen, die als Putzkräfte für die Reichen in den abgeriegelten Apartmenttürmen mit Namen wie "Golden Gate" arbeiten und deren einzige Hoffnung auf sozialen Aufstieg heißt, dass ihre Kinder vielleicht eines Tages das Glück haben, im Callcenter einer amerikanischen Firma zu arbeiten. Anappara zeigt in ihrem Roman aber keineswegs ein Elendsdrama, sondern eine diverse Gesellschaft mit liebevoll gezeichneten Figuren: der langbärtige Fernseh-Chacha, der alte Fernsehgeräte aus den Müllhalden sammelt, oder Duttram, der Teeverkäufer, der Jai für seine Arbeit immer nur die Hälfte des Vereinbarten bezahlt, aber im Winter auch gerne Chai ausgibt.
Das Leben der Frauen im Viertel wird durch Gewalt und Willkür bestimmt, nicht nur im Alltäglichen, wenn Jais Schwester alle Aufgaben im Haus übernehmen muss, während er keinen Finger rührt. Auch die Gefahr, in der sich Frauen zu jeder Zeit allein auf der Straße befinden, ist allseits präsent. Einmal erzählen Straßenkinder im Roman Jai die Legende von Straßen-ki-Rani. Angeblich war das eine alte Frau, die den Verstand verlor und als Obdachlose verstarb, weil ihre Tochter Opfer eines Gewaltverbrechens wurde: "Die Männer brachten sie exakt an den Ort zurück, an dem sie sie entführt hatten, aber dermaßen zerfetzt, dass sie nicht mehr zusammenzuflicken war." Laut der Straßenkinder kehrt die Greisin als Ki-Rani-Geist zurück, um Frauen zu helfen, die von Männern bedroht werden. Über das grausam Realistische legt sich ein Film kindlicher Phantasie und Hoffnung: Solche Stellen finden sich immer wieder in diesem Debüt.
Anappara macht jede Häuserecke, jeden Mief von der Müllkippe, jedes Bersten von Glas in einer teilweise kopfschmerzbereitenden Synästhesie sichtbar: "Kellen kratzen in Töpfen, Metzgermesser schlagen auf Hackbretter, Rikschas und Motorroller hupen, und aus den Videospielhallen hinter schmuddeligen Vorhängen dröhnen Schießereien und Flüche." Beim Lesen kann man das Gefühl bekommen, selbst ständig über Ziegen zu stolpern und mit Teeständen zu kollidieren, während man die Gassen des Basars entlangsprintet oder sich durch Menschenmengen presst. Das kann nach einer Weile ermüden. Gerne hätte man sich mehr Zeit für die Entwicklung der drei Detektive gewünscht: Jai bleibt ein Einfaltspinsel, seine Freundin Pari, eine Streberin, die ihn zurechtweist, und Faiz der Sidekick. Aber das mindert das Staunen über ein so vielschichtiges Debüt nur wenig.
Anapparas sechsjährige Hauptfigur ist brennender Fan einer Serie namens "Police Patrol", was natürlich eine Anspielung auf "Crime Patrol" ist. In deren Folge 48 über den Fall von Noida sieht man heldenhafte Beamte, die die Familien der verschwundenen Kinder beruhigen und gewissenhaft ermitteln. In "Die Detektive vom Bhoot-Basar" nimmt ein korrupter Polizist einer verzweifelten Mutter deren Goldkette ab - ihren einzigen Wertgegenstand -, droht, das Viertel mit Bulldozern einzuebnen, und überlässt die Familie dann ihrem Schicksal. Anappara hält die Geschichte eines einfältigen Kindes im Armenviertel und die fiktive Realität von schönen, heldenhaften Beamten in der Serie gegeneinander. Das ist die Idee, des Buchs: Dass es in einer komplizierten Welt, einem Dickicht aus Smog und tiefen gesellschaftlichen Abgründen, gar nicht möglich ist, Sinn zu entdecken - und erst recht nicht ein Verbrechen so aufzuklären, wie es im Fernsehen geschieht. Trotzdem ist keine Welt ein Schreckensort, solange man sie durch die Augen eines Kinderabenteurers betrachtet.
EMELI GLASER.
Deepa Anappara: "Die Detektive vom Bhoot-Basar". Roman.
Aus dem Englischen von Roberto de Hollanda. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 400 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Die Detektive vom Bhoot-Basar" ist eine als Krimi verkleidete politische Milieustudie zu Indien
Seit siebzehn Jahren und 1300 Folgen läuft im indischen Fernsehen die Sendung "Crime Patrol". Deren Reality-Format funktioniert so: Reale Fälle von Brandstiftung, Raub und Kidnapping aus Indien werden mit niedrigem Budget und wackeliger Kamera nachgestellt. Dazwischen läuft der Moderator Anup Sari von links oder rechts ins Bild und philosophiert dabei über die Essenz des Bösen oder die Conditio humana. Einmal geht es um eine Gruppenvergewaltigung in einem Bus 2012 in Delhi, die weltweit Schlagzeilen machte. Die Folge sprengte bei ihrer Ausstrahlung die nationalen Einschaltquotenrekorde. True crime ist eben nicht erst seit Streaming und Podcasts in Mode.
Folge 48 von "Crime Patrol" behandelte ebenfalls einen Fall, den fast jeder in Indien kennt: eine Reihe von Kindesentführungen in einem Armenviertel. Sie ereigneten sich 2006 in der Industrieplanstadt Noida in Nordindien und bilden auch die Grundlage für den Debütroman "Die Detektive vom Bhoot-Basar" von Deepa Anappara. Auf den ersten Seiten liest sich das Buch noch wie ein Detektivabenteuer: Drei Kinder versuchen auf eigene Faust Hinweise über Verbleib der Verschleppten zu finden. Aber das ist nur ein Trick der Autorin, um die Lesenden tief in die Gänge des Bhoot-Basars zu führen und dann ein detailverliebtes Gemälde der Lebenswelt der ärmsten Klasse Indiens zu präsentieren.
Die Geschichte wird aus der Sicht des sechsjährigen Jai erzählt. Zu Beginn leidet er an den gleichen Problemen, an denen fast alle Schulkinder seines Alters leiden: Der Vater versteckt die Fernbedienung, wenn er seine Lieblingsserien schauen möchte, im Dunkeln hat er Angst, dass ein böser Dschinn ihn fressen könnte, und zum Unterricht geht er nur widerwillig. Gerne wäre Jai ein Meisterdetektiv, wie Byomkesh Bakshi, Sherlock Holmes oder die ehrenwerten Polizeiermittler aus dem Fernsehen. Als ein Mitschüler eines Tages verschwindet, beschließt Jai, mit seinen Freunden die Ermittlung selbst zu übernehmen.
Bestechend ist, wie die TKKG-Kinderermittlerwelt immer wieder auf die harte Erwachsenenrealität prallt: Anders als in Kinderhörspielen wie "Die drei ???" kooperieren die Erwachsenen nicht, wenn Viertklässler versuchen, sie zu befragen, meistens werden sie fortgejagt. Und ein Happy Ending ist auch nicht in Sicht: Im Bhoot-Basar passieren Verbrechen jenseits kindlicher Vorstellungskraft.
Jais Familie lebt in einem Basti. Die Viertel aus selbstgebauten Hütten an den Rändern von Metropolen haben oft kein fließendes Wasser. Hier wohnen Menschen, die als Putzkräfte für die Reichen in den abgeriegelten Apartmenttürmen mit Namen wie "Golden Gate" arbeiten und deren einzige Hoffnung auf sozialen Aufstieg heißt, dass ihre Kinder vielleicht eines Tages das Glück haben, im Callcenter einer amerikanischen Firma zu arbeiten. Anappara zeigt in ihrem Roman aber keineswegs ein Elendsdrama, sondern eine diverse Gesellschaft mit liebevoll gezeichneten Figuren: der langbärtige Fernseh-Chacha, der alte Fernsehgeräte aus den Müllhalden sammelt, oder Duttram, der Teeverkäufer, der Jai für seine Arbeit immer nur die Hälfte des Vereinbarten bezahlt, aber im Winter auch gerne Chai ausgibt.
Das Leben der Frauen im Viertel wird durch Gewalt und Willkür bestimmt, nicht nur im Alltäglichen, wenn Jais Schwester alle Aufgaben im Haus übernehmen muss, während er keinen Finger rührt. Auch die Gefahr, in der sich Frauen zu jeder Zeit allein auf der Straße befinden, ist allseits präsent. Einmal erzählen Straßenkinder im Roman Jai die Legende von Straßen-ki-Rani. Angeblich war das eine alte Frau, die den Verstand verlor und als Obdachlose verstarb, weil ihre Tochter Opfer eines Gewaltverbrechens wurde: "Die Männer brachten sie exakt an den Ort zurück, an dem sie sie entführt hatten, aber dermaßen zerfetzt, dass sie nicht mehr zusammenzuflicken war." Laut der Straßenkinder kehrt die Greisin als Ki-Rani-Geist zurück, um Frauen zu helfen, die von Männern bedroht werden. Über das grausam Realistische legt sich ein Film kindlicher Phantasie und Hoffnung: Solche Stellen finden sich immer wieder in diesem Debüt.
Anappara macht jede Häuserecke, jeden Mief von der Müllkippe, jedes Bersten von Glas in einer teilweise kopfschmerzbereitenden Synästhesie sichtbar: "Kellen kratzen in Töpfen, Metzgermesser schlagen auf Hackbretter, Rikschas und Motorroller hupen, und aus den Videospielhallen hinter schmuddeligen Vorhängen dröhnen Schießereien und Flüche." Beim Lesen kann man das Gefühl bekommen, selbst ständig über Ziegen zu stolpern und mit Teeständen zu kollidieren, während man die Gassen des Basars entlangsprintet oder sich durch Menschenmengen presst. Das kann nach einer Weile ermüden. Gerne hätte man sich mehr Zeit für die Entwicklung der drei Detektive gewünscht: Jai bleibt ein Einfaltspinsel, seine Freundin Pari, eine Streberin, die ihn zurechtweist, und Faiz der Sidekick. Aber das mindert das Staunen über ein so vielschichtiges Debüt nur wenig.
Anapparas sechsjährige Hauptfigur ist brennender Fan einer Serie namens "Police Patrol", was natürlich eine Anspielung auf "Crime Patrol" ist. In deren Folge 48 über den Fall von Noida sieht man heldenhafte Beamte, die die Familien der verschwundenen Kinder beruhigen und gewissenhaft ermitteln. In "Die Detektive vom Bhoot-Basar" nimmt ein korrupter Polizist einer verzweifelten Mutter deren Goldkette ab - ihren einzigen Wertgegenstand -, droht, das Viertel mit Bulldozern einzuebnen, und überlässt die Familie dann ihrem Schicksal. Anappara hält die Geschichte eines einfältigen Kindes im Armenviertel und die fiktive Realität von schönen, heldenhaften Beamten in der Serie gegeneinander. Das ist die Idee, des Buchs: Dass es in einer komplizierten Welt, einem Dickicht aus Smog und tiefen gesellschaftlichen Abgründen, gar nicht möglich ist, Sinn zu entdecken - und erst recht nicht ein Verbrechen so aufzuklären, wie es im Fernsehen geschieht. Trotzdem ist keine Welt ein Schreckensort, solange man sie durch die Augen eines Kinderabenteurers betrachtet.
EMELI GLASER.
Deepa Anappara: "Die Detektive vom Bhoot-Basar". Roman.
Aus dem Englischen von Roberto de Hollanda. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 400 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Nicolas Freund lässt sich vom Chai-Duft und den bunten Hosen auf den Basars in Deepa Anapparas Roman nicht täuschen: Unter der exotischen Oberfläche, die die Autorin laut Freund mit großer Kenntnis des Lebens in den indischen Slums, aber auch der westlichen Klischees von Indien gestaltet, brodelt es. Das Besondere am Text ist für Freund zum einen die Kinderperspektive auf Armut, Polizeigewalt und den obszönen Luxus der Bessergestellten, zum anderen die Irritation, die die Lektüre verursacht, indem Anappara das Problem sexueller Gewalt gegen Kinder in Indien in der Geschichte dauernd unterschwellig präsent sein lässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.08.2020Vor lauter Smog sieht man die Äffchen nicht
Zerlegt alle zauberhaften Indien-Klischees: Deepa Anapparas Roman „Die Detektive vom Bhoot-Basar“
Man weiß am Ende nicht, was eigentlich passiert ist, und wahrscheinlich ist es besser so. Der Roman „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ von Deepa Anappara erzählt seinen Lesern nicht die ganze Wahrheit, man könnte sogar sagen, er führt sie in die Irre. Aber das ist ganz in ihrem Interesse, denn man möchte die Wahrheit vielleicht gar nicht so genau wissen.
Anappara führt dem Leser ein Indien der Gegensätze vor – aber nicht die schönen Gegensätze, die im Reisekatalog gemeint sind. Luxushochhäuser stehen in einer nicht genau benannten, nordindischen Stadt direkt neben Slums, auf dem Basar vermischt sich der Smog mit den Gerüchen der Chai-Tees und frittierten Süßigkeiten, eine U-Bahn-Fahrt erscheint für die Slumbewohner unbezahlbar, während die Wohntürme wenige Straßen weiter leer stehen, weil ihre Besitzer um die Welt jetten. Die Polizei ist notorisch korrupt, überfordert und unterbesetzt. Wer einen Job im Callcenter hat und nachts einen amerikanischen Akzent imitiert, um Kundenservices für das andere Ende der Welt anzubieten, der gilt als einer, der es geschafft hat.
Diese Welt sieht der Roman durch die Augen eines Kindes. Der fast zehn Jahre alte Jai lebt mit seinen Eltern und der großen Schwester in dem Slum zwischen der Müllkippe, dem Basar und den schicken Hochhäusern, die alle, die dort nicht wohnen, nur Hi-Fi-Wohnungen nennen, obwohl sich längst keiner der Armen mehr nach einer Stereoanlage sehnt, sondern eher nach einem dieser Handys, mit denen man nicht nur telefonieren kann.
Die Autorin Deepa Anappara hat in Neu-Delhi und Mumbai als Journalistin gearbeitet, über die Gewalt und die Armut dort geschrieben, und ihr Debütroman könnte auch eine literarische Reportage aus den Vierteln der Ärmsten Indiens sein: Sie weiß genau, wie die Tagesabläufe in den winzigen Hütten sind, wann alle an den wenigen Toiletten und Waschräumen anstehen, wie abhängig die Bewohner von der Willkür der Polizei sind, wann die Eltern der Kinder kommen und gehen, die manchmal, wie um den Kontrast noch mal überdeutlich zu machen, als Haushälterinnen in den Hochhäusern arbeiten oder die U-Bahnen bauen, die sie sich dann selbst nicht leisten können.
Obwohl sich manche Passagen lesen wie Reportagen, ist das Besondere an Anapparas Roman aber die Perspektive Jais. Denn für das Kind erscheinen die Kontraste zwischen Luxusappartements und Wellblechhütten selbstverständlich, vieles erscheint ihm normal. Wenn er zum Beispiel nebenbei erklärt, der Smog sei so dicht, dass man die Affen auf den Dächern nicht sehen könne, fragt sich der Leser aber doch, was das eigentlich für eine Welt ist, die durch die Augen des Kindes wie ein großer Abenteuerspielplatz wirkt.
Und dann ist nicht einmal mehr sicher, ob wirklich Jai die Geschichte erzählt, denn der Roman schließt im ersten Drittel einen erzählerischen Kreis, in dem ein älterer Junge, der Bandenführer Guru zum Erzähler zu werden scheint. Vielleicht ist es aber auch nicht so wichtig, ob wir hier Jai oder Guru hören, vielleicht ist es genau der Punkt, dass die beiden nicht so eindeutig zu unterscheiden sind, dass das, wovon schließlich berichtet wird, allen Kindern aus den Slums hätte passieren können.
Immer mehr Kinder verschwinden von den Straßen des Viertels, was zunächst niemand richtig ernst nimmt. Kinder laufen ja mal weg, die älteren haben sich vielleicht irgendwo einen Job gesucht, die Mädchen sind womöglich mit ihrem neuen Freund durchgebrannt. Jai und seine Freunde, das Mädchen Pari und der muslimische Faiz, glauben das aber nicht, sie ermitteln auf eigene Faust, lassen den Straßenhund Samosa Fährten suchen, fahren mit von den Eltern geklautem Geld in die Innenstadt und beschatten alle, die ihnen irgendwie verdächtig vorkommen.
Dieser Roman stellt dem Leser geradezu eine Falle, indem er ihn Hunderte Seiten lang in dieser liebenswerten Geschichte, die teilweise aus einem Enid-Blyton-Roman stammen könnte, durch den Alltag der Kinder führt und immer wieder nur kleine Irritation einfließen lässt, den allgegenwärtigen Smog, die kargen Mahlzeiten oder die zerschlissene Kleidung der Kinder.
Deepa Anappara hat nach ihrer Karriere als Journalistin im britischen Norwich an der University of East Anglia Kreatives Schreiben studiert. Den Roman hat sie auf Englisch geschrieben und klar an ein internationales Publikum adressiert. Sie spielt mit manchen Klischees des zauberhaften Indiens, wie es in westlichen Reiseportalen versprochen wird: Äffchen auf dem Basar, bunte Kleidung, nette Straßenkinder und ein duftender Chai-Stand an jeder Ecke.
Diese Klischee kontrastiert sie aber immer krass mit der Armut, die überall herrscht. Der Text ist voller indischer Begriffe wie Bajaj Chetak für Motorroller oder Buddi-ka-baal für Zuckerwatte, die genauso gut hätten übersetzt werden können und dem Leser vorgaukeln, er verstehe etwas von Indien, wenn er diesen Roman liest. Er wird auch etwas verstehen, aber ganz anders, als er es erwartet. Obwohl das Bild auf dem Umschlag der deutschen Ausgabe es suggeriert, ist „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ nicht geeignet für Menschen, die Indien schön bunt finden, sich bei kommerzialisiert nach Europa importierten Holi-Festivals für 35 Euro Eintritt mit Farbbeuteln bewerfen und denken, sie hätten damit das traditionelle indischen Frühlingsfest gefeiert.
Denn aus dem Smog und den kitschigen Farben schält sich bald etwas, das der Roman nur andeutet, das aber, wenn der Leser es einmal verstanden hat, schwer erträglich über dem gesamten Text schwebt: Indiens großes Problem mit sexueller Gewalt, vor allem gegen Kinder. Aus der Sicht eines Kindes, das nicht richtig begreift, was da passiert, erzählt Deepa Anappara von einer Welt, in der Kindern jeden Tag Gewalt angetan wird.
Ihr Roman soll westliche Leser daran erinnern, dass Indien nicht nur aus den bunten Festen besteht, deren Bilder fast jeden Tag in alle Welt verbreitet werden. Das ist etwas moralisierend, wird aber nicht mit erhobenem Zeigefinger vorgebracht. Der Roman erzielt seinen verstörenden Effekt mit ästhetischen Mitteln, indem er dem Leser diese brutale Welt so zeigt, wie ein Kind sie wahrnimmt. Das, was eigentlich geschieht, entsteht im Kopf des Lesers – und bleibt dort noch lange nach dem Ende dieser Geschichte.
NICOLAS FREUND
Kinder verschwinden von den
Straßen des Viertels, und niemand
scheint das ernst zu nehmen
Wo Gegensätze zusammenkommen, aber nicht so, wie sich die Tourismuswerbung das vorstellt, spielt auch Deepa Anapparas Roman. Hier Ausläufer eines Slums, im Hintergrund die Neubausiedlungen von Noida am Rand von Neu-Delhi in Indien.
Foto: Altaf Qadri/AP
Deepa Anappara:
Die Detektive vom Bhoot-Basar. Roman. Aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda. Rowohlt, Hamburg 2020. 400 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zerlegt alle zauberhaften Indien-Klischees: Deepa Anapparas Roman „Die Detektive vom Bhoot-Basar“
Man weiß am Ende nicht, was eigentlich passiert ist, und wahrscheinlich ist es besser so. Der Roman „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ von Deepa Anappara erzählt seinen Lesern nicht die ganze Wahrheit, man könnte sogar sagen, er führt sie in die Irre. Aber das ist ganz in ihrem Interesse, denn man möchte die Wahrheit vielleicht gar nicht so genau wissen.
Anappara führt dem Leser ein Indien der Gegensätze vor – aber nicht die schönen Gegensätze, die im Reisekatalog gemeint sind. Luxushochhäuser stehen in einer nicht genau benannten, nordindischen Stadt direkt neben Slums, auf dem Basar vermischt sich der Smog mit den Gerüchen der Chai-Tees und frittierten Süßigkeiten, eine U-Bahn-Fahrt erscheint für die Slumbewohner unbezahlbar, während die Wohntürme wenige Straßen weiter leer stehen, weil ihre Besitzer um die Welt jetten. Die Polizei ist notorisch korrupt, überfordert und unterbesetzt. Wer einen Job im Callcenter hat und nachts einen amerikanischen Akzent imitiert, um Kundenservices für das andere Ende der Welt anzubieten, der gilt als einer, der es geschafft hat.
Diese Welt sieht der Roman durch die Augen eines Kindes. Der fast zehn Jahre alte Jai lebt mit seinen Eltern und der großen Schwester in dem Slum zwischen der Müllkippe, dem Basar und den schicken Hochhäusern, die alle, die dort nicht wohnen, nur Hi-Fi-Wohnungen nennen, obwohl sich längst keiner der Armen mehr nach einer Stereoanlage sehnt, sondern eher nach einem dieser Handys, mit denen man nicht nur telefonieren kann.
Die Autorin Deepa Anappara hat in Neu-Delhi und Mumbai als Journalistin gearbeitet, über die Gewalt und die Armut dort geschrieben, und ihr Debütroman könnte auch eine literarische Reportage aus den Vierteln der Ärmsten Indiens sein: Sie weiß genau, wie die Tagesabläufe in den winzigen Hütten sind, wann alle an den wenigen Toiletten und Waschräumen anstehen, wie abhängig die Bewohner von der Willkür der Polizei sind, wann die Eltern der Kinder kommen und gehen, die manchmal, wie um den Kontrast noch mal überdeutlich zu machen, als Haushälterinnen in den Hochhäusern arbeiten oder die U-Bahnen bauen, die sie sich dann selbst nicht leisten können.
Obwohl sich manche Passagen lesen wie Reportagen, ist das Besondere an Anapparas Roman aber die Perspektive Jais. Denn für das Kind erscheinen die Kontraste zwischen Luxusappartements und Wellblechhütten selbstverständlich, vieles erscheint ihm normal. Wenn er zum Beispiel nebenbei erklärt, der Smog sei so dicht, dass man die Affen auf den Dächern nicht sehen könne, fragt sich der Leser aber doch, was das eigentlich für eine Welt ist, die durch die Augen des Kindes wie ein großer Abenteuerspielplatz wirkt.
Und dann ist nicht einmal mehr sicher, ob wirklich Jai die Geschichte erzählt, denn der Roman schließt im ersten Drittel einen erzählerischen Kreis, in dem ein älterer Junge, der Bandenführer Guru zum Erzähler zu werden scheint. Vielleicht ist es aber auch nicht so wichtig, ob wir hier Jai oder Guru hören, vielleicht ist es genau der Punkt, dass die beiden nicht so eindeutig zu unterscheiden sind, dass das, wovon schließlich berichtet wird, allen Kindern aus den Slums hätte passieren können.
Immer mehr Kinder verschwinden von den Straßen des Viertels, was zunächst niemand richtig ernst nimmt. Kinder laufen ja mal weg, die älteren haben sich vielleicht irgendwo einen Job gesucht, die Mädchen sind womöglich mit ihrem neuen Freund durchgebrannt. Jai und seine Freunde, das Mädchen Pari und der muslimische Faiz, glauben das aber nicht, sie ermitteln auf eigene Faust, lassen den Straßenhund Samosa Fährten suchen, fahren mit von den Eltern geklautem Geld in die Innenstadt und beschatten alle, die ihnen irgendwie verdächtig vorkommen.
Dieser Roman stellt dem Leser geradezu eine Falle, indem er ihn Hunderte Seiten lang in dieser liebenswerten Geschichte, die teilweise aus einem Enid-Blyton-Roman stammen könnte, durch den Alltag der Kinder führt und immer wieder nur kleine Irritation einfließen lässt, den allgegenwärtigen Smog, die kargen Mahlzeiten oder die zerschlissene Kleidung der Kinder.
Deepa Anappara hat nach ihrer Karriere als Journalistin im britischen Norwich an der University of East Anglia Kreatives Schreiben studiert. Den Roman hat sie auf Englisch geschrieben und klar an ein internationales Publikum adressiert. Sie spielt mit manchen Klischees des zauberhaften Indiens, wie es in westlichen Reiseportalen versprochen wird: Äffchen auf dem Basar, bunte Kleidung, nette Straßenkinder und ein duftender Chai-Stand an jeder Ecke.
Diese Klischee kontrastiert sie aber immer krass mit der Armut, die überall herrscht. Der Text ist voller indischer Begriffe wie Bajaj Chetak für Motorroller oder Buddi-ka-baal für Zuckerwatte, die genauso gut hätten übersetzt werden können und dem Leser vorgaukeln, er verstehe etwas von Indien, wenn er diesen Roman liest. Er wird auch etwas verstehen, aber ganz anders, als er es erwartet. Obwohl das Bild auf dem Umschlag der deutschen Ausgabe es suggeriert, ist „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ nicht geeignet für Menschen, die Indien schön bunt finden, sich bei kommerzialisiert nach Europa importierten Holi-Festivals für 35 Euro Eintritt mit Farbbeuteln bewerfen und denken, sie hätten damit das traditionelle indischen Frühlingsfest gefeiert.
Denn aus dem Smog und den kitschigen Farben schält sich bald etwas, das der Roman nur andeutet, das aber, wenn der Leser es einmal verstanden hat, schwer erträglich über dem gesamten Text schwebt: Indiens großes Problem mit sexueller Gewalt, vor allem gegen Kinder. Aus der Sicht eines Kindes, das nicht richtig begreift, was da passiert, erzählt Deepa Anappara von einer Welt, in der Kindern jeden Tag Gewalt angetan wird.
Ihr Roman soll westliche Leser daran erinnern, dass Indien nicht nur aus den bunten Festen besteht, deren Bilder fast jeden Tag in alle Welt verbreitet werden. Das ist etwas moralisierend, wird aber nicht mit erhobenem Zeigefinger vorgebracht. Der Roman erzielt seinen verstörenden Effekt mit ästhetischen Mitteln, indem er dem Leser diese brutale Welt so zeigt, wie ein Kind sie wahrnimmt. Das, was eigentlich geschieht, entsteht im Kopf des Lesers – und bleibt dort noch lange nach dem Ende dieser Geschichte.
NICOLAS FREUND
Kinder verschwinden von den
Straßen des Viertels, und niemand
scheint das ernst zu nehmen
Wo Gegensätze zusammenkommen, aber nicht so, wie sich die Tourismuswerbung das vorstellt, spielt auch Deepa Anapparas Roman. Hier Ausläufer eines Slums, im Hintergrund die Neubausiedlungen von Noida am Rand von Neu-Delhi in Indien.
Foto: Altaf Qadri/AP
Deepa Anappara:
Die Detektive vom Bhoot-Basar. Roman. Aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda. Rowohlt, Hamburg 2020. 400 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein atmosphärisch dichter und mitreißender Roman über das heutige Indien. 3Sat "Buchzeit" 20200315