Produktdetails
- Verlag: Manutius
- 2. Aufl.
- Seitenzahl: 108
- Deutsch
- Abmessung: 210mm x 125mm
- Gewicht: 206g
- ISBN-13: 9783934877153
- ISBN-10: 393487715X
- Artikelnr.: 10686320
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2003Mit Schillerklang und Körnerschall
Als die hohe Germanistik vom Kothurn stieg: Friedrich Gundolf machte sich einen Reim auf die Literaturgeschichte
Daß Umberto Eco eine Philosophiegeschichte als Comic-Serie mit witzigen Sprechblasen verfaßt hat, das traute dem Ironiker und Romanautor wohl jeder seiner Leser zu, aber daß der seriöse Heidelberger Germanistikprofessor Friedrich Gundolf heimlich, nicht für den Druck, eine deutsche Literaturgeschichte in Knittelversen geschrieben hat, das ist schon einen überraschten Aufblick wert. Denn Gundolf war zwischen 1920 und seinem frühen Tod 1931 der aufgehende Stern der neuen, der nicht mehr "positivistischen" deutschen Germanistik.
Er richtete seinen Seherblick auf die ganz Großen, auf die Heroen und Führer der Literatur, auf Shakespeare und Goethe, und so trat er auch auf: Mit monotoner Stimme folgte der Professor streng seinem Manuskript, ohne ins Publikum zu blicken, ohne je mit einem Witz sein kunstvolles Satzgewebe und seinen durchgehend hohen Ton, der eine Art erhabenes Geleier gewesen sein soll, zu unterbrechen. Er war die professorale Unnahbarkeit selbst. Dolf Sternberger hat seinen Auftritt beschrieben. Danach stand er "hoch aufgereckt auf dem Katheder, mit steif verschränkten Armen, in gleichmäßig getragenem Ton vortragend, . . . häufig zur Seite und zum Fenster hinaus den Blick richtend, ohne die allergeringste Aufmerksamkeit auf das Publikum, scheinbar voller Verachtung". Das einzige, was die erhabene Szene etwas milderte, war der Darmstädter Dialekt, der unverkennbar durchschlug, dem der Redner aber seine visionäre Diktion und seine herrscherliche Positur energisch entgegensetzte.
Gundolf war 1880 in Darmstadt aus einer jüdischen Familie geboren und hatte mit neunzehn Jahren durch Karl Wolfskehl Zugang zu Stefan George gefunden. Er studierte in München, Heidelberg und Berlin Germanistik und Kunstgeschichte, aber vor allem war er Jünger und Sekretär Stefan Georges, der kraft seiner Autorität als Seher und Führer den Namen "Gundelfinger" in das einprägsamere "Gundolf" umwandelte. Gundolf schwankte zwischen Dichtung im George-Stil und Literaturwissenschaft, entschied sich schließlich für die Literarhistorie, aber es sollte eine neue Literaturwissenschaft werden, die er mit Hilfe Bergsonscher Ideen dem noch herrschenden "Positivismus" abzutrotzen gedachte. Eine Literaturwissenschaft ohne Biographie und ohne Anmerkungen; ihre Aufgabe war das Herausarbeiten der bleibenden sprachlichen Form und der in ihr liegenden lebenführenden Kraft; sie rühmte als ihr Bestes "Ehrfurcht" und "Enthusiasmus". Dies erklärt den hohepriesterlichen Gestus des Professors, aber es macht die heimliche Parodie noch rätselhafter. Als habe er die hohe Form nicht ausgehalten, als habe er, wenn er allein war, gegen das Pathos revoltiert, schrieb er seine kleine Literaturgeschichte in Knittelversen. Sie bilden die Kehrseite der Georgeschen Medaille, die Komödie nach der inszenierten Tragödie. Die hohe Germanistik steigt vom Kothurn.
Der Vorgang ist ergötzlich und belehrend; der Berliner Germanist Ernst Osterkamp hat Gundolfs Verse in einer verläßlichen, wenn auch nicht historisch-kritischen Ausgabe neu zugänglich gemacht. Er hat die nötigsten Erläuterungen hinzugefügt, die ein paar seltene Wörter und Namen erklären; ein informatives Nachwort beschreibt die Entwicklung Gundolfs zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen George und dem Universitätsbetrieb; es bildet einen nennenswerten Beitrag zur Geschichte des Faches Germanistik. Es fällt angenehm auf durch Kürze und Klarheit. Vor allem: Der Herausgeber übertreibt nicht die Bedeutung des von ihm ans Tageslicht gebrachten Textes. Denn die Verse Gundolfs sind nicht gar zu witzig und nicht ganz so subversiv, wie man denken könnte. Sie verlassen nicht die literarischen Wertmaßstäbe der Georgianer und vieler zeitgenössischer Germanisten: Ihre deutsche Literatur beginnt erst mit Luther, gipfelt in Goethe, dem das längste Gedicht gilt, und endet mit Wagner und Nietzsche; vor der Größe Georges verstummt der Versemacher schon wieder. Zwischendurch schreibt er recht munter, als erhole er sich mit dem verlästerten Heine vom strengen George. Die Herkunft der Germanistik aus der historistischen Gelehrsamkeit der späten Romantik und ihren Untergang in der Detailwut des "Positivisten" Wilhelm Scherer beschreibt er so: "Deutschkunde spriesst aus frühem Staub / Und wird zuletzt ein Scherer-raub."
Die Vaterlandspoesie der antinapoleonischen Zeit war "Schillerklang und Körnerschall". Das ist gut gemacht; das könnte von Robert Gernhardt stammen. Gundolf schreibt am besten, wenn er sich statt seiner programmatischen "Ehrfurcht und Enthusiasmus" einmal Herablassung oder Verachtung leistet. Ein kleines Wunder aber, scheint mir, ist ihm gelungen, wo er versucht, sich von Jean Paul zu distanzieren, den George selbst höher bewertet hatte und den Max Kommerell für die Georgianer entdecken wird. Gundolf bekennt sich zu seinem Zwiespalt. Er tut Jean Paul unrecht, aber in großer Form: "Die buntesten Ernten abgepflückt / So deutsche Erden je geschmückt / Nur leider mit zu kurzem Stiel / Hast du, Jean Paul . . . zu voll, zu viel." Sein Gedicht endet mit den Zeilen: "Du Zauberer, dem jedes Wort / Gewaltig dient am falschen Ort, / Du tiefstes Herz mit krankem Schlag, / Sekundenuhr im Weltentag."
Dieses Gedicht allein schon lohnt die Publikation, die Ernst Osterkamp gelehrt und doch leicht gestaltet hat. Das kommt selten vor; das kann man nicht genug loben. Nur an einer einzigen Stelle hat er mich enttäuscht, nämlich dort, wo er das schöne Wort "herbstfirn" erklärt, mit dem Gundolf Goethes Alterslyrik beschreibt, also den "West-Östlichen Divan", in dem der Wein als eines der vier Elemente der Poesie gilt. Aber unser Berliner Germanistikprofessor erklärt "firn" als "alt, auch mit dem Nebensein schlau und erfahren". Das reicht nicht. So übersinnlich haben es weder Stefan George noch Gundolf verstanden, sondern als den herben Geschmackston eines edel gealterten, voll genießbaren Weins.
Ich reserviere von jetzt an eine Flasche firnen Weines für Ernst Osterkamp. Er hat ihn sich verdient, aber ich möchte mich mit ihm auch darüber unterhalten, wie Gundolf Literaturhistoriker sein kann, wenn er ihn einen "dezidierten Nicht-Historiker" nennt. Wir würden darüber plaudern, was das für eine Germanistik ist, welche die deutsche Literatur erst mit Luther beginnen läßt. Und schließlich wäre zu klären, wer Ernst Gothein war, nämlich kein "Kunsthistoriker", wie Osterkamp schreibt, sondern ein Ökonomiehistoriker, der mit einer Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes begonnen, sich dann aber zunehmend der allgemeinen Kulturgeschichte, besonders der Renaissance und der Reformation, zugewandt hat. Ansonsten würden wir den Tag friedlich genießen und dem Wort "herbstfirn" seinen vollen goethischen Geschmack zurückgeben.
Friedrich Gundolf: "Die deutsche Literärgeschicht reimweis kurz fasslich hergericht". Herausgegeben und Nachwort von Ernst Osterkamp. Manutius Verlag, Heidelberg 2002. 106 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als die hohe Germanistik vom Kothurn stieg: Friedrich Gundolf machte sich einen Reim auf die Literaturgeschichte
Daß Umberto Eco eine Philosophiegeschichte als Comic-Serie mit witzigen Sprechblasen verfaßt hat, das traute dem Ironiker und Romanautor wohl jeder seiner Leser zu, aber daß der seriöse Heidelberger Germanistikprofessor Friedrich Gundolf heimlich, nicht für den Druck, eine deutsche Literaturgeschichte in Knittelversen geschrieben hat, das ist schon einen überraschten Aufblick wert. Denn Gundolf war zwischen 1920 und seinem frühen Tod 1931 der aufgehende Stern der neuen, der nicht mehr "positivistischen" deutschen Germanistik.
Er richtete seinen Seherblick auf die ganz Großen, auf die Heroen und Führer der Literatur, auf Shakespeare und Goethe, und so trat er auch auf: Mit monotoner Stimme folgte der Professor streng seinem Manuskript, ohne ins Publikum zu blicken, ohne je mit einem Witz sein kunstvolles Satzgewebe und seinen durchgehend hohen Ton, der eine Art erhabenes Geleier gewesen sein soll, zu unterbrechen. Er war die professorale Unnahbarkeit selbst. Dolf Sternberger hat seinen Auftritt beschrieben. Danach stand er "hoch aufgereckt auf dem Katheder, mit steif verschränkten Armen, in gleichmäßig getragenem Ton vortragend, . . . häufig zur Seite und zum Fenster hinaus den Blick richtend, ohne die allergeringste Aufmerksamkeit auf das Publikum, scheinbar voller Verachtung". Das einzige, was die erhabene Szene etwas milderte, war der Darmstädter Dialekt, der unverkennbar durchschlug, dem der Redner aber seine visionäre Diktion und seine herrscherliche Positur energisch entgegensetzte.
Gundolf war 1880 in Darmstadt aus einer jüdischen Familie geboren und hatte mit neunzehn Jahren durch Karl Wolfskehl Zugang zu Stefan George gefunden. Er studierte in München, Heidelberg und Berlin Germanistik und Kunstgeschichte, aber vor allem war er Jünger und Sekretär Stefan Georges, der kraft seiner Autorität als Seher und Führer den Namen "Gundelfinger" in das einprägsamere "Gundolf" umwandelte. Gundolf schwankte zwischen Dichtung im George-Stil und Literaturwissenschaft, entschied sich schließlich für die Literarhistorie, aber es sollte eine neue Literaturwissenschaft werden, die er mit Hilfe Bergsonscher Ideen dem noch herrschenden "Positivismus" abzutrotzen gedachte. Eine Literaturwissenschaft ohne Biographie und ohne Anmerkungen; ihre Aufgabe war das Herausarbeiten der bleibenden sprachlichen Form und der in ihr liegenden lebenführenden Kraft; sie rühmte als ihr Bestes "Ehrfurcht" und "Enthusiasmus". Dies erklärt den hohepriesterlichen Gestus des Professors, aber es macht die heimliche Parodie noch rätselhafter. Als habe er die hohe Form nicht ausgehalten, als habe er, wenn er allein war, gegen das Pathos revoltiert, schrieb er seine kleine Literaturgeschichte in Knittelversen. Sie bilden die Kehrseite der Georgeschen Medaille, die Komödie nach der inszenierten Tragödie. Die hohe Germanistik steigt vom Kothurn.
Der Vorgang ist ergötzlich und belehrend; der Berliner Germanist Ernst Osterkamp hat Gundolfs Verse in einer verläßlichen, wenn auch nicht historisch-kritischen Ausgabe neu zugänglich gemacht. Er hat die nötigsten Erläuterungen hinzugefügt, die ein paar seltene Wörter und Namen erklären; ein informatives Nachwort beschreibt die Entwicklung Gundolfs zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen George und dem Universitätsbetrieb; es bildet einen nennenswerten Beitrag zur Geschichte des Faches Germanistik. Es fällt angenehm auf durch Kürze und Klarheit. Vor allem: Der Herausgeber übertreibt nicht die Bedeutung des von ihm ans Tageslicht gebrachten Textes. Denn die Verse Gundolfs sind nicht gar zu witzig und nicht ganz so subversiv, wie man denken könnte. Sie verlassen nicht die literarischen Wertmaßstäbe der Georgianer und vieler zeitgenössischer Germanisten: Ihre deutsche Literatur beginnt erst mit Luther, gipfelt in Goethe, dem das längste Gedicht gilt, und endet mit Wagner und Nietzsche; vor der Größe Georges verstummt der Versemacher schon wieder. Zwischendurch schreibt er recht munter, als erhole er sich mit dem verlästerten Heine vom strengen George. Die Herkunft der Germanistik aus der historistischen Gelehrsamkeit der späten Romantik und ihren Untergang in der Detailwut des "Positivisten" Wilhelm Scherer beschreibt er so: "Deutschkunde spriesst aus frühem Staub / Und wird zuletzt ein Scherer-raub."
Die Vaterlandspoesie der antinapoleonischen Zeit war "Schillerklang und Körnerschall". Das ist gut gemacht; das könnte von Robert Gernhardt stammen. Gundolf schreibt am besten, wenn er sich statt seiner programmatischen "Ehrfurcht und Enthusiasmus" einmal Herablassung oder Verachtung leistet. Ein kleines Wunder aber, scheint mir, ist ihm gelungen, wo er versucht, sich von Jean Paul zu distanzieren, den George selbst höher bewertet hatte und den Max Kommerell für die Georgianer entdecken wird. Gundolf bekennt sich zu seinem Zwiespalt. Er tut Jean Paul unrecht, aber in großer Form: "Die buntesten Ernten abgepflückt / So deutsche Erden je geschmückt / Nur leider mit zu kurzem Stiel / Hast du, Jean Paul . . . zu voll, zu viel." Sein Gedicht endet mit den Zeilen: "Du Zauberer, dem jedes Wort / Gewaltig dient am falschen Ort, / Du tiefstes Herz mit krankem Schlag, / Sekundenuhr im Weltentag."
Dieses Gedicht allein schon lohnt die Publikation, die Ernst Osterkamp gelehrt und doch leicht gestaltet hat. Das kommt selten vor; das kann man nicht genug loben. Nur an einer einzigen Stelle hat er mich enttäuscht, nämlich dort, wo er das schöne Wort "herbstfirn" erklärt, mit dem Gundolf Goethes Alterslyrik beschreibt, also den "West-Östlichen Divan", in dem der Wein als eines der vier Elemente der Poesie gilt. Aber unser Berliner Germanistikprofessor erklärt "firn" als "alt, auch mit dem Nebensein schlau und erfahren". Das reicht nicht. So übersinnlich haben es weder Stefan George noch Gundolf verstanden, sondern als den herben Geschmackston eines edel gealterten, voll genießbaren Weins.
Ich reserviere von jetzt an eine Flasche firnen Weines für Ernst Osterkamp. Er hat ihn sich verdient, aber ich möchte mich mit ihm auch darüber unterhalten, wie Gundolf Literaturhistoriker sein kann, wenn er ihn einen "dezidierten Nicht-Historiker" nennt. Wir würden darüber plaudern, was das für eine Germanistik ist, welche die deutsche Literatur erst mit Luther beginnen läßt. Und schließlich wäre zu klären, wer Ernst Gothein war, nämlich kein "Kunsthistoriker", wie Osterkamp schreibt, sondern ein Ökonomiehistoriker, der mit einer Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes begonnen, sich dann aber zunehmend der allgemeinen Kulturgeschichte, besonders der Renaissance und der Reformation, zugewandt hat. Ansonsten würden wir den Tag friedlich genießen und dem Wort "herbstfirn" seinen vollen goethischen Geschmack zurückgeben.
Friedrich Gundolf: "Die deutsche Literärgeschicht reimweis kurz fasslich hergericht". Herausgegeben und Nachwort von Ernst Osterkamp. Manutius Verlag, Heidelberg 2002. 106 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Kurt Flasch möchte von jetzt an zwar eine Flasche Wein für Herausgeber Ernst Osterkamp reservieren, der Gundolfs Literärgeschicht seiner Ansicht nach gelehrt und doch leicht gestaltet hat. In seiner altväterlich umständlich formulierten Rezension gibt der Rezensent aber auch seine Irritation darüber kund, wie denn Gundolf Literaturhistoriker und gleichzeitig Nicht-Historiker sein könne, wie er vom Herausgeber offensichtlich vorgestellt wird. Beim vorliegenden Werk muss es sich um eine ziemlich seltsame Blüte der Gelehrsamkeit handeln. Wir lesen, dass diese Literaturgeschichte in Knittelversen verfasst worden ist. Besonders ein Gedicht, indem sich Gundolf von Jean Paul zu distanzieren versucht, lohnt Flasch zufolge die ganze Publikation. Der Rezensent umreißt die Aufgabe, die sich der Germanist und George Schüler Gundolf mit diesem Buch gestellt hat als das Herausarbeiten sprachlicher Formen, die der Literatur Kraft und Leben geben. Dies erklärt dem Rezensenten zwar den "hohepriesterlichen Gestus" Gundolfs. Gleichzeitig macht es für ihn jedoch "die heimliche Parodie noch rätselhafter", um die es sich hier auch zu handeln scheint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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